Die Sorge der Amazonen

Saskia Wendels Einführung in feministische Ethiken

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauen haben keine Grundsätze und können daher nicht aus Moral sondern bestenfalls moralgemäß handeln, was sie allerdings wiederum ganz gerne tun, weil sie es schön finden. Sollte es ihnen jedoch an diesem quasi ästhetischen Gefühl mangeln, so müssen das "Mitleiden", die "Gefälligkeit" und ihre "Gefühle der Ehre" die "Stelle der Grundsätze" vertreten. Diese Auffassung vertrat zumindest Immanuel Kant in Schriften und Vorlesungen. Dass Frauen irgendwann einmal philosophische Ethikentwürfe vorlegen, hätte er sich wohl kaum träumen lassen, und ganz sicher stand eine feministische Ethik völlig außerhalb seines Vorstellungsvermögens.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts aber ist die Vielzahl ethischer Entwürfe von Feministinnen schon längst kaum noch zu überschauen. Umso begrüßenswerter ist es daher, dass der Junius Verlag in seiner Reihe "Zur Einführung" nun einen Band zur feministischen Ethik vorgelegt hat. Er stammt aus der Feder der Tilburger Religionsphilosophin Saskia Wedel, die im Jahre 2000 auf dem IX. Symposium der Internationalen Assoziation von Philosophinnen für eine Ethik der Sorge plädierte. Auch Wendel beginnt ihr Buch mit Kants misogyner Leugnung eines weiblichen Moralvermögens. Allerdings fällt ihre Darstellung der kantischen Begründung für die angebliche Moralunfähigkeit von Frauen gleich zu Beginn recht schief aus, und wenn sie später im Text noch einmal auf den Deontologen zurückkommt und behauptet, er argumentiere, "dass Frauen qua Sinnenwesen keine moralischen Subjekte sein können", so ist das schlechterdings abwegig.

Nun handelt es sich bei dem intendierten Abriss feministischer Ethiken allerdings um ein aufgrund seines Umfanges kaum völlig fehlerfrei zu bewältigendes Unterfangen, müssen doch zumindest die wesentlichen im Laufe der Geschichte der Philosophie vertretenen Ethiken in den Blick genommen werden. Denn in den lebhaft geführten Diskussionen der community feministischer Philosophinnen werden nicht nur deontologische und teleologische, universalistische und kontextualistische, liberale und kommunitaristische Positionen nachdrücklich vertreten oder heftig kritisiert, sondern es wird immer auch auf verschiedene Philosophen der Philosophiegeschichte Bezug genommen. Während sich Martha Nussbaum auf Aristoteles beruft, macht Hertha Nagl-Docekal Kants kategorischen Imperativ für eine feministische Ethik fruchtbar, Susan Moller Okins stützt sich kritisch auf Rawls Theorie der Gerechtigkeit und Annette C. Bayer präferiert Humes Gefühlsethik, deren "moralisches Wissen" sie als "geradezu unheimlich weiblich" bezeichnet. Da kann es kaum ausbleiben, dass die Autorin die Ethiken einiger Philosophen verzeichnet, ein Zitat falsch zuordnet - so ist die Maxime "Jedem das Seine" nicht auf Aristoteles, sondern auf Cicero zurückzuführen - oder ihr falsche Verallgemeinerungen unterlaufen, wie bei der Feststellung, dass universalistischen Ethiken eine "kognitivistische Ausrichtung" eigen sei, die "den Aspekt des Gefühls, insbesondere auch den Aspekt des Mitleids" ausgrenze, womit Schopenhauers Mitleidsethik unter die Räder gerät.

Ungeachtet solcher Mängel wird das Buch jedoch der Aufgabe, eine dichte und konzise Darstellung feministischer Ethiken vorzulegen, im Ganzen gerecht. Daran ändert auch der Umstand nur wenig, dass die Autorin - vermutlich angesichts der Fülle des Quellenmaterials - in einigen Fällen darauf verzichtet, die zentralen Werke feministischer Ethikerinnen heranzuziehen, sondern stattdessen nur auf einen ihrer Aufsätze rekurriert. So zieht sie etwa Eva-Maria Schwickerts kurze Erörterung von "Carol Gilligans Moralkritik zwischen Universalismus und Kontextualismus" heran, nicht aber ihr systematisches Werk "Feminismus und Gerechtigkeit" (vgl. literaturkritik.de 6/2001), und von Sarah Lucia Hoagland wird nur der Aufsatz "Einige Gedanken über das Sorgen" zitiert, nicht jedoch ihr grundlegendes Werk "Die Revolution der Moral". So tritt nicht hervor, dass es sich bei Hoaglands Entwurf um einen Ansatz spezifisch "lesbisch-feministische[r] Perspektiven" handelt - so der Untertitel ihres Buch. Einige ihrer zentralen Thesen kann Wendel jedoch auch anhand des Aufsatzes herauspräparieren. So Hoaglands spezifisches Konzept einer "Ethik der Sorge", die sie als "Sorge der Amazonen" formuliert. Diese Sorge der Amazonen zeichnet sich gegenüber der Fürsorgeethik Carol Gilligans dadurch aus, dass das "ethische Verhalten gegenüber Fremden", die "Analyse von Unterdrückung" und ein "Programm für Veränderung" im "Zentrum ihrer Überlegungen" stehen. Ähnlich bettet auch Herlinde Pauer-Studer Fürsorglichkeit und Anteilnahme in eine "umfassende universalistische Theorie des Rechten" ein.

Bevor sich Wendel jedoch den konkurrierenden feministischen Ethiken zuwendet, fragt sie nach ihren gemeinsamen Spezifika. Es handele sich um Ethiken "unter der Perspektive der Kategorie Geschlecht", denen bei allen Unterschieden vier "entscheidende Charakteristika" gemeinsam seien: 1. haben sie ihren Ursprung in der "Analyse und Kritik traditioneller Ethik", 2. wählen sie "Normativität" als "Ausgangspunkt", 3. ziehen sie ihre Motivation aus ihrem "herrschaftskritische[n] Interesse" und 4. richtet sich ihre "Reflexion" auf eine "gelingende Lebensführung aus der Perspektive von Frauen, aber nicht nur für Frauen". (Hervorhebung R. L.) Mit diesem vierten Punkt werden nicht nur geschlechtsseparatistische Ethiken stillschweigend ausgeschlossen, wie etwa die von Janice Raymond in ihrem Buch "Frauenfreundschaft" (1987) entworfene "Philosophie der Zuneigung", sondern - vermutlich - auch ethische Überlegungen von Männern; wird doch nicht - wie von Nagl-Docekal und anderen Feministinnen - Patriarchats- oder Sexismuskritik zum Kriterium feministischer Ethik erhoben, sondern die Einnahme der Perspektive von Frauen. Was darunter genauer zu verstehen ist, und ob die Möglichkeit, diese Perspektive einzunehmen, an das biologische Geschlecht gebunden ist, lässt Wendel allerdings unerörtert.

Aus guten Gründen folgt der Aufbau des Buches nicht der chronologischen Entwicklung des feministischen Ethikdiskurses, sondern gliedert sich entsprechend den "Konfliktfeldern" innerfeministischer ethischer Kontroversen. So werden in dem zentralen und umfangreichsten Kapitel des Buches "exemplarische Einblick[e] in die wichtigsten Thesen zu den zentralen Diskussionsfeldern" gewährt und deren "unterschiedlichen Facetten" ausgeleuchtet.

Neben zahlreichen anderen Ansätzen wird hier etwa die von Lorraine Code propagierte nichthierarchische, reziproke Ethik der "Freundinnenschaft" (nicht zu verwechseln mit Raymonds "Frauenfreundschaft") vorgestellt oder Sara Ruddicks Ethik der Mütterlichkeit, die - ähnlich wie die Philosophinnen der italienischen Gruppe Diotima - asymmetrische, am Mutter/Tochter-Verhältnis orientierte Beziehungen propagiert.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt Wendel der durch Carol Gilligan initiierten Debatte um eine spezifisch weibliche Moral, in der Luce Irigaray als Ethikerin der sexuellen Differenz ebenso ausführlich zu Wort kommt wie ihre Kritikerin Judith Butler. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Frage, ob feministische Ethik die "Idee eines autonomen Subjekts" braucht. Bei alldem hält die Autorin sich mit ihrem eigenen Urteil strikt zurück und beschränkt sich auf die bloße Darstellung. Dies ändert sich erst im letzten Kapitel, einem kurzen "kritischen Ausblick", in dem Wendel fünf "Aufgaben für eine zukünftige feministische Ethik" entwirft. Ein Abschnitt, den man keinesfalls überschlagen sollte.

Die Sex/Gender-Debatte spielt in Wendels Einführung nur eine denkbar randständige Rolle. Man würde das vielleicht bedauern - würde die Autorin die Unterscheidung zwischen gender und sex nicht als Unterscheidung zwischen Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität missverstehen.

Titelbild

Saskia Wendel: Feministische Ethik. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2003.
132 Seiten, 11,50 EUR.
ISBN-10: 3885063743

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