Ein Fest, wenn man will, ein lebenslanges

Friedhelm Kemp als Zeremonienmeister der Sonette

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt ansprechende Bücher. Nicht nur vom Äußeren, nein, im Wortsinne beginnen sie zu reden, werben um Verständnis, werfen Fragen auf, zeigen sich von ihrer besten Seite, und ehe man sichs versieht, entspinnt sich ein Dialog. Sie verdrehen einem den Kopf, ziehen in den Bann und auf die Tanzfläche ihrer Themen, wo sie im Schwung die Aufmerksamkeit bald hier-, bald dorthin lenken, bis ein wohliger Taumel den Leser erfasst und schlichte Leselebensfreude. Bei literarischen Meisterwerken, sagen wir, "Tristram Shandy" überrascht so etwas nicht, doch bei zwei ansehnlichen Bänden der Reihe "Münchener Komparatistische Studien" reibt man sich schon ein wenig die Augen.

"Kess" könnte man bewundernd nennen, was der vielgepriesene Übersetzer und Essayist Friedhelm Kemp in seinem zweibändigen Werk "Das europäische Sonett" unternimmt, denn es bedarf schon einer gewissen Portion Frechheit, als Einzelner die unüberschaubaren, vielfach verknüpften Traditionsstränge und gleichzeitig eine große Anthologie der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs präsentieren zu wollen. Genau wegen dieser Chuzpe fasziniert der 88-Jährige.

Er stürzt sich mit uns in ein festliches Poesiegewühle, in eine Art fröhliches Familienfest der Sonette. Er macht uns - ganz formvollendeter Gastgeber - diskret aufmerksam auf Verwandtschaftsgrade, Abstammungsverhältnisse, weist auf elegante Galane und reizvolle Mauerblümchen hin. Er winkt in eine Ecke, wo Gottfried August Bürger mit Petrarca plaudert, preist den Tanz von Gaspara Stampa mit ihrem Liebhaber, tuschelt uns zu, dass Brecht Margarete Steffin gern vierzehnzeilig kommt, unterredet sich kurz mit Shakespeare, Lope de Vega und John Donne, zieht uns weiter zu Rimbaud und Baudelaire, die mit Ronsard disputieren, richtet ein freundliches Wort an den abseits stehenden Tasso, schmeichelt Edna St. Vincent Millay wegen ihrer vielen Schön- und Freiheiten, wendet sich den ernsten Deutschen Fleming, Gryphius und Greiffenberg zu, grüßt Jiménez, Hernández, Valleijo und Otero, die auf eine Gelegenheit warten, Dante von Beatrice loszueisen. Was für ein sprachbuntes, klangverliebtes, fröhliches Fest! Im Mittelpunkt des Treibens stehen die einzelnen Sonette, ihre Klage um Vergänglichkeit, Untreue, Krankheit, ihre Glaubenszweifel, Liebesseufzer, ihre Reflexionskunst, ihre Tonschönheit und Verweiskraft, ihr Metaphernreichtum und ihr bezwingender Rhythmus.

Bei seinen Beobachtungen trumpft Kemp nie auf, vielmehr gibt er freimütig gewisse Grenzen seiner Sprachkenntnisse (portugiesische, russische, niederlänische Sonette fehlen) und der abenteuerlichen Unternehmung selbst zu (den Antipetrarkismus beispielsweise übergeht er fast völlig); der Rest ist ja auch ehrfurchtgebietend genug. Wichtiger noch, Kemp langweilt nie mit ausufernden Analysen, überfordert nicht mit Ansprüchen, ergeht sich keinesfalls in ermüdenden Reihungen. So lernen wir mit ihm eine vielköpfige Gedichtfamilie kennen samt adoptierten Kindern wie Madrigal, Dixain, Ghasel, und der Autor wird nicht müde, die Individualität jedes einzelnen herauszustreichen: "Wir müssen dem Gedicht nicht nur einen Mund, wir müssen ihm Augen einsetzen, von denen wir uns angeblickt fühlen... man setze das Gedicht vor sich auf einen Stuhl - einen Thron oder einen Schemel, gleichviel - sich gegenüber als Freund, als Bruder, als eine Geliebte, als einen Richter; setze sich ihm aus, präge es sich ein, Wort für Wort, Satz für Satz, Bild für Bild, als dürfte man es nicht vergessen, als gäbe es jetzt - und immer wieder - nur dieses eine Gedicht einem gegenüber und auch schon i n einem, als etwas Schönes, etwas Forderndes, etwas, das einen angeht, heute, morgen und immer wieder."

Mit dieser Haltung, "natürlich ein Äußerstes", führt er auf gewinnende Weise durch die Sonette. Da ist keine Stelle, an der man nicht sieht, wie Kemp zu dem jeweiligen Gedicht steht, ob er es liebt, schätzt, ob es ihn überwältigt, befremdet. Schon das unterscheidet sein einmaliges Projekt entschieden von anderen, hebt es aus bloß anthologischen Bemühungen weit heraus. Dabei könnte man mit Hilfe der Register die Bücher schlicht als wunderbare Textsammlung von etwa 500 Sonetten verwenden, brächte sich aber um den entschiedenen Genuss, an der Seite des weltgewandten Maître de Plaisir zu erfahren, warum gerade diese Gedichtform nicht aufhört, mit ihrer Spannung zwischen Strenge und Freiheit Künstler wie Leser zu inspirieren.

Als eine Feier des Sonetts versteht Kemp sein großes Werk, und so verwundert es nicht, dass er mit dem Leser bei einzelnen besonders interessanten Gästen länger verweilt, bei anderen vorüber huscht oder sie nur kurz grüßt. Petrarca, Dante, Michelangelo bekommen eigene Kapitel, auch Ronsard, Goethe, Keats, andere wie Eichendorff, Mörike, Brentano oder Elizabeth Barrett Browning, Christina Rossetti, Ricarda Huch präsentiert er in kleinen Gemeinschaften. Im Ganzen chronologisch und nach Ländern ordnen sich seine Kapitel, oft greift er aber als Meister der Konversation vor, weiter aus oder auch zurück, scheut sich nicht vor sinnreichen Wiederholungen oder sogar vor Leseempfehlungen, selbst wenn es sich um Prosa handelt. Jedes Sonett gibt er erst originalsprachlich wieder, dann folgt meist eine Prosaübersetzung, häufig eine, manchmal sogar mehrere poetische Nachbildungen. Die schätzt Kemp, von Ausnahmen wie Rilke abgesehen, nicht so sehr, am wenigsten die immer wieder gewagten Bemühungen, alle Shakespeare-Sonette oder den ganzen "Canzoniere" ins Deutsche zu übertragen; das sei eher eine Fleißaufgabe, bei der das einzelne Sonett unziemlich leide.

Kemps prosaische Verständnishilfen öffnen viel mehr Einsicht in die Eigentümlichkeiten der Gedichte: die Prosaübertragungen durchsetzt er teils mit kurzen Stellenkommentaren, so dass man noch tiefer die Qualitäten der Originalpoeme ermessen kann. Manchmal belässt Kemp es dabei, in der Regel aber gibt er noch knappe klärende Hinweise, die eine schöne Balance halten zwischen Sachinformation zu Leben und Werk des Dichters, zu poetischen Besonderheiten und zur Stellung des Autors oder des Gedichts in der Sonett-Tradition. Indem sie zeigen, wie sehr "die Dichter einander antworten", über Jahrhunderte, über Sprach- und Ländergrenzen hinweg steigern diese Passagen das Lesevergnügen immens. Kemp betont allerdings stets seine nicht-wissenschaftliche Gedichtbetrachtung. Vielmehr tritt er als kundiger, als begeisterter und begeisternder Leser auf, versucht "das Sonett-in-uns" zum Klingen zu bringen. Vielleicht erwähnt er ein paar Mal zu oft, dass er für die Vorliebe der Forschung, Einflüsse zu finden und Werke als Literatur aus Literatur zu erkennen, nicht viel übrig hat, vielleicht erwähnt er zu selten die enge Verbindung von Poesie und Musik, doch das fällt nicht ins Gewicht angesichts einer so persönlichen, so verlässlichen und so ansteckenden Art, über Sonette zu schreiben. Es ist vor allem dieses Ernstnehmen der Dichtung, ihr einen Platz im Leben einzuräumen, was erstaunt, überzeugt, mitreißt, Freude am Mitdenken, -hören, -lesen bereitet. Man versteht vollkommen sein Bekenntnis, sich mit Sonetten zu unterreden, sei "ein Fest, ein lebenslanges, wenn man will!" Allein dafür gebührte Friedhelm Kemp zum Lorbeer- ein Sonettenkranz!

Titelbild

Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. 2 Bände.
Wallstein Verlag, Göttingen 2002.
977 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-10: 3892444811

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