Aussichtsvoll, absichtsvoll, einsichtsvoll

Ein Hörbuch dokumentiert 25 Jahre Bielefelder Colloquium Neue Poesie

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mein Name ist Heimrad Bäcker. Ich lese einige Abschnitte aus meinem Buch "Nachschrift" und lasse dahingestellt, wieweit es Literatur ist." Das Bielefelder Colloquium Neue Poesie bestand 25 Jahre und war eine Institution. Jährlich traf sich die literarische Avantgarde in der Universitätsstadt am Teutoburger Wald. Man wurde eingeladen oder nicht, man gehörte einfach dazu, selbstverständlich dazu, unverzichtbar dazu, ähnlich wie bei der Gruppe 47, die sich auch nie als Gruppe formell konstituierte, nur dass es hier, in Bielefeld, vielleicht noch informeller zuging, und dass - neben den internen Sitzungen im jeweiligen Tagungszentrum - eine große öffentliche Lesung im Stadttheater unverzichtbarer Programmpunkt war. Vor Hunderten von 'Bürgern' legte sich dann die Wortkunst ins Zeug: Vertreter der Konkreten Poesie, Verfasser von Lautmusik, Lautpoesie und Sehtexten, Lebens-, Universal-, Gesamtkünstler, Vortragsartisten sondergleichen. Die Vielfalt und Kurzweil dieser drei- bis vierstündigen Abende gehörte zu den wichtigsten kulturellen Ereignissen der Stadt und strahlte weit über die Region hinaus.

Die Qualität, die hier geboten wurde, liegt sicherlich auch an der internationalen Zusammensetzung des Colloquiums: Traditionell stark vertreten waren die Österreicher (Friedrich Achleitner, Heimrad Bäcker, Heinz Gappmayer, Eugen Gomringer, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Reinhard Prießnitz, Gerhard Rühm, Liesl Ujvary, Peter Weibel, Oswald Wiener, von den Jüngeren Franz Josef Czernin, Elfriede Czurda, Gunter Falk, Franzobel, Anselm Glück, Bodo Hell, Ferdinand Schmatz und Herbert Josef Wimmer). Aus Frankreich kamen Henri Chopin und Ilse und Pierre Garnier sowie Bernard Heidsieck, aus der Schweiz Urs Allemann und Martin Schweizer, aus Holland Jaap Blonk und Inger Christensen, aus England Jeremy Adler, aus Amerika Robert Lax und Harry Mathews, aus Siebenbürgen Oskar Pastior, aus Russland Valeri Scherstjanoi, aus der DDR Sascha Anderson, Carlfriedrich Claus und Jan Faktor, aus Deutschland schließlich Josef Bauer, Chris Bezzel, Gundi Feyrer, Werner Fritsch, Hartmut Geerken, Jochen Gerz, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Georg Jappe, Ferdinand Kriwet, Franz Mon, Eckhard Rhode, Konrad Balder Schäuffelen, Siegfried J. Schmidt, Schuldt, Ralf Thenior, Katja Tiel, Timm Ulrichs und Paul Wühr.

Viel Serielles bestimmt auch das Programm der CD, die jetzt einen Querschnitt aus 25 Jahren Bielefelder Colloquium Neue Poesie dokumentiert. Es ist eine kleine Sensation, ein produktiver Rausch, ein Hörerlebnis, dass einem die Worte fehlen. Der Holländer Jaap Blonk beispielsweise, Jahrgang 1953, gibt hier eine "Phonetische Etüde" zum Besten, ein Stück für Stimme ("a piece for voice"), das als Vortragskunst Maßstäbe setzt.

Die Neue Poesie der Bielefelder 'Schule' ist überwiegend eine Kunstform im Grenzbezirk von (akustischer) Sprachkunst und (visueller) Tonkunst, von Lautmusik und Lautpoesie. Es geht ihr darum, die Artikulationsmöglichkeiten von Kunst und Poesie (und auch Musik) zu erweitern und Texte, Notationen, Partituren bis an die Grenzen von Sinn und Konvention zu führen. Die Darbietungen mögen als Sprechgedichte, Palindrome, Speechsongs, Schreiinstallationen, Bodymusic klassifiziert sein - das hier gebotene Spektrum lässt sich begrifflich kaum auf einen Nenner bringen: Es reicht von semantisch und formal vergleichsweise konventionellen Prosatexten eines Werner Fritsch (Jahrgang 1960) bis hin zu syntaktisch diffizilen Poemen eines Paul Wühr (Jahrgang 1927), von Wortbildern eines Heinz Gappmayer (Jahrgang 1925, auf der CD nicht vertreten) bis hin zu 'stereoglotten' Collagen und 'Wörterbüchern' eines Oskar Pastior (Jahrgang 1927).

Jeremy Adler aus London, Poet und Literaturwissenschaftler, tritt einen Gang durch die deutsche Literaturgeschichte an: Er zerlegt, beginnend mit Wolfram von Eschenbach, Dichternamen in ihre Bestandteile und setzt sie immer neu zusammen: "Hofmann sthal von Hugo", heißt es dann beispielsweise, und im Saal kommt Freude auf. Adlers Reigen endet mit Helmut Heißenbüttel - eine Referenz an einen bedeutenden Topographen der Literatur. Georg Jappe befasst sich mit der Mathematisierung der Worte und der Systematisierbarkeit des Lautmaterials, indem er jeden Vokal potenziert (sprich verdoppelt): Seine Präsentation beherrscht er natürlich aus dem "effeff", und der "Aha"-Effekt ist auch nicht gering.

Zweifellos: Man lernt etwas dabei. Und durch die beiden Veranstalter, die das Treffen des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie im turnusmäßigen Wechsel organisiert haben, Jörg Drews und Klaus Ramm, war diese Wortkunst immer auch universitär angebunden und wurde an Generationen von Studierenden weitergegeben. Und ist es Kunst, wie Heimrad Bäcker eingangs nahe legte, ist es Literatur im emphatischen Sinne? Zweifellos ja, davon kann sich jeder überzeugen, der in den Genuss dieser eindrucksvollen, zweieinhalbstündigen Darbietungkunst gelangt.

Kein Bild

aussicht, absicht, einsicht. 25 Jahre Bielefelder Colloquium Neue Poesie. 2 CDs.
Herausgegeben von Ulrich Schmidt und Michael Vogt.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2002.
152 Minuten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3895283673

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