Identitätswellenreiten

Y. Michal Bodemann navigiert "In den Wogen der Erinnerung"

Von Jan-Holger KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Holger Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der in Toronto lehrende Soziologe Y. Michal Bodemann ist hierzulande vor allem durch sein Buch "Gedächtnistheater" bekannt geworden, in dem er 1996 "Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung" (so der Untertitel) erkundete. Nun hat er sich wieder in stürmische Gewässer begeben und einige Essays der letzten Jahre zu Fragen des 'deutsch-jüdischen' Verhältnisses als Sammelband veröffentlicht. Drei der zehn Aufsätze sowie die Einleitung sind Originalbeiträge; die anderen Texte hat der Verfasser überarbeitet und erweitert.

Bodemanns übergreifendes Interesse gilt dem "Problem ethno-kultureller Pluralität in Deutschland". Seine Ausgangsbeobachtung ist, dass Juden in Deutschland - gemessen an ihrem geringen Bevölkerungsanteil - eine hohe Aufmerksamkeit und öffentliche Würdigung erfahren. Bodemann warnt davor, dies als eindeutigen gesellschaftlichen Lernerfolg zu werten: Zum einen würden die Juden nicht wirklich als Juden respektiert, zum anderen bleibe der "jüdische Topos [...] im nationalen Narrativ ein Sonderfall", werde also nicht zum Ausgangspunkt einer generellen Anerkennung des anderen genommen. Das Judentum werde vielfach nur deshalb thematisiert, weil es sich zur indirekten Begründung deutscher Identität offenbar besonders eigne. Als Beispiel nennt Bodemann unter anderem die Eröffnung des Jüdischen Museums Berlin, die im September 2001 als Staatsakt zelebriert wurde - wobei die Berliner Jüdische Gemeinde weitgehend ausgeschlossen war.

Bodemanns Fragen nach Identität und Alterität sind primär soziologisch motiviert; seine besondere Leistung besteht jedoch darin, dies in den einzelnen Essays historisch zu fundieren. Im ersten und ausführlichsten Aufsatz untersucht der Verfasser für die frühe westdeutsche Nachkriegszeit die "Verschränkung von Schweigen und Erinnerung". Die später oft kritisierte Verleugnung des Judenmords sei durchaus komplex gewesen und erfordere eine genauere Analyse. Bodemann ermittelt "eine Vielfalt von Strategien der Mythologisierung": erstens die "Universalisierung der Verbrechen", zweitens das Verwischen der Täter-Opfer-Differenz, drittens die Verkleinerung und Leugnung des Geschehens sowie viertens "die Strategie des 'Gedächtnis-Negativs', d. h. des Schweigens über die eigentlichen Verbrechen bei gleichzeitigem Hinweis auf deren Begleiterscheinungen". Was damit im einzelnen gemeint ist, belegt Bodemann exemplarisch - so etwa durch einen kritischen Blick auf die Anfänge der bundesdeutschen Soziologie. Deutlich wird, dass in der Wissenschaft und in der Literatur ähnliche Interpretationsmuster wirksam waren, die stark christologische Züge trugen. Der ab 1979 verbreitete Begriff 'Holocaust' hat sich nach Bodemann auch deshalb so rasch durchsetzen können, weil er im westdeutschen Kontext an eine "jahrzehntelange Deutungsarbeit" anknüpfte. Zwar bezieht Bodemann mit Bruno Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" auch ein Werk aus der DDR ein, doch hätte der deutsch-deutsche Vergleich noch vertieft werden können, um die "Verdunkelung der Erinnerung" als systemübergreifendes Phänomen kenntlich zu machen.

Unter dem sprechenden Titel "Das Klappern der Holzschuhmänner" schildert Bodemann die Phase 1960-1975, die er als "Weg zur Erinnerungsexplosion" versteht. Mit der Berichterstattung über die großen NS-Prozesse und besonders mit Willy Brandts Warschauer Kniefall habe sich die "Verchristlichung des Gedenkens" fortgesetzt, die in den späten 40er Jahren begonnen habe. Die 60er und 70er Jahre sieht Bodemann als wichtige Übergangsphase: Einerseits habe "das eher komfortable Arrangement mit der Vergangenheit" nachgewirkt, andererseits sei das Gedenken an die jüdischen Opfer verstärkt "etatisiert" worden, was einen "inkubativen Effekt" für spätere Debatten gehabt habe. Diese Beobachtungen sind sehr anregend, weil sie die meist isoliert betrachteten öffentlichen Kontroversen in längerfristige Zusammenhänge rücken. Zu diskutieren bleibt aber, ob die Verstaatlichung des Moraldiskurses das westdeutsche Gedenken nicht schon früher geprägt hat - wofür etwa Theodor Heuss' Rede in Bergen-Belsen (1952) als Beleg dienen könnte.

Sicher ist jedenfalls, dass die jüdischen Opfer im offiziellen Gedenken der Bundesrepublik stärker geehrt wurden (und werden) als die übrigen Verfolgtengruppen des Nationalsozialismus. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl, der mit der Zeremonie von Bitburg (1985) eine geschichtspolitische 'Wende' versuchte, betonte wiederholt den besonderen jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur. Bodemann spricht von einem "Juden-als-Ressource-Denken", das die Juden vereinnahme, sie aber zugleich herabwürdige. Die 'Walser-Bubis-Debatte' von 1998/99 habe diese "Tradition der Nichtanerkennung des jüdischen Ethnos" fortgesetzt. Zwar sei inzwischen nicht mehr von der 'Gnade der späten Geburt' die Rede; unter der rot-grünen Bundesregierung sei vielmehr der Glaube an "die gute Tat des Erinnerns" in den Vordergrund getreten. Gemeinsam sei solchen Perspektiven freilich "die Einbettung der Schoah in ein religiöses Narrativ". Zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen nimmt Bodemann Peter Novicks Buch über die amerikanische Gedenkkultur, kehrt aber rasch zur deutschen Situation zurück. So kommt er auf das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" zu sprechen, das er als "Pseudo-Friedhof für den Totenkult" bezeichnet. Schon in der Einleitung hatte Bodemann kritisiert, dass "ein homogen jüdisches Stelenfeld [...] die mangelnde Anerkennung von Alterität in Deutschland" zum Ausdruck bringe.

Dieses Leitthema wird aus verschiedenen Perspektiven variiert. "Die nationale deutsche Narration", schreibt Bodemann an anderer Stelle, "benötigt die jüdische Trope als zentrales Element zur Deutung der eigenen nationalen Identität." Obwohl in der heutigen Bundesrepublik weitaus mehr Muslime als Juden leben, finden letztere in der Politik und in den Medien größere Beachtung. Dies ist historisch erklärbar, führt aber zu Wahrnehmungsverzerrungen: In Umfragen wird die Zahl der in Deutschland beheimateten Juden grotesk überschätzt; zugleich kennen die meisten Befragten keinen einzigen Juden persönlich. Mit Nachdruck fordert Bodemann dazu auf, das "Phantombild des imaginären Judentums" durch realitätsgerechtere, lebensweltlich gestützte Perzeptionen zu ersetzen. Dazu gehöre nicht zuletzt die Erkenntnis, dass es 'das' Judentum nicht gebe - denn das jüdische Leben in der Berliner Republik sei durch Pluralisierung und vielfach durch innere Konflikte bestimmt.

Auch wenn das Buch manches Bekannte bietet und die einzelnen Beiträge etwas ungleichgewichtig sind, stellt es eine Bereicherung der oft kurzatmigen 'deutsch-jüdischen' Identitätsdebatten dar. Bodemann verbindet sein soziologisches Interesse mit historischen Einordnungen und pointierten Urteilen. "In den Wogen der Erinnerung" bewährt er sich als geschickter und streitlustiger Wellenreiter. Damit soll nicht gemeint sein, dass Bodemann nur den Konjunkturwellen öffentlicher Erregung folge. Durch die gelungene Mischung aus persönlichem Engagement und wissenschaftlicher Distanznahme qualifiziert sich der Autor auch als Steuermann und Lotse künftiger Diskussionen.

Titelbild

Y. Michal Bodemann: In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland.
dtv Verlag, München 2002.
218 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3423308133

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