Im Hypertext der politischen Klugheit

Leander Scholz über Strategien des Wissens um 1700

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit um 1700, von der Literatur- und Kulturgeschichte traditionell vernachlässigt, gewinnt seit einigen Jahren verstärkt die Aufmerksamkeit der Forschung. Der Übergang vom Barock zur Aufklärung kann sich immer mehr als eine Epochenschwelle etablieren, die zugleich für einen vorgezogenen Beginn der ,Moderne' steht. In dieses neuerdings attraktive Forschungsgebiet ordnet sich auch Leander Scholz' Buch über "Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700" ein. Der Begriff des ,Archivs' im Titel zeigt schon an, dass Scholz mit einem diskursarchäologischen Blick seine Darstellung des Übergangs von den höfischen Klugheitslehren des 17. Jahrhunderts zum modernen strategischen Denken in Angriff nimmt. Er bezieht dazu neuere, medien- und informationstheoretische Ansätze (für die stellvertretend etwa Friedrich Kittler und Stefan Rieger stehen können) in seine Untersuchung ein. Scholz allerdings unterliegt leider zu oft der Suggestionskraft seiner Archiv-Metapher, was an vielen Stellen eher zur Verunklärung beiträgt. Das liest sich dann etwa so: "Jede Organisation von Wissen basiert auf der einer Fiktion seiner Gesamtheit, die den Aufbau und die Anordnung des Archivs seiner Daten steuert. Das Archiv als Idee dieser Gesamtheit bestimmt die Grenze zum Nichtwissen und die Selektionen, nach denen die Aufnahme von Einzelwissen vorgenommen werden. Der zugrunde liegende Archivbegriff ist deshalb immer zugleich heuristisch und ethisch motiviert. Denn nicht nur die Anleitungen zum Sammeln des Wissens richten sich nach der Idee des Archivs, sondern auch der Gebrauch des Archivs. Jedes Archiv hat eine Benutzerordnung. Und jedes Archiv hat einen Archivar, dessen Ethos von der Fiktion einer idealen Deckung des tatsächlichen und des vorgestellten Archivs motiviert ist."

Doch worum geht es in dem Buch eigentlich? Das lässt sich so eindeutig nicht sagen. Im Zentrum der Untersuchung steht Christian Thomasius, der ,Vater der deutschen Aufklärung', doch implizit läuft alles auf Kant, Hegel und Nietzsche zu, denn sie bilden durchgängig den Fluchtpunkt der teleologisch angelegten Argumentation der Arbeit: "Thomasius ist noch nicht der Philosoph der institutionalisierten Öffentlichkeit, der in der Zirkulation der Information im erstarkenden Zeitschriften- und Zeitungswesen wie Hegel einen 'Gottesdienst' und später Nietzsche ihn parodierend einen Götzendienst prophezeiht". Scholz bringt damit zu viel Heterogenes zusammen, das einfach nicht zusammen gehört.

Das Buch ist in vier Kapitel untergliedert. Das erste handelt von einer primär medientheoretischen Fragestellung: Wie wird um 1700 mit dem Problem des expandierenden Wissens umgegangen? Wie wird dieses Wissen in der Frühen Neuzeit durch Kategorisierung, Klassifizierung und Taxonomisierung (etwa durch die rhetorische Topik und die Memoria) geordnet? Und schließlich: Wie scheitern diese Versuche, eine Struktur im Chaos des Wissens einzuziehen, schließlich in der "Moderne" am Beginn des 18. Jahrhunderts (und darüber hinaus)? "Erst die Aufklärung und die parallel aufsteigende Naturwissenschaft beenden das gedankliche Primat der Wortwissenschaften, die als Rhetorik, Argumentationslogik oder Dialektik die Topik dieses Wissens und der Polyhistorie begründen. [...] Die Philosophie um 1700 läßt sich deshalb immer auch als eine Kritik des Gedächtnisses im Sinne eines Verbindungsglieds zwischen Welt und Denken beschreiben." Das ist zwar alles durchaus zutreffend beobachtet, andererseits aber seit mehr als zwei Jahrzehnten mehr oder weniger Gemeingut der Forschung. Das ist ein Grundproblem der Arbeit: Scholz stellt zu wenig heraus, was an seinem Buch (die Terminologie einmal beiseite gelassen) innovativ ist, und wie sich das, was er vielfach an Neuem sieht, zum Stand der Forschung verhält.

Das zweite Kapitel untersucht unter dem Titel "Aufklärung als Selektion" zunächst das Schicksal der höfischen Verstellungskunst bei Thomasius. Der Begriff der 'Klugheit' (und sein Gegenbegriff der 'Weisheit') rückt ins Zentrum der Argumentation. Wichtig ist dabei, wie Scholz richtig erkennt, das Wechselverhältnis von 'Beobachtung' des Gegenübers und der 'Selbstbeobachtung' des klug handelnden Hofmannes: "Klug wird man aus der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung von Fremdbeobachtung - was man selbst nicht beobachten kann - und dem Wissen, daß der eigene Mikrokosmos des Verstandes an der Schnittstelle zu den anderen aufhört." Der Politicus am fürstlichen Hofe betreibt "personal management", immer in Abhängigkeit vom "Supersignifikanten" des Fürsten. In Graciáns düsterem "Handorakel" von 1647, einem der zentralen Texte der höfischen Verhaltenslehre, wird der Rat suchende Leser nicht mit einer "Ansammlung von erfahrungsorientierten Regeln" konfrontiert, sondern durch ein paradoxes "Verweisungssystem" zur "Navigation" und damit zugleich zur Emanzipation durch Selbsthilfe getrieben: Der Hofmann als Surfer im Hypertext der politischen Klugheit.

Solche Vergleiche können durchaus einen Erkenntniswert haben, wenn sie auf einer soliden Quellenarbeit beruhen. Doch daran mangelt es der Arbeit an vielen Stellen. Falsch ist etwa, dass Thomasius bereits in seiner Leipziger Zeit, in der die berühmte Vorlesung über Gracián (1687) fällt, den Bruch mit dem Pietismus vollzogen hat; mindestens problematisch die Formulierung, Thomasius habe in Leipzig als "Dr. privatus und juris practicus" gearbeitet. Weitgehend semantisch inhaltsfrei sind Sätze wie diese, die durchaus paradigmatisch für den Duktus der Studie sind: "Während in der Antike sich das Wollen des Erkannten aus dem Erkennen selbst ergab, weil die Welt als vom Logos grundsätzlich durchwoben gedacht wurde, so treten mit der Betonung des Einzelnen in der Moderne Willen und Verstand auseinander. Das faustische Drängen ist die Tragödie, in der die Einsichtigkeit dem Gewollten stets hinterherläuft." Zahlreiche Druckfehler, einige falsch geschriebene Namen und (wenn das genau jenen Pedantismus-Verdacht aufkommen lässt, den auch Thomasius heftig bekämpft) Latein-Schwächen (etwa die "Arkanus-Literatur" des 17. Jahrhunderts) lassen die Studie als wenig zuverlässig erscheinen.

Zurecht hebt Scholz hervor, dass Thomasius das Gespräch ins Zentrum rückt - auch gegen die monologische Rede und die klassische Rhetorik. Und zurecht stellt er heraus, dass Thomasius mit seiner Klugheits-Theorie durchaus als ein ernstzunehmender "Kommunikationstheoretiker" gelten kann. Dabei überschätzt er aber die Durchsetzungskraft des Buchdrucks (und der gelehrten Zeitschriften) als Medium zur Schaffung von Öffentlichkeit. Dass die Erfindung des Buchdrucks es schon im 17. Jahrhundert ermöglicht habe, die Leserschaft dramatisch zu erweitern, gehört zu jenen Mythen der Gutenberg-Galaxis, welche die Forschung der letzten Jahrzehnte längst widerlegt hat. Anachronistisch erscheint nicht zuletzt Scholz' Gegenüberstellung einer "ausschweifenden Rede" des barocken Polyhistorismus und einer Sprache des Rationalismus, die dem Ideal der "Eleganz der Knappheit" gehorcht. Solche Stil-Etikettierungen im Gefolge eines Arnold Hauser und Ernst Robert Curtius können heute getrost als überholt gelten. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass der Verfasser nicht auf der Höhe des Forschungsstandes ist.

Im dritten Kapitel "Die Politik der Klugheit" geht es dann wesentlich um Thomasius' Schriften zur "Hofphilosophie" und Affektenlehre, sowie um die 'Monatsgespräche', die Scholz einer detaillierten Analyse unterzieht. Auch wenn der problematische Begriff des 'Bürgerlichen' kaum geklärt wird, geht der Verfasser - in Einklang mit der einschlägigen Forschung - davon aus, dass sich in Thomasius' Schriften seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ein Adressatenwechsel von der höfischen zur bürgerlichen Sphäre zeige. Auch die Klugheit, der frühneuzeitliche Zentralbegriff in Hofrhetorik und den Staatsräson-Theorien, wird dabei einer Umsemantisierung unterzogen: "Die Konzeption der 'Klugheit sich in täglicher Conversation aufzuführen' hat dementsprechend auch nicht mehr die Aufgabe, einen höfisch-zivilisierten Umgang zu lehren, sondern Geselligkeit als ethischen Selbstzweck des Menschen zu definieren." Die Konversation wird zum "Ziel menschlichen Daseins". Das letzte Kapitel bietet einen Ausblick ins 19. Jahrhundert und fasst dabei die am Beispiel von Thomasius analysierten Umbrüche in den frühneuzeitlichen Wissenssystemen noch einmal zusammen. Drei Komplexe sind demnach, und hier will man dem Verfasser zustimmen, zentral: Zunächst ist 'Wissen' nicht mehr an die Universität als "privilegierten Ort" gebunden, sondern entfaltet sich als Resultat gesellschaftlicher Praktiken. Die neu aufkommenden Zeitungen und Zeitschriften begründen unter medienhistorischer Perspektive sodann eine neue Dynamik gesellschaftlicher Wissens-Zirkulation am Ende des 17. Jahrhunderts. Schließlich verändern sich nach 1700 auch die Adressatenkreise für viele Formen der Kommunikation - freilich nicht so ausschließlich, wie Scholz dies postuliert. Der esoterische Charakter der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik öffnet sich langsam, so dass "jeder Lesende auch zu einem Teil Autor werden kann", was nichts anderes heißt, als dass sich Thomasius' praktische Philosophie nicht im Akademismus erschöpft, sondern einen unmittelbar lebensweltlichen Anspruch hat. Man kann, wie gesagt, diesen Ergebnissen zustimmen, auch wenn sie nicht wirklich neu sind.

Am Ende bleibt von dem Buch ein zwiespältiger Eindruck: Vieles ist durchaus zutreffend dargestellt, doch zu oft wirkt der informations- und medienwissenschaftliche Jargon wie Nebelkerzen, welche die Erkenntnis der Sachen eher verstellen. Hinter das Postulat der Erweiterung des Adressatenkreises, wie es Thomasius programmatisch vertritt, fällt Scholz' jargonlastige und bisweilen zur Hermetik neigende Arbeit weit zurück. Zudem fehlt es der Studie an der notwendigen medien- und philosophiehistorischen Tiefenschärfe. Es stehen einfach zu viele Halbwahrheiten in jedem Kapitel, so dass man dem Rest auch nicht trauen mag. Das ist schade, denn der grundsätzliche Ansatz, kulturhistorische Umbruchsituationen als Resultate medientechnischer Innovationen zu deuten, ist an sich sehr zu begrüßen.

Titelbild

Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2002.
195 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-10: 3484630302

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