Die Moral der Psychosomatik in ihrer Geschichte

Hinweise nach der Besichtigung des Reprints von Georg Groddecks legendärer Zeitschrift "Die Arche"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den Gründervätern der Psychosomatik gehören Johann Christian Heinroth und Georg Groddeck. Zwischen ihnen liegen rund 100 Jahre Medizingeschichte - und Nietzsche. Beide waren mit ihren Lehren massiv in die kulturellen Auseinandersetzungen um die Moral ihrer Zeit involviert, doch mit völlig konträren Positionen. Hoch problematisch ist die Allianz von Medizin und Moral in beiden Fällen. Die Psychosomatik hat noch heute an der Problemlast ihrer Vorgeschichte, wie sie Heinroth und Groddeck repräsentieren, zu tragen.

Ein Rückblick auf die Psychiatriegeschichte mag dazu dienen, diese Problemlage ein wenig zu erhellen. Um 1830 etwa beginnt in ihr die Periode der "Somatiker". Gegen die idealistische und naturphilosophische Psychopathologie gerichtet, verfochten sie die These, daß psychische Krankheiten nur Begleitsymptome oder Folgeerscheinungen körperlicher Defekte seien. Diese aus heutiger Sicht gewiss fragwürdige Position hatte damals einen befreienden Effekt. Die Somatiker lehnten nämlich die bei den "Psychikern" üblichen Nachforschungen über Schuld und Unschuld der Kranken ab und versuchten sie von der moralischen Selbstverantwortlichkeit für ihr Leiden zu entlasten. Maßgeblich von den Somatikern gingen die Versuche aus, in der Praxis der Irrenbehandlung die mechanischen, im Namen der Vernunft, Ordnung und Sittlichkeit durchgeführten Zwangstherapien zu mildern, die Anstalten zu reformieren und in der Rechtsprechung die Unzurechnungsfähigkeit kranker Täter geltend zu machen. Politisch standen die Somatiker in der Mehrzahl auf der Seite der Liberalen, einige hatten unter staatlichen Verfolgungen zu leiden.

J.B. Friedreich zum Beispiel verlor 1832 seine medizinische Professur in Würzburg, da man aufrührerische Umtriebe von Studenten seinem Einfluss anlastete. Als streng naturwissenschaftlich orientierter Mediziner, der den "Sitz der psychischen Krankheiten" ausschließlich im Körper sah, wandte er sich 1836 mit Nachdruck gegen die Vorstellung, "dass Verläugnung der Vernunft und Moral, Leidenschaften und die Sünde die Quelle der psychischen Krankheiten seyen; [...] und jeder Wahnsinn ein selbst verschuldeter Zustand, jeder Wahnsinnige ein Kind des Teufels sey." Schon neun Jahre später, 1845, konstatierte Wilhelm Griesinger, der in den dreißiger Jahren wegen seines republikanischen Engagements von der Tübinger Universität verwiesen worden war und 1848 zur entschiedenen Linken gehörte, in seinem für die Psychiatrie Jahrzehnte lange Zeit grundlegenden Lehrbuch über "Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten": "Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geisteskrankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig."

Die Durchsetzung somatischer und antimoralistischer Positionen in der Psychiatriegeschichte des 19. Jahrhunderts hatte freilich ihren Preis. Sie war vielfach erkauft mit dem Verlust jener Perspektive, die im 20 Jahrhundert den Gegnern der Schulpsychiatrie (und Medizin generell) treffende Argumente lieferte. Denn während der moralistische Blick auf den Kranken tendenziell noch den 'ganzen' Menschen erfasste - seinen Geist, seinen Körper und seine gesamte Lebensgeschichte -, verlor die strikt naturwissenschaftlich orientierte Medizin mit der Ablehnung moralischer Erklärungs- und Beschreibungsansätze auch die psycho- und soziogenetischen Krankheitsbedingungen aus den Augen.

Einer der Lieblingsgegner der Somatiker war Christian Heinroth, der bedeutendste Repräsentant der Psychiatrie in den zehner und zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. So deutlich wie an keinem anderen Vorläufer der Psychosomatik lässt sich an ihm das vielfach prekäre Doppelgesicht einer Medizin zeigen, die mit dem Anspruch auftritt, auf den kranken Menschen in allen seinen Dimensionen einzugehen. Für Heinroth kann uns noch heute sein Versuch einnehmen, jedes Krankheitsgeschehen in seinen psychischen wie somatischen und lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhängen zu verstehen. "Wir sind nicht aufmerksam genug auf den ganzen Lebensgang seelengestörter Individuen", schrieb er, "wir würden sonst finden, daß Melancholie, Wahnsinn, Manie usw. stets Resultat des Gesammtlebens sind". Doch eben dieser Arzt ist zugleich ein Beispiel dafür, dass dieser ganzheitliche Blick anfällig dafür ist, Medizin zum Instrument der Durchsetzung bestimmter moralischer Vorstellungen zu machen. Heinroth hatte mit geradezu missionarischem Eifer die moralistische Deutung psychischer Krankheiten auf die Spitze getrieben. Jede "Seelenstörung" beschrieb er als Abfall von Gott und der "heiligen Vernunft", als das Böse und Teuflische schlechthin.

Einen ähnlichen missionarischen Eifer, wenn auch mit zum Teil völlig entgegengesetzten Tendenzen, zeigte ein Jahrhundert später Georg Groddeck. Seine Verdienste als Pionier einer psychoanalytisch geschulten Psychosomatik sind kaum zu bestreiten. Eine Freiburger Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin ist denn auch heute nach ihm benannt. Schon in seiner medizinischen Dissertation von 1889 begriff Groddeck viele Krankheiten als "Produkt der Lebensweise des Menschen", die sich nicht durch isolierte Eingriffe therapieren lassen, und distanzierte sich damit von der dominant naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin seiner Zeit.

In der Tradition der Diätetik und unter dem Einfluss des umstrittenen Heilkünstlers Ernst Schweniger stand Groddecks Behandlungspraxis in einem von ihm 1900 in Baden-Baden gegründeten Sanatorium. Er galt als begnadeter Masseur. Seit den 1910er Jahren ergänzte er die Massagen des Körpers durch Lockerungen von Seelenverkrampfungen - mit Hilfe der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Der wiederum verdankte seinen Begriff des "Es" seinerseits dem populärsten Buch Groddecks: dem 1923 erschienenen "Buch vom Es". Was Groddeck mit "Es" bezeichnete, deckt sich weitgehend mit dem, was der von ihm verehrte Nietzsche das "Leben" nannte, im Namen des Gottes Dionysos gleichsam anbetete und, gegen die abendländisch-christliche Moral gewendet, zu einer allmächtigen Instanz jenseits von Gut und Böse verklärte.

Alles was diese vitale Macht des "Es" blockiert, macht krank. Auch die physischen Symptome von Krankheiten sind als Symbole zu verstehen, mit denen sich die von der öffentlichen Moral gefesselte und verdrängte Macht des Lebens Ausdruck verschafft. Die Therapie ist ein Kampf gegen Verdrängung und Unterdrückung des Vitalen und damit gegen jenes kulturelle System, das definiert, was gut und was böse ist: die Moral.

"Wie kaum ein zweiter war er restlos amoralisch in seinen Anschauungen", bemerkte der Schriftsteller Hermann Graf Keyserling in seinem Nachruf auf den Freund. Der Moralismus der ganzheitlichen Medizin um 1800 ist hier in sein Gegenteil verkehrt. Nicht das von der geltenden Moral Abweichende, nicht die Unfähigkeit, die eigenen Leidenschaften zu kontrollieren, macht und ist krank, sondern die herrschende, lebensfeindliche Moral selbst wird zum pathologischen und pathogenen Faktor erklärt. Die moralkritischen Impulse dieser medizinischen Position haben nichts mit dem Antimoralismus der Somatiker im 19. Jahrhundert gemeinsam, sondern stehen im Zeichen einer Gegenmoral, die sie - wie schon Heinroth - mit medizinischen Warnungen vor Krankheiten und Verheißungen von Gesundheit durchzusetzen versuchte.

Ansätze zur Kritik an den pathogenen Wirkungen der Moral finden sich schon bei Freud selbst, ausdrücklich beispielsweise in seiner 1908 erschienen Schrift "Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität". Wie seinerzeit Otto Gross und später Wilhelm Reich oder zum Teil auch Jacques Lacan und wie zahlreiche Schriftsteller der Moderne, die sich die Psychoanalyse zusammen mit der Philosophie Nietzsches aneigneten, hat Groddeck diese Ansätze radikalisiert.

Einen "wilden Analytiker" nannte er sich. Etwas von dieser Wildheit zeigen auch seine Publikationen. Über die Psychoanalyse schrieb er nicht selten in literarischer Form. Das bekannteste Beispiel dafür ist "Der Seelensucher" mit dem Untertitel "Ein psychoanalytischer Roman", 1921 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erschienen, von Freud als "Leckerbissen", als "Werk eines Rabelais ebenbürtigen Kopfes" gepriesen, von dem besorgten Freund einer Patientin Groddecks als "das schmutzigste und gemeinste Buch, das je geschrieben wurde", verdammt (vgl. https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=726). Doch auch da, wo sich der schreibende Arzt nicht auf das Terrain literarischer Fiktionen begab, legte er, anders als Freud und ähnlich wie Nietzsche, auf wissenschaftliche Tugenden der Präzision und Systematik wenig wert. Auf die Freiheiten des Assoziierens umso mehr.

Gerade auch bei etlichen Schriftstellern des 20. Jahrhunderst fand er damit viel positive Resonanz. Hermann Graf Keyserling lernte Groddeck 1924 persönlich kennen, wurde sein Patient und pries ihn als größten "Zauberer unter den Analytikern". Sein Nachruf auf Groddeck wurde in die Nachdrucke des "Buches vom Es" aufgenommen. Ingeborg Bachmann zeigte sich 1967 von Groddecks Schriften bezauberte: "Ein glänzender Schriftsteller, den man aber auch lesen kann, wenn man ein paar Volksschulklassen absolviert hat, seine Prosa ist witzig, trivial, großartig, es gibt Stellen, wo man, ohne je mit einer Arteriosklerose zu tun zu haben, plötzlich darüber zu lesen anfängt." Und sie fügte hinzu: "Vielleicht haben die Heiligen in diesem Jahrhundert diese Sprache führen müssen, die eines Clowns und die eines Wissenschaftlers."

Eine Kostprobe für diesen Stil bietet gleich der einleitende Beitrag zur ersten Nummer der Zeitschrift "Die Arche". Sie erschien am 16. Mail 1925. Groddeck hatte sie ins Leben gerufen und fungierte als Herausgeber. Der Artikel beginnt mit einer Kindheitserinnerung: Vor der Mutter "liegt ein Bilderbuch, die Arche Noah genannt, und ich selber sitze auf ihrem Schoß und betrachte das Bild, dessen Begleitverse Mama einhersagt." Von dieser Kindheitszene ausgehend bewegen sich die Erinnerungen und Themen sprunghaft in verschiedenste Richtungen. Der Ausgangspunkt bleibt freilich präsent: Zwei Tiere aus der Arche Noah symbolisieren die Spannung zwischen gut und böse. Nicht mit der Taube mag sich das Kind (oder der sich zurück erinnernde Erwachsene?) identifizieren, sondern mit dem Raben, der den Auftrag Gottes missachtete.

"Die Arche" war etwa drei Jahre lang die Haus-Zeitschrift in Groddecks Baden-Badener Sanatorium mit dem irreführend frommen Namen "Marienhöhe". Die Patienten nannten es gerne "Satanarium". So hieß denn auch jene 1918 wöchentlich erscheinende Privatzeitschrift, die der "Arche" vorausging. Otto Jägersberg, der beide Zeitschriften im Rahmen der Werk-Ausgabe Groddecks herausgegeben hat, charakterisierte die Örtlichkeit als "ein Zauberberg im Schwarzwald". Es würde sich lohnen, dem Vergleich näher nachzugehen. Der Psychoanalytiker Dr. Krokowski in Thomas Manns Roman hat mit Groddeck manche Ähnlichkeiten...

"Die Arche" ist ein Dokument der Atmosphäre in Groddecks Klinik. Die Beiträge lieferten neben Groddeck selbst auch seine Patienten und Mitarbeiter. Die Zeitschrift war kein großer Erfolg. In mehr als 200 Exemplare druckte man die Ausgaben nicht. Die letzte erschien 1927, zehn Tage vor Weihnachten, ohne Hinweis, dass keine weiteren mehr folgen würden. Doch "Die Arche" wurde später zur Legende, auch weil sie in Antiquariaten und Bibliotheken kaum noch oder nur in Bruchstücken zu bekommen war. Zu "ihrem Mythos", so Otto Jägersberg, "trugen eine nach ihr benannte italienische psychologische Zeitschrift und zahlreiche Auswahlbände bei. Ihre Herausgeber benutzten die Arche als einen mythischen Steinbruch, aus denen sie sich die für ihre Interessen nützlichen Brocken herausholten. Für einen kompletten Abdruck wollte keiner das Risiko übernehmen."

Jetzt ist "Die Arche" in einem vollständigen photomechanischen Nachdruck neu zu besichtigen. Der Herausgeber hat sie erhellend kommentiert und ihr ein (allzu) knappes Nachwort beigefügt. Die Lektüre ist ernüchternd, zuweilen sogar erschreckend, doch für historisch Interessierte aufschlussreich und, wo die psychologischen Deutungen somatischer Zeichen zur Karikatur ihrer selbst geraten, gelegentlich auch amüsant. Die abgedruckten Selbsterfahrungsberichte der Ärzte und Patienten sind heute nur noch mäßig interessant, die Narzissmen Groddecks befremdlich. "In eigener Sache" gibt er gleich auf der ersten Seite der Ausgabe vom 26. April 1927 folgende Erklärung zum "Zweiten psychotherapeutischen Kongreß der Ärzte" in Nauheim ab: "Wenn es in der Welt nach Recht und Billigkeit zuginge, müßte ich diesen Kongreß als Vorsitzender leiten; das was man jetzt unter Psychotherapie versteht, ist von mir in das Tätigkeitsgebiet des Arztes eingeführt, die Grundlagen der modernen Psychotherapie des praktischen Arztes sind von mir gelegt worden, auf dieser Grundlage hat sich alles Weitere aufgebaut und wird sich alles Weitere in den nächsten Jahren aufbauen."

In der "Arche" finden sich allerdings auch so anregend provozierende Vorträge Groddecks wie der über das "Faust"-Drama des von ihm über alles verehrten Goethe. Die Deutung steht einmal mehr im Dienste des Kampfes gegen die Fesseln der Moral. "Das Faustische Streben hat nichts mit dem Gutsein zu tun, hat nicht das mindeste Verlangen, 'edel, hilfreich und gut' zu sein". Groddecks therapeutischer Amoralismus ist in seiner Zeit nicht singulär. Er konnte hilfreich sein bei der heilsamen Verflüssigung zwanghafter und destruktiver Überich-Strukturen. Er konnte jedoch auch gefährlich werden.

Die in den 1990er Jahren geführten Diskussionen über die politischen und rassistischen Ansichten Groddecks erhalten durch den Reprint der "Arche" eine erweiterte Materialbasis. "Groddeck ist alles andere als politisch korrekt", konstatiert Otto Jägersberg in seinem Nachwort. Das ist eine verharmlosende Formulierung für die Affinitäten zahlreicher Äußerungen Groddecks zu deutschnationalen und rassistischen Diskursen. Das Lob des Tüchtigen und die Verachtung des Untüchtigen, die Hassbekundungen gegen den "Erbfeind" Frankreich, die Sympathien mit dem italienischen Faschismus, die Ausfälle gegen die "Schwarzen", die das Blut verderben, der offen zur Schau getragene Antihumanismus und Antiparlamentarismus sind keine zwingenden, doch auch keine seltenen Begleiterscheinung einer Moralismuskritik, wie sie seinerzeit nicht nur Groddeck im Namen der Gesundheit propagierte.

Wie zahlreiche Beispiele aus der Medizingeschichte kann auch das Beispiel Groddeck zeigen: Wenn in Fragen der Moral, mit welcher Tendenz auch immer, medizinische Argumente ins Spiel gebracht werden, ist Vorsicht geboten.

Titelbild

Georg Groddeck: Die Arche. Vollständiger photomechanischer Nachdruck der Zeitschrift (1925-1927) 3 Bde.
Herausgegeben von Otto Jägersberg.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
1400 Seiten, 126,80 EUR.
ISBN-10: 3878774745

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