Heidelberg gegen Frankfurt -1:0 - Die Negativität gewinnt den deutschen Städtekampf

Die "gesellschaftskritische Intelligenz" kann sich von Karl Heinz Bohrer jetzt auch per CD die Leviten lesen lassen

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Philosophische Seminar der Universität Heidelberg, das zu Ehren des damals 101-jährigen Hans-Georg Gadamer eine Gadamer-Professur eingerichtet hat, hätte wahrscheinlich auf diese keinen geeigneteren deutschen Intellektuellen berufen können als den emeritierten Bielefelder Professor für Literaturwissenschaft und "Merkur"-Herausgeber Karl Heinz Bohrer. Er hat 1962 ebendort über die Geschichtsphilosophie der Frühromantik promoviert, und dem frühromantischen Einspruch gegen jegliche Form des rationalistischen Universalismus ist er bis heute treu geblieben. Denn so viel biographische "Fern-Erinnerung" ist auch ihm selbst geschuldet. Wer in Bohrer nur den Provokateur sieht, der regelmäßig wider den Stachel des linksintellektuellen Mainstreams löcken muss, oder aber, wie Friedrich Wilhelm Graf in einer höhnischen Abfertigung der Buchausgabe der Heidelberger Vorlesungen (FAZ vom 17.03.03), in ihnen nur die altbekannte, wiederaufgewärmte Kost einer überdrehten Kunstreligion entdeckt, verkennt einiges. Der Autor hat den Heidelberger Anlass privilegierter Öffentlichkeit wahrgenommen, um in drei dichten exemplarischen Vorträgen noch einmal ein in erstaunlicher Kohärenz entwickeltes, facettenreiches Lebensthema vorzustellen. Bohrers Position hat weit zurückreichende noble Wurzeln. Der romantische Protest gegen die "Geschichtsfeindlichkeit" des Fortschrittsfurors der Aufklärung und gegen die von ihr betriebene moralbeflissene Nor(malis)ierung jeglicher individuellen Rest-Kontingenz erbringt eine nicht nur politisch legitime, sondern im Sinne intellektueller Redlichkeit fast notwendige Korrekturleistung, die die moralistische Schieflage des demokratisch-humanistischen Universalismus wieder ausbalancieren kann. Und auch der angebliche "antiphilosophische Affekt" (so Ludger Heidbrink vor einem Jahr in der ZEIT) des Literaturwissenschaftlers Bohrers lässt sich zum Teil historisch erklären, konnte (und kann) doch aufgrund der idealistischen Durchsetzung weiter Teile der deutschen Professorenphilosophie jeglicher Einspruch gegen die Bewusstseins- und Identitätsphilosophie nur außerakademisch, und d. h. nur literarisch seine Stimme erheben.

Wenn also heute Bohrer mit Gadamer (und einer Reihe ausgewählter literarischer Gewährsleute) gegen Apel, Habermas, Wehler, Adorno und damit gegen eine geistige allstar-Allianz angeht, die wohl die disqualifizierende Assoziation des Windmühlen attackierenden "einsamen Ritters" hervorrufen kann (so der gehässige Titel der FAZ-Rezension), so verdankt sich die Schein-Plausibilität solch billiger Verspottung nur einer publikumswirksamen Übermacht der Gegner. Diese macht Bohrers Position zwar relativ aussichts-, aber deswegen noch lange nicht sinnlos. So scheint ein Plädoyer zugunsten von Bohrer, selbst wenn und wo er nicht recht haben sollte, zumindest das Recht der Sorge um einen bundesdeutschen Meinungspluralismus für sich zu haben, den wir heute nötiger denn je haben. Wir brauchen jemanden, der unbeirrt von der kaum von Nachwuchssorgen bedrohten allzeit bereiten Vorturner-Riege unserer volkspädagogischen Aufklärer dickköpfig die Gegen- und die Verlustrechnungen aufmacht. Jemanden, der uns daran erinnert, dass hinter der Schand- und Klagemauer, die die sozialwissenschaftlich-gegenwartsorientierte BRD-Historik in Form des nationalsozialistischen "Zivilisationsbruchs" aufgebaut hat, einmal eine deutsche Geschichte zu sehen war, deren "Verdrängung" (und "voyeuristische" Verharmlosung in den als Ersatzbefriedigungen arragierten großen Geschichtsausstellungen) auch und gerade für das geschichtliche Gedächtnis an jene Zeit eine schlechte Voraussetzung darstellt, die die NS-fixierte Nah-Erinnerung so überdimensional wie obsessiv im Blick hat. Jemanden, der uns daran erinnert, dass es zwischen dem Provinzialismus der grün-bürgerbewegten Regionalisierung und dem kapitalgetriebenen Internationalisierungs- und Globalisierungsdruck auch noch die Idee der "Nation" und den von ihr vorgegebenen "kulturellen Zusammenhang" einer "nationalen Zivilisation" gibt, Ideen, die durch den Hinweis auf vergangene nationalistische Sündenfälle nicht schon desavouiert sind. Und wir brauchen einen so belesenen Literaturwissenschaftler, der den (v. a. deutschen) Philosophen klarmacht, was alles und wie vieles ihrem moralinsauren Diskurs entgeht: die radikale Subjektivität, die menschliche Endlichkeit und Vergänglichkeit, der epiphane Augenblickscharakter nicht begrifflich einholbarer Glücksmomente, und allgemein das, was Bohrer unter dem Begriff der "ästhetischen Negativität" zu fassen versucht: ein fundamental individuelles Zeitbewusstsein, das sich jeder Form der philosophischen Versöhnung, der Vereinnahmung und Indienstnahme für politische und sonstige Langzeit-Utopien verweigert.

Nun aber diese 150 Minuten lange live-Aufnahme aus Heidelberg, die die drei Vorlesungen (mit den Überschriften "Erinnerungslosigkeit", "Augenblick" und "Negativität") auf drei CDs in einer Box mit dem etwas zu prätentiös auf Heidegger schielenden Titel "Ekstasen der Zeit" präsentiert: muss man Bohrer jetzt wirklich auch noch hören? Werden hier die Bohrerschen Predigerworte im "Jargon der Uneigentlichkeit" für die gehorsam hörende Gemeinde verewigt, damit diese sein "Hochamt des poetischen Nihilismus" mitfeiern kann (um noch einmal unseren FAZ-Rezensenten zu zitieren)? Wohl kaum, denn für ein dogmatisches Beschwörungsritual ist Bohrers Vorlesestil viel zu ruhig und unaufgeregt professoral; zum "Feiern" sind die zum Textverständnis notwendigen Aufmerksamkeitsanforderungen zu hoch, und auch die nicht sehr "radiogene" Stimmlichkeit (man könnte böswillig wegen mancher Zischlaute fast von einem kleinen Sprachfehler reden) trägt kaum dazu bei, den ihm zugeschriebenen priesterlichen Pathos aufkommen zu lassen. Dagegen lassen sich bestimmte, unkonventionelle Hörsituationen durchaus vorstellen: warum soll man sich nicht beim Joggen den Analysen des "Augenblicks ohne Transzendenz" bei Woolfe, Musil und Breton widmen? Warum keine textnahe Adorno-Exegese beim Autofahren (wie es das auf dem Cover abgedruckte Logo der "Autobahn-Universität" nahelegt)? Heidelberg ist überall, und vielleicht kommen wir dem vergänglichen Augenblick und der ästhetischen Plötzlichkeit (oder wenigstens Bohrers ruhelosen diesbezüglichen Theorien) noch am ehesten auf die Spur, wenn wir in Bewegung bleiben: riding on with the lonely rider.

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Ekstasen der Zeit. Gadamer-Professur 2001. Vorlesung an der Universität Heidelberg. 3 CD.
Herausgegeben von Stephan Krass.
Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2003.
150 min., 39,90 EUR.
ISBN-10: 3896702475

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