Freie Liebe, Virginität und Freitod

Die Welt als Mittel zum Zwecke des Nichtseins

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als junger Mann mit vollem Haarschopf, den Arm leicht auf eine schwere steinerne Säule gestützt, das Auge von Kamera und Betrachter abgewandt, den Blick gelassen und ruhigen Sinnes ins Leere gerichtet. So ließ Philipp Mainländer sich vor grauem Hintergrund ablichten. Anders als von Schopenhauer, seinem Lehrer, der intellektuellen Elite ebenso wie Halbgebildeten als Kahlkopf mit grauem Haarkranz präsent, gibt es von Mainländer keine Altersbilder, da er bereits mit 35 Jahren aus dem Leben schied. Freiwillig, an dem Tag des Jahres 1876, an dem das druckfrische Exemplar seines Hauptwerkes, die "Philosophie der Erlösung", in seine Hände gelangte. "Der Weise aber blickt fest und freudig dem absoluten Nichts in's Auge", heißt es dort. Man hat sofort obiges Bild vor Augen, für das sich Mainländer offenbar in Pose gesetzt hatte, um der Nachwelt als Sinnbild des Weisen erhalten zu bleiben.

Die Nachwelt aber hat sich bislang herzlich wenig um den Propheten des "Willens zum Tode" gekümmert. Über ein gutes Jahrhundert hinweg waren seine Schriften vergriffen, und der Philosoph selbst wäre sicher ebenso lange vergessen, wäre er denn je bekannt gewesen. Doch nun ist es wieder möglich, sich mit dem Œuvre des nihilistischen Soteriologen und Teleologen des Weltuntergangs auseinanderzusetzen. Denn Anfang des Jahres wurde die 1996 begonnene Edition seiner Schriften mit dem als Band IV erschienenen literarischen Nachlaß abgeschlossen. Die ersten beiden Bände umfassen das große, systematisch angelegte Werk "Die Philosophie der Erlösung" sowie die erst im Jahre 1886 posthum herausgegebenen Essays. Der dritter Band enthält das dramatische Gedicht "Die letzten Hohenstaufen". Umfangreich, aber von eher geringer Bedeutung.

Literarisch vielseitig begabt, verstand sich der Autodidakt Mainländer in erster Linie als Philosoph. So ranken sich seine anderen Schriften folgerichtig um seine von der intensiven Lektüre Schopenhauers geprägten "Philosophie der Erlösung". In ihr entwickelt er die Willensmetaphysik des Meisters neuplatonisch weiter. Plotins AllEine ist ihm die vorweltliche Einheit Gottes, der, am Dasein leidend, sich selbst erlösen wollte und dazu die Welt des principium individuationis erschaffen mußte, indem er zu ihr zerfiel. Der Prophet der Erlösung wird nicht müde, in immer neuen Variationen zu wiederholen, daß "die Welt das Mittel zum Zwecke des Nichtseins" sei und zwar das "einzig mögliche". Diesen Zweck nun erreiche sie durch "Schwächung" ihrer "Kraftsumme". Denn die "absolute Vernichtung" sei es, "wonach sich alles in der Natur" sehne. Hatte Schopenhauer das Wesen der Welt, das "Ding an sich" als "Wille" dingfest gemacht, als "Wille zum Leben" genauer gesagt, so behauptet Mainländer Welt und Mensch seien "im tiefsten Grunde Wille zum Tode". Damit stellt er, wie Marx Hegel, Schopenhauer vom Kopf auf die Füße. Wille zum Leben könnten Welt und Mensch schon alleine deshalb nicht sein, weil ein Wille immer auf etwas ziele, das nicht ist. Das Leben ist aber nun einmal. Allerdings äußere sich der "Wille zum Tode" paradoxerweise als sich stets widerstreitender "Wille zum Leben". Nur so sei es ihm möglich, sich bis zur Auflösung zu schwächen und endlich sich selbst und den ursprünglichen Schöpfergott vom Dasein zu erlösen. Das ist in kargen Worten der Kerngedanke der "Philosophie der Erlösung". Man mag ihn plausibel finden oder nicht. Originell ist er in jedem Fall.

Der Weg zur Erlösung im Nichts führt neben der naturgeschichtlichen Entropie des Weltalls historisch notwendigerweise über den "idealen Staat" der kommunistischen Gesellschaft und über die freie Liebe. Denn um "reif für die Erlösung" zu werden, müssen die Menschen erst "satt" sein "von allen Genüssen, welche die Welt bieten kann".

Mehr als seltsam mutet Mainländers Plädoyer für die "freie Liebe" angesichts des Umstandes an, daß er im "Gebot der Virginität" die einzige Möglichkeit zur individuellen Erlösung sieht, wenn man denn die ubiquitäre Entropie nicht abwarten mag. Der schönste Tod allein helfe gar nichts, wenn man nicht enthaltsam gelebt habe. Andernfalls lebe man in seinen Kindern fort: "Nicht der Kampf des Lebens mit dem Tod auf dem Sterbebette, in dem der Tod siegt, sondern der Kampf des Todes mit dem Leben bei der Begattung, in dem das Leben siegt" entscheide über Sein und Nichtsein. "Im Taumel der Wollust wird die Erlösung verscherzt." Wenn der keusche Sexualtheoretiker Mainländer sich für das ausspricht, was er unter "freier Liebe" versteht, so denkt er nicht an seinesgleichen, die nach Erlösung strebenden Weisen, sondern an Menschen, die hoffnungslos "in den Klauen des Geschlechtstriebes" gefangen seien. Die nähere Darstellung und Begründung der "freien Liebe" gerät dem "Virginitätsapostel" (Nietzsche) lächerlich abstrus, und auf unerträgliche Weise misogyn. Die Ehe nämlich, führt er aus, verschaffe der Frau gegenüber dem Mann ungerechterweise einen Vorteil. Denn in der Ehe seien beide Partner gleichgestellt, was naturgemäß nicht der Fall sei. Deshalb würden kluge Männer eben nicht heiraten. Das habe nun aber zur Folge, daß viele Frauen entweder - aus sozialer Not, oder aufgrund ihres "tierischen Geschlechtstriebs" - als Prostituierte enden oder aber als "alte Jungfern vertrocknen" würden. Gerade aus dem Munde dessen, der die Virginität so zu preisen weiß wie kein anderer, nimmt sich dieser pejorative Topos seltsam aus. Da helfe, so Mainländer weiter, nur die "freie Liebe", die Polygamie. Unter ihr versteht er aber nichts anderes als "Vielweiberei". Mit ihr seien Frauen gleichermaßen vor materieller Not und "alter Jungfernschaft" geschützt, und außerdem könne man vom Mann ja schlecht verlangen, daß er "während der Menstruation, der vorgeschrittenen Schwangerschaft und dem Schwächezustand des Weibes nach der Entbindung" enthaltsam sei. Auch stehe es ihm selbstverständlich zu, sich eine zweite Frau zu nehmen, wenn seine erste "allmählich zu alt für ihn geworden" sei. Diese drängenden Sorge um die stete Verfügbarkeit eines weiblichen Objektes zur geschlechtlichen Befriedigung des Mannes läßt natürlich keinen Raum für Überlegungen hinsichtlich des sexuellen Begehrens der Frau. Die Möglichkeit, daß Frauen mehrere Männer haben möchten oder gar keinen oder eine andere Frau, liegt jenseits des theoretischen Horizontes des Sexualphilosophen.

Doch ungeachtet der Absurdität seiner abgestandenen Frauenfeindlichkeit gehört Mainländer zu den wenigen, die es auf sich genommen haben, eine systematische Metaphysik des Nihilismus zu entwerfen. Das macht ihn auch heute noch lesenswert. Die praktische Konsequenz, die er aus seiner Philosophie gezogen hat, spielt dafür allerdings keine Rolle. Denn konsequentes Handeln ist noch lange kein Qualitätssiegel für das Denken, aus dem es entspringt.

Haben die Philosophen Mainländer bislang kaum Beachtung geschenkt, so ist es um die germanistische Rezeption zumindest ebenso schlecht bestellt. Sie hat "niemals stattgefunden", wie die Herausgeber des vierten Bandes beklagen, der die literarischen Schriften enthält: Gedichte, Dramen, Novellen und Autobiographisches. Allerdings überschätzen sie die literarische Schaffenskraft und Originalität Mainländers, wenn sie etwa Parallelen von seiner Novelle "Rupertine del Fino" zu Goethes "Wahlverwandtschaften" und dem Werk Thomas Manns ziehen.

Innerhalb weniger Tage hatte Mainländer ein Vierteljahr vor seinem Suizid die Novelle aufs Papier geworfen, da seine Schwester ihn mit der Behauptung provoziert hatte, er sei außerstande ein literarisches Werk zu verfassen. Die lebensfrohe Rupertine steht zwischen Otto, einem zunächst eher blaß charakterisierten hedonistischen Künstler, und Wolfgang, der Stilisierung des idealen Schopenhauerianers: "ein großer Charakter mit grenzenloser Herzensgüte", ein Weltverneiner und Menschenfreund; kurz: makellos. Beiden Männern sind also scheinbar eindeutig negative und positive Rollen zugeordnet. Liest man allerdings den Subtext, verschwimmt diese Klarheit. Denn es ist Otto, der später "die Art des 'langsamen Selbstmords' [...] erwählte" und schließlich an Schwindsucht stirbt, während Wolfgang, zunehmend kälter wirkend, da nur aus Pflichtbewußtsein und im Grunde emotionslos handelnd, den Versuchungen des Todes nicht erliegt und - aus Pflicht eben - am Leben bleibt, um Rupertine, die an Ottos Tod stirbt, das Ende zu erleichtern. Auch in diesem Text also ist - wie stets - die "Philosophie der Erlösung" Mainländers Thema.

Seltsam wie Mainländers Lehre nehmen sich auch die Stationen seines Lebens aus: Bankangestellter, Fabrikbesitzer und als 34-jähiger schließlich Freiwilliger bei den Halberstädter Kürassieren. Hiervon berichtet er in dem autobiographischen Text "Aus meinem Leben - Meine Soldatengeschichte". Er gewinnt einen nicht geringen Teil seiner Relevanz daraus, daß er Mainländers psychische Struktur erhellt. So etwa, wenn Mainländer seinen lebenslangen Wunsch, zum Militär zu gehen, begründet, der schon im 14-jährigen aufflammte: "Ich habe ein außerordentliches Verlangen, einmal unbedingt einem anderen unterworfen zu sein, die niedrigste Arbeit zu tun, blind gehorchen zu müssen." Mainländer offeriert eine vage These für das Zustandekommen dieses masochistischen Wunsches: "Ich glaube, daß damals das Verlangen mit dem erwachenden Geschlechtstrieb in Verbindung stand."

Mainländers "Soldatenleben" informiert jedoch nicht nur über die psychische Struktur und Deformierung des Autors, sondern, ebenso wichtig, über seine Arbeitsweise am ersten Band der "Philosophie der Erlösung" im Jahre 1874.

Da die Publikation des literarischen Nachlasses ihre Rechtfertigung nicht nur in der erstrebten Vollständigkeit der Ausgabe seiner Schriften findet, sondern gerade auch darin, daß diese Schriften den Hintergrund seines Hauptwerkes ausleuchten, ist es um so unverständlicher, daß der erste Teil der Autobiographie nicht aufgenommen wurde. Sie ist für Mainländers Psyche, insbesondere sein Verhältnis zur Mutter, der er am Grabe ewige Enthaltsamkeit gelobte, ebenso wie für seinen philosophischen Werdegang noch wesentlich aufschlußreicher. Begründet wird diese Unterlassung von den Herausgebern nicht. Mag sein, daß die Schrift verlorengegangen ist. Aber dann hätte man zumindest auf die gekürzten und zusammenfassenden "Mitteilungen aus der handschriftlichen Selbstbiographie des Philosophen" zurückgreifen sollen, die Fritz Sommerlad 1898 publizierte.

Kein Bild

Philipp Mainländer: Schriften. 4 Bände. Müller-Seyfarth, Winfried H. (Hg.).
Georg Olms Verlag, Hildesheim 1999.
2078 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3487095556

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