Höhenflug und Absturz

Burkhard Spinnens rasante Unternehmensgeschichte "Der schwarze Grat" - ein Roman

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie sollten einmal meine Geschichte schreiben!" Der mittelständische Unternehmer, der den Schriftsteller Burkhard Spinnen auf einer Hochzeitsgesellschaft anspricht, meint das ganz ernst. Er glaubt, eine Lebensgeschichte hingelegt zu haben, für die sich auch ein Autor von Belletristik interessieren könnte. Er lädt Spinnen ins schwäbische Laupheim ein und konfrontiert ihn mit einer neuen Welt: Der Welt einer metallverarbeitenden Firma, die es fast nicht mehr gäbe, weil ihr Inhaber, ein Hasardeur sondergleichen, sie immer wieder bis an den Rand des Ruins geführt hat. Die Biographie des Unternehmers ist zugleich die seines Unternehmens, geprägt von fast unbegreiflichem Leichtsinn, aber auch von Mut, Entschlossenheit, einer tüchtigen Portion Chuzpe und nicht zuletzt: von Glück im Unglück.

"Kommen Sie doch einmal zu mir", lockt er, "Ich fange an, Ihnen meine Geschichte zu erzählen. Und dann können Sie immer noch entscheiden, ob Sie sie schreiben wollen." Burkhard Spinnen stimmt nach einigem Zögern zu, und in den sechs Jahren der Recherchen vor Ort und in Archiven stellt er sich oft die Frage, ob er die Sache weiter verfolgen soll. Sein Pakt mit Lindenmaier lässt beiden ein Schlupfloch: Am Ende haben sie beide ein Vetorecht und können das Buch quasi in letzter Instanz verhindern. Nicht viel hätte gefehlt, und "Der schwarze Grat" wäre ein ganz und gar privates Manuskript geblieben.

Es ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur, dass beide der Publikation schließlich zugestimmt haben. Denn die Wechselfälle, die hier an einem konkreten Beispiel erzählt werden, sind gewiss nicht typisch für die Wirtschaftswunderwelt der Nachkriegszeit, jedenfalls nicht in dieser Konzentration. Sie sind aber auch nicht untypisch, schaut man sich die Chronik der Insolvenzen an, die selbst stolze Konzerne wie Babcock-Borsig, Grundig oder Holzmann erreicht hat. Und die konzentrierte, gut aufbereitete Darstellung macht das Buch eben zu einem spannenden und lehrreichen Ereignis.

Und Walter Lindenmaier, der Mann, der Burkhard Spinnen seine Geschichte erzählt und sein Unternehmen bis heute führt, obwohl es mit seiner Geschäftsfähigkeit nicht immer zum Besten gestellt war, hat daran großen Anteil. Freimütig erzählt er, wie er die Firma von seinem Großvater übernahm (der Vater starb bereits im März 1945 an seinen schweren Kriegsverletzungen), wie der Firma, der "Lindenmaier Präzision", durch einen windigen Geschäftsführer die Zahlungsunfähigkeit drohte und Lindenmaier bei Gerhard Mayer-Vorfelder, damals Staatssekretär in der Stuttgarter Landesregierung, um Hilfe nachsuchte, wie er an einen windigen Gesellschafter, den "Wirtschaftsticker" geriet, dessen einziges Ziel es war, die Aktien des börsennotierten Unternehmens hochzuschwindeln und es dann auszuverkaufen, wie die Firma eine Chlorgasexplosion überstand und Lindenmaier beinahe mit dem Flugzeug abgestürzt wäre: Über dem Schwarzen Grat hatte sich die Turbopropmaschine an Baumwipfeln den Bauch aufgerissen, und buchstäblich mit dem letzten Tropfen Benzin war es gelungen, auf dem Militärflughafen Memmingen notzulanden. Lindenmaiers Bericht, eine Saga der ungeheuren Katastrophen und der unwahrscheinlichsten Glücksfälle, von Burkhard Spinnen mit Geschick und Anteilnahme aufgeschrieben, wird schließlich in das Bild des Schwarzen Grates gefaßt, bei dem Höhenflug und Absturz so dicht beieinander liegen.

Aber ist es auch Literatur? In Amerika ist es gang und gäbe, daß Prominente, die ihre Autobiographie veröffentlichen wollen, aber keine Zeit finden oder nicht schreiben können, dafür einen Co-Autor verdingen. Bisweilen tritt auch ein Freund oder ein Mitglied der Familie als helfende Hand auf, wie bei Karl Maldens Autobiographie "When Do I Start? A Memoir. With Carla Malden". Das Ergebnis dieser "with"-Bücher ist meist recht passabel und nicht selten ein großer Verkaufserfolg: Im vergangenen Jahr beispielsweise hat "Leadership", die Autobiographie des vormaligen New Yorker Bürgermeisters Rudolph W. Giuliani ("with Ken Kurson"), tüchtig abgeräumt, und so hat auch dieses Modell der Autorschaft bei uns seine Nachahmer gefunden. Die hinreißende Autobiographie des Investitionsbetrügers Jürgen Schneider ("Bekenntnisse eines Baulöwen") wurde in Co-Autorschaft mit Ulf Mailänder verfasst.

Gleichwohl bleibt die Frage, wie man diese Bücher taxieren soll: Niemand wird Schneiders Autobiographie als Literatur gelesen haben, auch wenn sie bedeutend besser geschrieben ist als manches, was unsere Autoren so zu bieten haben. Und auch bei den "with"-Büchern amerikanischer Provenienz stellt niemand die Frage nach ihrem literarischen Wert. Sie werden als Sachbücher geführt, obwohl sie sich eines dankbaren Publikums erfreuen, das in erster Linie gut unterhalten werden will.

Im Falle Burkhard Spinnens gibt es jedoch eine Besonderheit, denn der Autor erzählt hier zugleich auch seine eigene Geschichte. "Der schwarze Grat" liest sich daher wie eine Lebensabschnittsautobiographie, wie ein persönliches Abenteuer eines Schriftstellers, der sich ein neues, unerforschtes Schreibgebiet erschließt. Das Buch, in sechsjähriger Arbeitszeit entstanden, begleitet Spinnens Existenz als freier Schriftsteller: In dieser Zeit veröffentlicht er drei weitere Bücher, den Essay "Modelleisenbahn" (1998), den Roman "Belgische Riesen" (2000) und die Essaysammlung "Bewegliche Feiertage" (ebenfalls 2000). Drei Jahre lang ist er außerdem am Literaturinstitut Leipzig tätig, er hat auf Frau und Kinder Rücksicht zu nehmen, und so trifft er seine Entscheidungen niemals allein, selbst der Leser wird einbezogen. Sein Buch ist daher Porträt und Selbstporträt, Roman und Entstehungsgeschichte eines Romans. Spinnen begreift Lindenmaiers Begeisterung für die eigene Biographie - und lässt sich von ihr ergreifen. Er spürt das Bedürfnis, sich selber zum Stoff zu machen - und gibt ihm nach. Auf diese Weise transformiert sich das Buch: Aus der Biographie wird die Autobiographie, aus der Suche nach den Wurzeln Walter Lindenmaiers wird die eigene Identitätserkundung.

Als Spinnen die erste Fassung seines Buches abgeschlossen hat, ein Entwurf mit zahllosen sachlichen Fehlern noch, stirbt sein Vater, auch er übrigens Metaller. Und plötzlich wird sein Buch zu einem Vaterbuch, das mühelos an die Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre anschließen könnte, die Zeit, in der Ruth Rehmann ihr Buch "Der Mann auf der Kanzel" (1979), Christoph Meckel sein "Suchbild" (1980) und Peter Schneider seinen Erzählungsband "Vati" (1987) veröffentlichten. In der oben geschilderten Autobiographik wäre es undenkbar, dass plötzlich auch die Ghostwriter und Co-Autoren ihre Väter- und Söhne-Geschichten einbrächten, und schon aus diesem einen Grund macht Burkhard Spinnen hier etwas Neues, das nur noch wenig mit den bekannten Vorbildern, einschließlich der "Faction"-Literatur, zu tun hat.

Titelbild

Burkhard Spinnen: Der schwarze Grat. Die Geschichte des Unternehmers Walter Lindenmaier aus Laupheim.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
305 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3895610372

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