Totgesagte leben länger

Die Intellektuellen in der Literaturwissenschaft

Von Michael StarkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Stark

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass mögliche Gegenstände des Wissens zu Objekten wissenschaftlicher Fachdisziplinen werden, versteht sich nicht von selbst. Es bedarf der exemplarischen Einführung, ehe man sie allgemein für wissenschaftsfähig hält und als forschungsrelevant akzeptiert. Zuweilen gelingt auch dies erst dann, wenn die institutionellen und öffentlichen Rahmenbedingungen günstig sind. In der Germanistik jedenfalls wurden Begriff, Rolle und Figur des Intellektuellen erst relativ spät zum Forschungsgegenstand. Seine nachhaltige Implementierung in das historische und systematische Programm der Neueren deutschen Sprach und Literaturwissenschaft datiert Ende der Siebziger Jahre, also lange nach Erfindung des Schlagworts ,Intellektuelle' und den ersten Objektivierungsversuchen des Phänomens in Soziologie und Politologie der Weimarer Zeit. Diese Verspätung war übrigens nicht allein durch die Prävalenz der Geistesgeschichte und später durch die der immanenten Literaturbetrachtung bedingt, denen soziohistorische Projekte fern lagen. Auch im akademischen Milieu der Deutschfächer wirkte noch die nationalsozialistische Denunziation der ,Intellektuellen' nach, und zwar als clandestine Reserve gegen das Wort wie gegen die gemeinte Sache. Zudem gab es restaurative Tendenzen, den alten Schimpfwortgebrauch zu erneuern, um unerwünschte schriftstellerische Interventionen oder studentische Proteste gegen autoritäre Blockaden inhaltlicher Demokratisierungsprozesse zu diskreditieren. Entsprechend verdankte sich die nachgeholte Akzeptanz der germanistischen Intellektuellenforschung vor allem zwei Veränderungen im wissenschaftlichen und im gesellschaftlichen Umfeld: zum einen dem Methodenpluralismus, der auch die sozialgeschichtliche Agenda forcierte, und zum anderen dem wachsenden öffentlichen Interesse an einer unverstellten Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.

Um so eindrucksvoller erscheint der Ertrag aus kaum mehr als zwei Jahrzehnten facheigener Forschung, von deren Lage man sich gegenwärtig anhand gewichtiger Publikationen überzeugen kann: Besonders hervorzuheben sind das unter Anleitung von Helmuth Kiesel entstandene Forschungsreferat einer Heidelberger Arbeitsgruppe über "Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland", ferner der aus einem DFG-Projekt zur Geschichte der deutschen PEN-Zentren unter der Leitung von Georg Jäger und Ernst Fischer hervorgegangene Sammelband "Schriftsteller als Intellektuelle" und nicht zuletzt die durch Klaus R. Scherge betreute Berliner Dissertation mit dem Titel "Bruderkämpfe". Nach Fokus, Anlage und Methode notwendig unterschieden, wären die genannten Veröffentlichungen natürlich jede für sich der Betrachtung wert, und ihre Ergebnisse verdienten fraglos eine eingehendere Replik. Um. hier nur jeweils einen Vorzug zu nennen: Mit dem von Jutta Schlich herausgegebenen Forschungsbericht wird gut bedient, wer einen Rückblick auf hundert Jahre deutsche Intellektuellendebatte werfen und dabei den bekannten historisch-politischen Periodisierungen folgen möchte. Auch die enthaltene Begriffsgeschichte bleibt eine Chronik mit hermeneutischem Kommentar. Systematisch anspruchsvoller verfährt der von Sven Hanuschek u.a. edierte Aufsatzband, der neben speziellen Beiträgen zum Thema "Politik und Literatur im Kalten Krieg" auch solche zu übergreifenden Fragestellungen und darüber hinaus einen konzentrierten Problemaufriss zur schriftstellerischen Intellektuellenrolle offeriert. Die umfangreiche Monographie von Markus Joch zeichnet sich durch ihre methodische Homogenität aus. Mit den zentralen Kategorien der Literatur- und Intellektuellensoziologie Pierre Bourdieus gelingt es, sogenannte repräsentative Gegensätzlichkeiten als genuin schriftstellerische Distinktionsversuche unter historisch jeweils vorgegebenen Konkurrenzbedingungen zu beschreiben. Am "Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen .Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger" erweisen sich die geläufigen Autorenklischees als fragwürdig. Wer Heine für einen Intellektualästheten, Heinrich Mann für einen Politpathetiker und Enzensberger für einen Konversionsakrobaten, hält, dürfte nach Lektüre dieses Studie zumindest Zweifel haben.

Die drei genannten Arbeiten als Ausgangspunkt einiger Anmerkungen zum Modethema der gegenwärtigen Diskussion über Intellektuelle zu wählen, legt ihr synchrones Erscheinen nahe. Obwohl nur der Forschungsbericht sich ausdrücklich auf das Motiv beruft, "am Ende dieses Jahrhunderts mit Blick auf Vergangenes Erreichtes zu überprüfen" (Schlich, VII), bleibt keine der Darstellungen von der Sensation ganz unberührt, die der Gedanke an ein erhofftes oder befürchtetes Verschwinden der Intellektuellen zur Jahrhundertwende auslöste. Fast könnte man meinen, die Relevanz literaturwissenschaftlicher Intellektuellenforschung steige paradoxerweise mit der zunehmenden Irrelevanz ihres Gegenstands. Auch die erwähnten Publikationen befassen sich mit den rezenten Konversationen über das Veralten der Figur des Intellektuellen in der Postmoderne bzw. mit aktualisierten Argumentationen, welche die Intellektuellenrolle heute dysfunktional erscheinen lassen: u.a. Roman Luckscheiter in seinem Beitrag über "Intellektuelle nach 1989" (Schlich, S. 367-388), Georg Jäger in seinem "Ausblick auf die Mediengeschichte des Intellektuellen" (Hanuschek u.a., 3. 23-25) und Markus Joch im Kapitel über "Enzensbergers Distinktionsgewinne" (S. 384-413), die auf einer ironisch-sarkastischen Subversion emphatischer Geltungsansprüche intellektueller Kritik beruhen. Das gibt uns Anlass, jenseits von polemischen oder apologetischen Interessen zu überdenken, was die Nekrologien zur Figur und Rolle des Intellektuellen an neuem Sachgehalt bieten. Ein präziser Begriff des Intellektuellen bzw. eine trennscharfe Definition der literarischen Spezies ist dafür die erste Voraussetzung. Für einen Minimalkonsens genügen folgende Bestimmungen: "Die Intellektuellen sind jene Teilgruppe der Intelligenz, die sich nicht auf die Ausübung einer geistigen Arbeit im Beruf beschränkt, sondern darüber hinaus Einfluss auf die öffentliche Meinung auszuüben, politische Wirkung zu erzielen sucht oder sich zumindest am Diskurs über gesellschaftlich relevante Sinn- und Wertvorstellungen beteiligt." (Joch, S. 11) Und für literarische Intellektuelle gilt: "Sie akzeptieren die Dichotomisierung von rein literarischer und politischer Aktivität nicht, sondern transferieren ihr im heimischen Feld gewonnenes Renommee im lnterferenzraum politischer Öffentlichkeit. Publizistik macht einen wesentlichen [...] Bestandteil des Gesamtwerks aus. Von der Geltung universeller Werte überzeugt, halten [sie] sich für deren legitime Fürsprecher. Sie zeigen eine Disposition zu bürgerlicher Bürgerkritik; doch sie pochen auf geistige Unabhängigkeit und scheuen (partei-)politische Bindungen." (Joch, S. 20)

Trivialerweise widerspricht die Existenz solcher Schriftsteller in Vergangenheit und Gegenwart also der Diagnose ihres Verschwindens, und auch in Zukunft wird man wohl mit publizistischen Eingriffen des literarischen Personals rechnen müssen, es sei denn, es entzieht sich. künftig selber den Zumutungen dieser Rolle. Substantiell kann sich die aktuelle Rede von Fall, Demission oder Untergang der Intellektuellen demzufolge nur auf zwei objektive Sachverhalte beziehen, die indes keine Neuigkeiten sind. Denn sowohl der Funktions- als auch der Imageverlust der lntellektuellen werden geschichtsnotorisch beklagt oder beschworen. Einzuräumen ist allerdings, dass moralisch-politische Verfehlungen von Intellektuellen das kollektive Prestige stärker als im Fall anderer Sozialgruppen untergraben und dass sich der dem Wirkungsanspruch der Intellektuellen abträgliche gesellschafts- und mediengeschichtliche Strukturwandel verschärft hat. Georg Jäger stellt die einschlägigen Argumente zusammen: "(a) Die Industrie- und Mediengesellschaft spannt den Intellektuellen in kollektive Medienapparate ein, beraubt ihn einer authentischen Individualität und degradiert ihn zum Entertainer des Publikums; (b) das Ende der Utopien und das Scheitern globaler Ideologien entziehen ihm die legitimierenden Bezugspunkte und rauben ihm die großen Perspektiven, so daß (c) seine Rede im Zeitalter des Wertepluralismus und Kulturrelativismus der Beliebigkeit anheimzufallen droht; (d) die Ausdifferenzierung sozialer Funktionssysteme mit je eigenen Werten, an erster Stelle Wirtschaft und Politik, fuhrt die gesamtgesellschaftliche Moral in die Krise, so daß sie zum ,Störfaktor' oder zur bloßen ,Attitüde' wird." (Schlich, S. 24) Hinzukommt nach seiner Einschatzung: (e) "Der Wandel von der Druck- zur EDV-Kultur" (Schlich, S. 25), die mit jener Asymmetrie von Sender und Empfänger bricht, auf der die Sprecherrolle des Intellektuellen medial basiert.

Mit anderen Worten: Die Bedingungen der Möglichkeit zur kritischen Intervention und deren Chancen, über Partialöffentlichkeiten hinauszudringen, haben sich zweifellos verschlechtert. Daraus aber die Dekompensation der gesellschaftlichen Rolle des Intellektuellen überhaupt abzuleiten, ist Spekulation, wenn nicht politisch optativ.

Der problematische Wunsch nach einer Gesellschaft ohne Intellektuelle hat hierzulande bekanntlich lange Tradition, und zwar keine, die Vertrauen erwecken könnte. Denn der Soupcon gegen Intellektuelle gehörte in Deutschland zum Kern des antisemitischen Codes, in dem eleminatorische Absicht und antiemanzipatorische Ideologie interferieren. (Vgl. Verf. in: Hanuschek u.a., S. 49-67). Sollte der systemische Prozess künftig tatsächlich zu einer ,kalten' Neutralisierung der Intellektuellenrolle führen, wäre erreicht, was die ,heiße' Intellektuellenverachtung der Nazis nicht vermochte. Vorerst darf man sich aber noch über die zur Zeit fälligen Verbindlichkeiten der Rolle verständigen.

Die pseudoegalitäre, im Elitedenken der traditionellen Kulturintelligenz verankerte Prätention der Intellektuellen hat heute ihre ideologiekritische Entzauberung und ihre relativierende Demokratisierung hinter sich. Dass ein kritisches Prinzip - nicht eine Utopie oder Ideologie -, nämlich ein Bewusstsein der Bürgerrechte und eine Ethik des Wissens am Anfang intellektueller Politisierung stand, kann man an der Urszene repräsentativen Engagements der Intellektuellen erkennen: in der Dreyfus-Affäre. Insoweit sollte es nicht schwerfallen, der Rolle des ,totalen Intellektuellen' endgültig zu entsagen. Pierre Bourdieu, der diesen Begriff im Blick auf Jean-Paul Sartre ins Spiel brachte, visiert damit freilich auch das alteuropäische Programm universeller Bildung an: "Dieses Programm ist eine Art Mystifikation, ein Alibi wirklichen Sachverstandes." (Süddeutsche Zeitung, Nr. 89, Beilage vom 15./16. April 2000, S. 1.) Auch insofern ist dem kritischen Resümee zuzustimmen: "Als ,Spezialisten fürs Allgemeine' sollten Intellektuelle - dies die vorläufige ,Moral' der Geschichte des ,Intellektuellen-Diskurses im 20. Jahrhundert in Deutschland' - weniger einem selbstbewußten Dilettantismus frönen, als vielmehr sich auf ihre lokalen Kompetenzen besinnen." (Schlich, IX) Das bedeutet freilich auch, in kritisch-intellektuelle Distanz zu Verhältnissen in der eigenen Wissenschaft zu treten. Sich als ."Bruder des letzten Reporters" zu begreifen, lautete seinerzeit Heinrich Manns Forderung an schriftstellerische Intellektuelle. Die moderne Intellektuellenrolle entstand in der Nähe zum investigativen Journalismus.

Titelbild

Markus Joch: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2000.
483 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 382531037X

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Jutta Schlich: Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2000.
396 Seiten, 84,90 EUR.
ISBN-10: 3484640030

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Sven Hanuschek / Therese Hönigk / Christine Malende (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur um Kalten Krieg.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2000.
339 Seiten, 49,10 EUR.
ISBN-10: 3484350733

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