Der Kaufmann von Venice oder Welcome in Hollywood?

Leon de Winter im Gespräch über seinen neuen Roman "Malibu"

Von Petra KammannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Kammann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leon de Winter, Sohn niederländischer Juden, Schriftsteller seit 1976 und Filmemacher in Holland und den USA ("Der Himmel von Hollywood" mit Sönke Wortmann), wurde kürzlich für sein Lebenswerk mit dem "Welt"-Literaturpreis ausgezeichnet. Er ist auch häufig Gast der Frankfurter Buchmesse. "Super-Tex" wird derzeit von Jan Schütte verfilmt. Und gerade erschien sein neuer Roman "Malibu" im Diogenes Verlag: Ein Thriller, eine Politspionage, ein Multi-Kulti-Roman mit komischen und tragischen Zügen, der schon seit Erscheinen auf der Literatur-Bestenliste steht. Die Frankfurter Publzistin und langjährige BuchJournal-Chefredakteurin Petra Kammann traf den Autor zum Gespräch.

P.K.: Warum haben Sie Ihren neuen Roman "Malibu" genannt und nicht "Der Kaufmann von Venice"? Ihr Roman spielt in Venice, wenn auch in Kalifornien, und Ihr Held heißt Joop Koopmann. Shakespeare lässt grüßen.

L.W.: Dies war sehr lange mein Arbeitstitel, und dann hat mein Verleger mit mir den Titel "Malibu" diskutiert. Das schöne Wort "Malibu" kommt aus der indianischen Sprache. Und in Kalifornien ist Malibu der Ort, an dem die Wellen am höchsten sind. Joops 17-jährige Tochter stirbt in Malibu - immerhin ein zentrales Ereignis.

P.K.: Wann haben Sie Ihre ersten Erfahrungen mit Amerika gemacht?

L.W.: Als ich 1985 zum ersten Mal in NewYork war, war ich sehr beeindruckt, wie jeder, der das erste Mal nach NewYork kommt. Heute weiß ich, dass es die Hauptstadt von Europa ist, während Los Angeles für mich die Hauptstadt Amerikas ist - wegen der gemischten Bevölkerung und wegen der Traumfabrik. Für die amerikanische Kultur sind die Träume und Illusionen äußerst wichtig. Ab 1987 wurde ich eingeladen und wollte dort leben, jedenfalls so lange, bis unser Ältester in die Schule gehen musste. Jetzt muss ich meine Illusionen in Holland ausleben (lacht).

P.K.: Sind Sie deshalb von Amerika fasziniert, weil es ein "naives" Land - fast ohne Geschichte - ist, das von der Oberflächenwirkung lebt, wie von der Faszination des blauen kalifornischen Himmels?

L.W.: Man ist in Amerika Teil eines großen Abenteuers. Von dieser Hoffnung gibt man etwas weiter. Das hat eine große Bedeutung, auch für mich. Los Angeles ist ein gelungener Mix aus vielen Nationen, Farben und Kulturen. Jeder fühlt sich mit jedem verbunden. Nicht zuletzt durch die wunderbaren amerikanischen Mythen, die zwar alle sehr dünn und illusorisch sind, die aber funktionieren: Zum Beispiel das Volkslied, die amerikanische Flagge, Ikonen wie die Harley Davidson und diese ganzen Klischees. Sie alle sind auch wichtige Symbole der Freiheit geworden.

P.K.: Wollten Sie in Ihrem Roman eine multikulturelle Ausgangssituation schaffen?

L.W.: Ich habe Angst vor Theorien und möchte immer einen Teil der Wirklichkeit beschreiben. Ganz früher, als ich anfing zu schreiben, wollte ich immer Geschichten "außerhalb der Zeit" schreiben. Ich hatte große Angst, Orte zu benennen oder zu sagen: das spielt 1973 in Amsterdam. Dann habe ich begriffen, dass man nur etwas "außerhalb der Zeit" beschreiben kann, wenn man ganz präzise in der Zeit steht.

P.K.: Wie sind Sie denn dann ausgerechnet auf den 22. Dezember 2000 als Klammer für Ihre Geschichte gekommen?

L.W.: Das ist ganz einfach. Das war für mich ein sehr tragischer Tag, weil etwas Tragisches mit dem Leben von jemandem, den ich liebte, geschah. Der Tag, an dem das Mädchen im Roman stirbt, war für mich auch der Tag des Zusammenbruchs meiner Filmproduktionsfirma. Ich bekam einen Anruf, dass sich die Bank, die meinen Film-Betrieb finanzieren sollte, zurückzog. Dabei hatten wir selbst schon sehr viel Geld angesammelt. Da brach eine Welt für mich zusammen.

P.K.: Sie beschreiben das als Erdrutsch, geradezu physikalisch.

L.W.: Ja, es war eine schreckliche Erfahrung und hat Monate gedauert, bis ich wieder imstande war zu schlafen. Als ich dann anfing zu schreiben, brauchte ich ein Datum für den Höllentag, an dem für mich der Himmel auf die Erde stürzte. Das war für mich eben der 22.12.2000. Wir hatten drei Büros, Dutzende von Angestellten, alles war hin. "Welcome in Hollywood" sagten einige Produzenten zu mir, als das passierte. Wie zynisch!

P.K.: Hollywood als Traumfabrik hat immer schon viele Emigranten, besonders jüdische Filmemacher, angezogen. Dabei ist das jüdische Denken traditionell eher bilderfeindlich. Woran liegt das?

L.W.: Stimmt, es ist sehr un-visuell! Nach der orthodoxen Lehre darf man eigentlich nichts abbilden! Und ausgerechnet Menschen, die mit diesem Hintergrund aufgewachsen sind, mussten diese Bildersprache in Europa und Amerika erst ganz neu erlernen. Vielleicht auch, weil es noch diese große Lücke gab.

P.K.: Sind Sie selbst ein visueller Mensch? Oder fühlen Sie sich dem Film verbunden, weil es Ihr eigentlicher Wunsch ist, Geschichten zu erzählen?

L.W.: Im Grunde geht es um das Gleiche. Ich möchte Geschichten erzählen! Mit Filmen hat man andere Mittel. Das Visuelle ist natürlich sehr wichtig, ich bin auch nur imstande, eine Geschichte zu schreiben, wenn ich sie sehr klar vor mir sehe wie einen Film im Kopf. Das Schöne an der Sprache ist, dass der Leser die Bilder mit eigenen Assoziationen aufladen kann.

P.K.: Was ist anders beim Filmemachen als beim Schreiben? Und was hat Hollywood Sie gelehrt?

L.W.: Filmemachen bedeutet Teamarbeit, hat eine starke soziale Seite. Da sind die Schauspieler und eine ganze Organisation. Es ist herrlich, dazuzugehören. Und ich liebe Hollywood, weil es so vital ist. Man steht mit einer Gruppe von Leuten auf der Straße und macht Bilder. Aber man muss natürlich auch in anderer Weise Kompromisse schließen, weil man mit anderen Menschen arbeitet. Das ist für Individualisten nicht immer einfach.

P.K.: Wie schaffen Sie es denn?

L.W.: Wenn man so ein halbes Jahr oder ein Jahr alleine gearbeitet hat, hat man anschließend das ausgesprochene Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu arbeiten. Glücklicherweise konnte ich mir bislang die Arbeitsformen wählen, Obwohl Schreiben etwas Einsames ist, sondere ich mich eigentlich nicht beim Schreiben ab. Ganz anders als meine Frau, Jessica Durlacher, die auch Autorin ist. Sie braucht die Ruhe. Ich kann wunderbar mit viel Lärm und vielen Menschen um mich herum arbeiten. Ich brauche geradezu den Lärm, um nichts hören zu können. Ich hasse die Stille, wenn ich schreibe.

P.K.: Haben Sie Angst vor der Leere oder sich mit sich selbst zu beschäftigen? Auch Ihr Romanheld versucht es, allein mit dem Tod seiner Tochter klarzukommen. Aber es gelingt ihm nicht.

L.W.: Wie ist man imstande, mit den schlimmsten Katastrophen, die man überhaupt erleben kann, fertig zu werden, sie zu verarbeiten? Das ist unmöglich. Deshalb braucht Joop Hilfe von anderen Menschen, auch von einer Geschichte mit anderen Personen, etwas, das ihn aus seiner obsessiven Trauer holt.

P.K.: Sie haben ja ein Spektrum von Personen und Situationen geschaffen, die nach und nach die Geschichte selbst erzählen. Dabei treffen die unterschiedlichsten Menschen, Charaktere, Hautfarben, Religiositäten aufeinander? Manche erscheinen auf den ersten Blick unsympathisch, werden jedoch immer ambivalenter und schillernder. Und umgekehrt.

L.W.: Personen entwickeln sich immer sehr langsam. Oft dauert es Jahre, bis man eine "Ahnung" von ihnen hat. Das geht mir als Autor auch so. In "Malibu" hat alles mit dem Schrecken vor dem Tod der Tochter angefangen. Da steckt meine eigene Angst drin, weil ich selber Kinder habe. Ich habe versucht, diese Angst zu beschwören und nach einem Ritual zu suchen, wie ich einige Zeit mit dieser Angst leben kann. Seit meine Kinder geboren sind, wurde mir klar, dass damit gleich auch ein langes Abschiednehmen angefangen hat. Ganz allmählich gehen die Kinder weg. Meine Tochter ist fünf, und so wie mein Romanheld Joop bin auch ich blind verliebt in meine Tochter. Sie kann einfach alles mit mir machen. Tut sie auch (lacht). In ihren Händen bin ich ein Nichts. Aber die Angst ist da, jeden Tag. So wollte ich einfach etwas mit diesen Alpträumen anfangen.

P.K.: Die Schatten der Vergangenheit sind lang, auch die der Ängste. Verarbeiten Sie in Iheren Romanen nicht auch Ihre eigene Lebensgeschichte? Sie selbst haben Ihren Vater früh verloren. Und Sie sind ein Vertreter der zweiten Generation nach der Shoa?

L.W.: Der Schrecken des Abschieds hat mich zweifellos sehr geprägt. Meine Mutter war nie imstande, von ihrer Familie Abschied zu nehmen. Sie war eigentlich immer dabei zu verarbeiten, was man nicht verarbeiten kann. So wurde ich das Produkt meiner Mutter. Vor zwei Jahren wurde es mir auf einmal bewusst, dass eigentlich alle Geschichten und Romane, die ich schreibe, sich mit diesem Thema befassen. Jemand geht weg oder stirbt. Und wie macht man dann weiter? Wie kann man wieder zu Freude und Hoffnung zurückfinden, wieder lachen und Witze machen?

P.K.: Sie wollten also ein Ritual für Ihre Angst finden. Das spielt auch eine Rolle in "Malibu". Nach dem Tod der Tochter fehlt dem Vater ein angemessenes Ritual für die Trauer. Und ausgerechnet ein Schwarzer, der aus einem ganz anderen Kulturraum kommt, spricht das Kaddisch, das Totengebet für sie. Joop selbst ist nicht dazu in der Lage.

L.W.: Dieser Trainer aus "Gods's Gym", dieser zarte Mike Tyson, ist einfach wunderbar. Ich liebe diesen großen starken schwarzen Mann. Er ist einfach da und ist imstande, Trost zu geben. Er hilft, weil er sich schuldig fühlt. Er hat für mich etwas Rührendes, weil er versucht, etwas zu korrigieren, was wegen der Natur des Ereignisses unmöglich zu korrigieren ist. Er kann den Tod der Tochter nicht ungeschehen machen. Am Ende wird er fast göttlich. Er ist von der Idee besessen, Jude zu sein. So hilft er Joop in seiner Verlassenheit..

P.K.: Ein bisschen meschugge ist er aber auch. Sind Sie einem ähnlichen Menschen begegnet?

L.W.: Natürlich. Warum auch nicht? Jeder sollte ein bisschen meschugge leben. Ich habe ihn zunächst erfunden. Und dann begegnete mir einen solcher schwarzer Karatemeister tatsächlich in einer Sportschule in Holland. Er war Jude, weil seine Mutter Jüdin ist. In Surinam bin ich einigen solcher schwarzer Juden begegnet. Seit 100 Jahren haben sie sich dort immer wieder vermischt.

P.K.: Wir befinden uns in einem gesellschaftlichen Umbruch. Und Vernunft und Emotionalität driften immer mehr auseinander. Wollen Sie als Schriftsteller diese beiden Welten wieder zusammenzubringen?

L.W.: Die Welt ist tatsächlich so kompliziert geworden, dass wir nicht mehr imstande sind, eine Einheit zu schaffen. Alles zerbröckelt, driftet auseinander. Alle Romanfiguren versuchen, eine emotionale Einheit zu schaffen, ein Zentrum zu finden, eine Richtung, selbst der marokkanische Terrorist, eine Figur, die ich spielerisch angelegt habe. Zum Glück haben wir auch animalische Bedürfnisse. Es ist unser Schicksal, dass wir nicht nur Vernunftmenschen sind. Vielleicht sind wir ja in 100.000 Jahren nur noch Gehirn. Vielleicht wäre es ja auch nicht schlimm, wenn wir keinen Körper mehr hätten. Der Körper verschafft uns große Freude, aber zuguterletzt erfahren wir auch großes Leid durch ihn. Insofern wäre nicht übel, nur Geist zu sein,. Was dabei allerdings verschwinden würde, wären: Kunst, Musik, und die Träume, die unser Bewusstsein steuern. Und das alles finde ich sehr schön.

P.K.: Sie haben in Essays über das Problem der Grenzen der Liberalität geschrieben und aufgezeigt, warum in den Niederlanden der rechte Politiker Pim Fortuyn so erfolgreich war - und das im Land des Calvinismus und der Rationalität, das aber auch Indifferenz ausstrahlt.

L.W.: Toleranz und Indifferenz gehören fast immer zusammen. Ob das etwas Negatives ist, weiß ich nicht. Toleranz ist natürlich etwas Positives und Indifferenz etwas Negatives. Es hängt auch von den Umständen ab, wie eins dieser zwei Phänomene funktioniert. Ich spüre nur, dass im Moment in unserer Gesellschaft da etwas umschlägt. Was den Erfolg von Pim Fortuyn angeht. Es war etwas da, was er einfach benannt und definiert hat. Ich zögere, ihn rechtsradikal zu nennen. Es hat mit der großen Angst der etablierten Parteien, sich mit den Immigranten zu beschäftigen, zu tun. Es gibt keinen Platz für ethnische, religiöse Gemeinschaften. Und uns war nicht mehr klar, dass wir ein Einwanderungsland geworden sind. Amerika war das von Anfang an. Besonders Kalifornien. Deshalb liebe ich Amerika wirklich sehr. Ich sehe seine Träume, allerdings auch seine Ängste.

P.K.: Beschäftigt Sie das Verhältnis von Politik und Literatur?

Ich beschäftige mich heute mit dem European Dream. Wir Schriftsteller wollen neue Mythen schaffen. Wir untersuchen alle kleine Leidensgeschichten. Und schauen, ob es Lösungen gibt. Und wir versuchen, das Göttliche zum Leben zu erwecken - in Geschichten natürlich.

P.K.: Wollten Sie eigentlich etwas Unterhaltsames schreiben, auch wenn es um so etwas wie Tod geht?

L.W.: Jeder gute Roman ist Unterhaltung, auch jedes gute Kunstwerk, selbst dann, wenn es schwierig und komplex ist. Wenn wir nicht imstande sind, diese Faszination zu verstehen, dann geht nichts. Ich möchte das Interesse am Leben erhalten, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen.

Titelbild

Leon de Winter: Malibu. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes Verlag, Zürich 2003.
418 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3257860951

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