Marcel Atze beschreibt "Unser(en) Hitler" in der deutschsprachigen Literatur nach 1945

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Wie erscheint Hitler in der deutschsprachigen Literatur nach 1945? Anhand eines umfangreichen Textkorpus zeigt Marcel Atze: Die Autoren reagieren auf den Hitler-Mythos, wie ihn die NS-Propaganda ins Werk gesetzt hat. Anders als vor 1945 werden dessen einzelne Elemente - etwa der Tierfreund, der Vegetarier oder der Redner - dazu benutzt, das mythische Konstrukt mit Hilfe von unterschiedlichen literarischen Strategien zu zerstören. Dabei wird jeder Teil des Mythos zu den Leichenbergen des Holocaust in Beziehung gesetzt. Es erweist sich, dass das Bild des Mythosträgers Hitler im kollektiven Gedächtnis weiterhin präsent ist und sich prägend auf die literarische Darstellung auswirkt: Nach wie vor ist das Schreiben über Hitler ein bedeutender Teil der deutschen Erinnerung an den Holocaust.

Die Formel "Unser Hitler" geht auf einen Satz von Joseph Goebbels zurück, mit dem alljährlich des 'Führergeburtstages' gedacht wurde: "Möge er uns bleiben, was er uns immer war und ist: Unser Hitler!" Diese gleichsam liturgische Formel steht zeichenhaft für die beispiellose Mythisierung Hitlers in Deutschland vor und nach 1945. Zwar sind die historischen Figuren verschwunden, doch ihr Mythos ist geblieben: In der Ausrichtung der Politik der Nachkriegszeit ist er ebenso spürbar und nachweisbar wie in den gesellschaftlichen Debatten der 60er und 70er Jahre; weit strahlt er über den historischen Raum hinaus und bestimmt den literarischen Diskurs ebenso wie Kunst, Musik und Film.

Marcel Atzes Studie beginnt mit einer Darstellung der Mythenanalyse von Claude Lévi-Strauss und rekonstruiert den Mythos-Begriff bei Ernst Cassirer (Begriff des "mythischen Raumes"), Hans Blumenberg ("Arbeit am Mythos") und Karlheinz Stierle (Mythos als "bricolage"). Zu den Hauptbezugsautoren der vorliegenden Studie zählen Josef Einwanger ("Daumenkino"), Robert Schneider ("Traum und Trauer des jungen H."), Bruno Brehm ("Der Trommler"), Dieter Forte ("Das Labyrinth der Träume"), Herbert Rosendorfer ("Die Nacht der Amazonen"), Helmut Heißenbüttel ("Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte"), Otto Basil ("Wenn der Führer wüßte"), Josef Haslinger ("Opernball"), Urs Widmer ("Im Kongo"), Günter Grass ("Hundejahre"), Peter Roos ("Hitler lieben"), Marcel Beyer ("Flughunde"), Klaus Stiller ("H. Protokoll"), Günter Seure ("Hitlers Laufjunge") und viele weitere. Auch Film- und Drehbuchtexte, namentlich die Arbeiten von Hans-Jürgen Syberberg ("Hitler, ein Fall aus Deutschland"), Romuald Karmakar ("Eine Freundschaft in Deutschland"), Alexandr Sokurov ("Moloch"), kommen in den Blick: "Über Hitler schreiben heißt, an den Holocaust erinnern. Aus den Köpfen der Mitwelt [...] sollte Hitler allein schon deshalb nicht verschwinden."

L. H.

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Titelbild

Marcel Atze: "Unser Hitler". Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
492 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 389244644X

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