Prägnante Momente

Die Beiträge der Festschrift für Hans-Jürgen Schings kartieren das Feld der Repräsentationsästhetik in der Aufklärung und Weimarer Klassik

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Essay "Diderot, Brecht, Eisenstein", der im dritten Band seiner "Essais critiques" unter der Kapitelüberschrift "représentation" eingeordnet ist, entwickelt Roland Barthes eine Analyse des Bildcharakters der Kunst (der Bestimmung der Kunst als Bild), den er - mit einer etwas freischwebenden, aber dafür recht eleganten Hypothese - auf ein von den Griechen erfundenes Gefüge zurückführt: nämlich auf die "Verbindung zwischen der Geometrie und dem Theater". Das Theater wäre der Ort (die sichtbare Räumlichkeit), wo die Kunst (die Welt) zum Bild wird, denn Bilder sind "hergerichtete Szenen". Und dieses Theater schreibt seit den Griechen fast allen Künsten seine Logik ein: "Die Bühne, das Gemälde, die Aufnahme, das ausgeschnittene Rechteck sind die Voraussetzung, von der her das Theater, die Malerei, der Film und die Literatur denkbar sind, das heißt alle Künste, die nicht Musik sind und sich somit als dioptrische Künste bezeichnen ließen." Kein Zufall, dass Barthes bei seiner Erläuterung des Bildcharakters der Kunst (wie übrigens auch Adorno in einem vergleichbaren Kontext) auf den Lessingschen Begriff des "prägnanten Augenblicks" verweist.

Was Barthes den 'dioptrischen Künsten' als gemeinsames Begehren unterstellt, ist die Suche nach dem "perfekten Augenblick", der in der gedrängten Fülle eines zeitlichen Bruchteils von Gegenwärtigkeit zugleich die Spanne der Zeit zwischen Vergangenem und Zukünftigem aufhebt, also 'perfekt' auch in dem Sinne ist, dass er sich in seiner Augenblicklichkeit zum Immerwährenden historischer Größe erhebt: "Um eine Geschichte zu erzählen, verfügt der Maler nur über einen Augenblick: den, den er auf der Leinwand festhalten wird; diesen Augenblick muß er demnach sorgfältig auswählen, ihn von vornherein so einrichten, daß er ein Höchstmaß an Sinn und Lust hergibt: Als zwangsläufig totaler wird dieser Augenblick künstlich sein (irreal: diese Kunst ist nicht realistisch), er wird eine Hieroglyphe sein, aus der sich auf einen Blick (aus einer Einstellung, wenn wir zum Theater, zum Film übergehen) die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft herauslesen lassen, das heißt der historische Sinn der dargestellten Geste. Diesen entscheidenden, absolut konkreten und abstrakten Augenblick wird Lessing (im Laokoon) als prägnanten Augenblick bezeichnen." Der "prägnante Augenblick", der wie kein anderer ins Zentrum der Repräsentationsästhetik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts trifft, ist diejenige Phase einer Handlung oder Handlungsabfolge, die der Maler, der die Sequenz zum Stoff seiner Darstellung macht, auswählen muss, um dem Betrachter die imaginative Konstitution der übrigen zur Sequenz gehörenden Phasen zu ermöglichen. Der Augenblick der Malerei muss, als das Ganze umgreifend, sich als fruchtbar erweisen, das heißt in seiner Partikularität indirekt auf die vorausgehenden und nachfolgenden Momente verweisen, sie gewissermaßen aus diesem Einzelaspekt heraus gebären können. Hört man aus dieser potenzierten Bedeutung Platons Metaphorik der Chora mit ihrer Mutter- oder Ammenfunktion heraus, so wird bei Lessing andererseits der Rahmen des Bildlichen als konkreter Visualität verlassen und auf eine Sinnebene angespielt, die mit anderen Mitteln besser zu repräsentieren ist: "Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben."

Der Begriff des "fruchtbaren Augenblicks" markiert also die Stelle, an der das Gemälde über seine "materiellen Schranken" hinausgeht, sich selber als materielles Gemälde aufhebt und in den Bereich der befreiten Einbildungskraft - des Narrativen der Poesie - verweist. Damit ist eine entscheidende Tendenz der Repräsentationsästhetik Lessings angezeigt: die Privilegierung der Poesie gegenüber der Malerei als des freieren, geistigeren Modus der Vorstellung. Das Adjektiv "fruchtbar" rekurriert auf den semantischen Kontext "biologische Reproduktion". Und in der Tat: "fruchtbar" ist die bedeutungsverschiebende Übersetzung, die Georg Friedrich Meier, der Popularisator Baumgartens, für das lateinische praegnans, das in der "Aesthetica" (1750/58) eine wesentliche Eigenschaft ästhetischer Vorstellungen oder cognitiones bezeichnet, eingeführt hat. Der "prägnante Augenblick" ist ein "schwangerer" Augenblick. Und die Szene der Repräsentation, die im Diskurs der ästhetischen Theorie produziert wird, ist auch eine der Zeugung und der Geburt.

Die Erkenntnis, dass die Malerei in Lessings "Laokoon" nicht so sehr Thema als Anathema ist, unterstreicht ein Aufsatz des Berliner Germanisten Norbert Christian Wolf in der Festschrift für Hans-Jürgen Schings, der die theoretischen Begründungsverhältnisse sowie die ästhetischen Konsequenzen der jeweiligen Konzeption vom 'prägnanten Moment' in den zentralen Beiträgen zur Laokoon-Debattte noch einmal mustert, um sie einander direkt gegenüberstellen zu können. Die Bestimmung der "Grenzen der Malerei und Poesie", die Lessing in seiner größten ästhetischen Schrift unternimmt, gehorcht einer Axiologie, die die Superiorität der sprachlichen Kunst gegenüber den bildenden Künsten festschreibt. Daher beinhaltet für Lessing die Horazische Formel ut pictura poesis, der er allerdings in der dioptrischen Ausrichtung seines Repräsentationsmodells treu bleibt, eine widersinnige Forderung. Das Höhere soll sich dem Niedrigeren akkomodieren. Dieser Regression, kognitiv und geschichtsphilosophisch zugleich, gelte es im "Laokoon" entgegenzuarbeiten. Die Superiorität der Poesie beruht nach Lessing auf der Intellektualität der semiotischen Mittel, derer sie sich bedient. Da sie nämlich mit willkürlichen Zeichen operiert, die rein funktional und ohne jegliche materielle bzw. sinnliche Flagranz sind, Zeichen, die sich gleichsam in der Bezeichnung auslöschen, ermöglicht sie eine Autonomie imaginativer Gegenstandskonstitution, die der Malerei, unauflöslich an die Materialität ihres Zeichenvehikels gebunden, unerreichbar ist. Im Gegensatz dazu ist die Poesie als höhere Kunst restlos repräsentierend. Und aus dem gleichen Grund ist die Malerei für Lessing suspekt: ihre Repräsentationen enthalten ein nicht repräsentatives Element; ihre Dioptrik, um mit Barthes zu sprechen, ist von einem Opaken unterbrochen, somit halb blind. Die materielle Kunst der Malerei ist für die Ästhetik der Repräsentation deswegen so beunruhigend, weil ihr ein widerständiger Rest, der sich nicht als Sinn aufheben lässt, innewohnt.

Goethes 1797 entstandener Aufsatz "Über Laokoon", zentraler Text des Dichters zur bildkünstlerischen Problematik des punctum temporis, reagiert, wie Wolf detailliert nachweist, unmittelbar auf die Lessingsche Mediendifferenzierung. Obwohl Goethe den Begriff in seiner Schrift nicht expressis verbis verwendet, widmen sich seine Reflexionen der spätestens seit Lessing ins Zentrum der theoretischen Debatte gerückten Frage nach dem 'prägnanten Augenblick', wobei er Lessings Trennung des Augenblicks höchster ästhetischer Wirkung vom Augenblick höchster affektiver Erregung nicht folgt, sondern vielmehr seiner Skepsis gegenüber der als latent trügerisch verstandenen Einbildungskraft und mithin gegenüber jeder wirkungsästhetischen Begründung von Kunsttheorie Ausdruck verleiht. Während Goethe den durch eine 'physische Erscheinung' unmittelbar ausgelösten 'Schrecken' der bildenden Kunst zuordnet, sind 'Furcht und Mitleid' - für Lessing die zentralen Wirkungspotentiale sämtlicher Künste - ihm zufolge projektive Empfindungen, die auf identifikatorischer Phantasie beruhen und als Wirkungspotentiale deshalb allein der Poesie angehören. Wolf zieht aus seiner Analyse der Funktion des 'prägnanten Moments' in Goethes Aufsatz "Über Laokoon" den Schluss, dass es sich hier - im Vergleich zu Lessings Gattungstheorie - um eine deutliche Aufwertung der bildenden Kunst handele. Damit einher geht "die Restitution einer ontologischen Gleichrangigkeit der verschiedenen Künste, wenn nicht sogar eine tendenzielle Bevorzugung der bildenden Kunst."

Folgerichtig wäre dann auch Barthes' eingangs zitierte Wertung des "prägnanten Augenblicks" als "Hieroglyphe", "aus der sich auf einen Blick [...] die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft herauslesen lassen", mit Rekurs auf Lessing zu korrigieren. Worauf sich der französische Literaturtheoretiker hier bezieht, ist gerade nicht Lessings Begriffverwendung, wie er irrtümlich annimmt, sondern eher die der Weimarer Klassik, die dem 'prägnanten Moment' auch in den Medien der Sukzession eine wichtige Funktion zugeschrieben hat. So meint etwa Schiller in einem Brief an Goethe vom 2. Oktober 1797, der 'prägnante Moment' sei in der Dichtung "vollkommen durch seine Qualifikation zu einer durchgängig bestimmten Darstellung [einer Handlung] zu erklären", so dass "alles was zur Vollständigkeit derselben gehört, natürlich ja in gewissem Sinn notwendig darin liegt, daraus hervor geht". Als dramenpoetische Ordnungsfigur meint Schiller somit jenen Punkt der höchsten Steigerung des Bühnengeschehens, an dem sämtliche szenischen Kräfte zu einer verdichteten Form zusammentreten und eine ästhetisch sichtbare Einheit bilden. Peter-André Alt, Alexander Košenina, Hartmut Reinhardt und Wolfgang Riedel unterstreichen in ihrem Vorwort zu diesem Sammelband völlig zu Recht, dass der Begriff des 'prägnanten Augenblicks' im erweiterten Sinn auch als "Synonym für einen Ideal-Augenblick gelten [darf], in dem nicht nur die Energien der Kunst, sondern zugleich die Möglichkeiten des Individuums ihre konzentrierteste Ausprägung erreichen". 'Prägnanz' ist somit "als Kennzeichen klassisch gereinigter Zeiterfahrung eine Kategorie, die ästhetisches und geschichtsphilosophisches Interesse zusammenzieht". In diesem Kontext verweist der Begriff auf eine Ebene, wo Literatur über ihre künstlerische Organisationsleistung reflektiert und zugänglich wird. Die Beiträge dieser Festschrift verdeutlichen, dass gerade in den Literatur- und Mediendebatten des 18. Jahrhunderts und der klassischen Moderne eine Fülle literarischer Werke entstehen, in denen sich die Ordnungsvision des 'prägnanten Moments' zwar auf sehr unterschiedliche Weise bekundet, dabei aber immer im Rahmen eines Diskurses über die Ästhetik der Repräsentation verbleibt.

Titelbild

Peter-André Alt / Alexander Košenina / Hartmut Reinhardt / Wolfgang Riedel (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.
524 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-10: 3826023110

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