Mutterlandsliebe und Vaterlandshass

Maxim Billers "Deutschbuch" bereichert die Debatte um die Nation

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der 1960 in Prag geborene und seit den siebziger Jahren in München und Berlin lebende Maxim Biller, "der unrasierteste unter Deutschlands Schriftstellern" (Hannes Stein), sein öffentliches Wirken als Journalist und Geschichtenerzähler begonnen hat, ist die Zahl derer, die ihn mit Skepsis beäugen oder als Extrem-Nervensäge des Literaturbetriebs gar vollständig ablehnen, bei weitem größer als die Schar seiner Bewunderer. Das hat vor allem mit den deutsch-jüdischen Verlogenheiten zu tun, die dieser Provokateur gnadenlos aufspießt und dem verdutzten oder auch peinlich berührten Publikum präsentiert. Zuerst jedoch hat es mit Billers Person zu tun und deren unübersehbarem Hang zu Hasstiraden und Selbststilisierungen - was ihn oft als arrogant erscheinen lässt und den Verdacht nährt, hier wolle ein besserwisserischer 40-Jähriger um fast jeden Preis in die Schlagzeilen kommen. Biller hat sich, vor allem durch seine Kolumnen in "Tempo" und im "ZEIT Magazin", schon früh als sarkastischer Verächter der meisten (west-)deutschen Zeitgeistigkeiten einen mitunter skandalösen Namen erschrieben. Bei seinem Talent für grelle Ego-Inszenierungen übersieht man allzu leicht seine traditionsbewusste ästhetische Bildung - dass er sein Studium mit einer Arbeit über das Judentum im Werk Thomas Manns abschloss, hat bis heute durchaus Folgen für sein Schreiben. Doch auch die ernsthafte, verzweifelte und manchmal auch nur traurige Menschenliebe, die seine nicht für den Tag geschriebene Literatur zunehmend prägt, wollen ihm viele Zeitgenossen nicht so recht glauben - Billers Entwicklung vom einstigen Hallodri-Draufhau-Texter hin zum bedeutenden Gegenwartsschriftsteller haben viele seiner Gegner nicht mitbekommen oder nicht wahrhaben wollen. Dass man weder Billers oft auch sehr witzige Sprachunarten goutieren noch mit seinen politischen oder sonstigen Meinungen übereinstimmen muss, um ihn für einen der besseren deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation zu halten, haben seine oft sehr nachdenklich stimmenden Erzählungen in "Land der Väter und Verräter" (1997) sowie sein bewegender, wenngleich etwas sperriger Roman "Die Tochter" (2000) gezeigt. Auch sein "Deutschbuch" liefert viele neue Belege für den hohen Rang dieses Prosaisten. Der Lektüre-Reiz rührt ganz wesentlich daher, dass der Autor, wie sein Kollege Matthias Altenburg zu Recht festgestellt hat, "noch immer mit den Augen des Fremden auf eine Umgebung" schaut, "in der es ihm nicht gelungen ist, heimisch zu werden".

Billers "Deutschbuch" versammelt 57 kürzere Texte, hauptsächlich zum deutschen Zeitgeschehen und zur deutschen Literatur seit 1990. Es sind Essays, Reportagen, Kommentare und Betrachtungen, auch ein paar literarische Kurzgeschichten oder besser Geschichten-Anfänge. Das Buch handelt von den Veränderungen, die Deutschland im vergangenen Jahrzehnt erfahren hat und die manchmal fast unmerklich vor sich gingen. "Denn das Spurenverwischen geht in deinem geschichtslosen Land immer sehr schnell, und plötzlich ist alles so, als wäre vorher nie etwas anderes gewesen!", heißt es gleich im ersten Text ("Schuld und Sühne in Havelberg"). In Deutschland nämlich, so Biller, stehe Geschichte immer nur in den Geschichtsbüchern und sei niemals realer Bestandteil der gelebten Gegenwart. Die Spuren der Geschichte freilegen und beschreiben, die Signatur der Zeit lesen und deuten - darum geht es hier, und zwar meist in einem für Billersche Verhältnisse überraschend unaufgeregten Tonfall, zu dem der Autor im Vorwort bemerkt: "Ich schreibe gern über Deutschland und die Deutschen. Manchmal habe ich Recht mit dem, was ich zu sagen habe, manchmal nicht, und so mache ich dann immer weiter". Biller hält seinen Deutschen und seinem Land einen kritischen Spiegel vor, und wie zu erwarten, sehen sie darin meist nicht besonders gut aus. Deutlich wird allerdings auch, dass seine Kritik, die bisweilen durchaus ätzend ist, aus nichts anderem als aus Anteilnahme, Zuneigung und sogar Liebe erwächst. Wenn es auch um ganz unterschiedliche Ereignisse und Personen geht - Billers Lebensthema, "die Unmöglichkeit, als Jude im Deutschland von heute ein unbeschädigtes Leben zu führen" (Alfred Bodenheimer), ist immer spürbar.

Biller ist in einer bundesdeutschen Welt aufgewachsen, die von den komplexen, von viel gutem Willen getragenen und dennoch von Missverständnissen und Irritationen keineswegs freien Nachkriegs-Übereinkünften zwischen Deutschen und Juden wesentlich bestimmt war. Er opponiert auch in diesem Band gegen viele dieser Übereinkünfte - das unkritische Bild vom "guten Juden" gehört dazu - und will sich von der starren, alles Gegenwartsleben dominierenden und oft lähmenden Holocaust-Fixierung der Eltern und Großeltern absetzen, die der Vielschichtigkeit jüdischen Lebens fünf Jahrzehnte nach Ende des Krieges nicht mehr gerecht zu werden scheint. Schluss also mit dem ewigen Starren auf den Holocaust, der für ihn mittlerweile zum "großen nationalen Topos" der Deutschen degeneriert ist? Nein, niemals, sagt Biller in einer lesenswerten Attacke auf "die wehleidige Selbstgerechtigkeit eines früheren Flakhelfers und späteren Nachkriegsintellektuellen, der es eines Tages nicht mehr aushielt, dass die historische Corporate Identity seines Landes im Vergleich mit der von Luxemburg oder San Marino gewisse moralische Makel aufwies". Billers Lebensthema gibt dieser Polemik gegen Martin Walser ihren mitreißenden Drive. Es inspiriert seine Kritik an Ernst Jünger, Wolf Biermann, Roger Willemsen, Harald Schmidt, Bärbel Schäfer und vielen anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Lande. Es befeuert seine Ablehnung Joschka Fischers und sein Entsetzen über den nicht nur ihm unverständlichen Modekult um ein "bolschewistisches Terrormonster" namens Ulrike Meinhof. Und es steht im Hintergrund seiner nachgerade berühmt gewordenen Tutzinger Rede über die "Schlappschwanz-Literatur", wie Biller das Allermeiste dessen nennt, was seine deutschen Schriftsteller-Kollegen so veröffentlichen. Es motiviert seine Reflexionen über das heutige Israel und die durchaus problematische Beziehung vieler Juden zu diesem Staat ("Nächstes Jahr in Tel Aviv"), und es grundiert die durchweg höchst interessanten Auskünfte über Billers eigenes literarisches Selbstverständnis - man wird reichlich fündig, wenn man in Essays wie "Schweigen über Deutschland", "Unschuld mit Grünspan", "Geschichte schreiben" und vor allem "Die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit" nach den Spuren seiner Poetik sucht, einer weder auf die Wertschätzung der Tradition noch auf den scheinbar altmodischen Begriff der Utopie verzichtenden, einer explizit wahrheitssuchenden und moralischen Poetik übrigens, die überzeugend und glaubwürdig begründet ist und Maxim Biller von vielen seiner schreibenden Zeitgenossen positiv abhebt. Zudem erfährt man hier, dass Biller, man höre und staune, auch zu respektvollem Lob fähig ist. Es gilt naturgemäß vor allem Künstlern: dem Prager Maler Jaroslav Kafka, dem Wiener Lyriker und Erzähler Robert Schindel oder dem serbischen Romancier Aleksandar Tisma, vor allem aber dem wenig bekannten David Vogel, dessen Roman "Eine Ehe in Wien" für Biller "zu den sechs, sieben besten Büchern gehört, die mir je untergekommen sind" - ein Buch, das seinen eigenen "Tochter"-Roman stark beeinflusst habe. Auch wenn das den Leser überhaupt nicht interessieren sollte - Biller schreibt über wirklich jedes Thema spannend und flüssig, und man wird ihm gern auch in weniger bekannte Gefilde folgen.

Noch etwas macht das "Deutschbuch" klar: Maxim Biller wird vielen Zeitgenossen ein Ärgernis bleiben, und das ist ihm selbst wohl ganz recht so. Ein guter Schriftsteller brauche nun einmal den Konflikt, hat er mehrfach erklärt, und genau deshalb sei Deutschland heute das beste Schreib-Land für einen jüdischen Autor. Für Deutschland, seine Literatur und uns Leser ist das ein Glücksfall. Wer das nicht glaubt, dem kann man nur empfehlen, ein wenig im "Deutschbuch" zu blättern.

Titelbild

Maxim Biller: Deutschbuch.
dtv Verlag, München 2001.
336 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3423128860

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Maxim Biller: Die Tochter. Roman.
dtv Verlag, München 2001.
424 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3423129336

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