Die Tragödie des Antisemitismus und die katharsis ton pathematon des Aristoteles

Arnold Zweigs "Caliban oder Politik und Leidenschaft" in der Berliner Ausgabe seiner Werke

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dietz Bering hat in seiner "Geschichte eines Schimpfwortes" die Entstehung des Terminus "Intellektuelle" bekanntlich auf die Dreyfus-Affäre datiert ("Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978). Das Wort kam am Ende des 19. Jahrhunderts rasch von Frankreich nach Deutschland. Mit ihm verband (oder verbindet) man Bedeutungen wie abstrakt und instinktlos, antinational, dekadent. Vor allem aber wurde es, wie Thomas Sparr ausführlich in seinem Aufsatz "Zur Begriffsgeschichte des Intellektuellen" (in: "Die Intellektuellen und die nationale Frage, hg. von Gerd Langguth, Frankfurt am Main 1997, S. 17-30) zeigen konnte, ein Synonym für 'Juden'. Der Analogisierung von Intellektuellen und Juden arbeitet um die Jahrhundertwende eine semantische Schwäche im Konzept des 'Juden', des 'Jüdischen' entgegen, Begriffe, die ganz Unterschiedliches bezeichnen konnten, deren Konnotationen willkürlich wurden. Dreyfus wird in der Geschichte der jüdischen Selbstinterpretation seit der Jahrhundertwende zu einem der wesentlichen Bezugspunkte: Dreyfus war das Modell, nach dem man das Bild des modernen Juden schuf, als Fremdbild wie als Selbstbild. Die Geschichte der Dreyfus-Rezeption lässt sich als eine Geschichte der Selbstdeutungen von Juden in Deutschland lesen: etwa als tief verstecktes Modell einer jüdischen Grunderfahrung in Walter Benjamins "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" oder als verborgene Tradition einer Kunstfigur des Paria bei Hannah Arendt. Immer wieder begegnet in diesem Zusammenhang die Vorstellung von einem 'dejudaisierten Judentum'. Diesen Begriff prägte der holländische Schriftsteller und Literaturhistoriker Siegfried J. van Praag 1937 in seiner "Revue Juive de Genève", der Marcel Proust als "Témoin du Judaisme dejudaisé" darstellte. Der Begriff eines 'dejudaisierten' Judentums erscheint paradox, weil das Attribut das Substantiv zurücknimmt, etwas logisch Unhaltbares formuliert, das jedoch seine Berechtigung hat. Proust schildert ein Judentum, das nicht weiß, was sein Judentum ausmacht.

Zu diesem 'dejudaisierten Judentum' stehen jene jüdischen Intellektuellen in schärfstem Gegensatz, die sich zuerst bürgerlich-aufgeklärten und linksliberalen, später sozialistischen oder linkszionistischen Gruppen angeschlossen haben. Meist ging es ihnen darum, sich vom 'Makel' ihrer Herkunft zu befreien und sich zugleich in den Dienst einer über ihr Judentum hinausgehenden Ideologie zu stellen. Diese Haltung eines sozialistischen Engagements führte entweder zu einer völligen Negierung des Jüdischen wie bei Georg Lukács, Otto Heller und Alfred Kantorowicz, zur Propagierung einer Beibehaltung der jüdischen "Gruppeneigenart" im Sinne Arnold Zweigs, die man erst dann aufgeben könne, wenn die völlige Gleichstellung aller Menschen im Rahmen einer nachkapitalistischen Gesellschaft erreicht worden sei, oder zur Formulierung einer dezidiert zionistischen Position, die bis 1933 in Deutschland lange Zeit nur von einer verschwindend kleinen Minderheit vertreten wurde. Ab 1933 wurde die zionistische Haltung, angesichts der im Nationalsozialismus offenkundig werdenden Unmöglichkeit einer deutsch-jüdischen Symbiose zur attraktiven Möglichkeit, mit der Skepsis gegenüber assimilatorischen Modellen schon immer Recht gehabt zu haben. So verwundert es auch nicht, dass der Name Dreyfus in zionistischen Konzepten eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Arnold Zweig etwa sieht in seinem Buch "Caliban oder Politik und Leidenschaft" eine ursächliche Beziehung zwischen dem politischen Zionismus, der "Reorganisation des Jüdischen im Juden", der "vorletzte[n] Phase des aktuellen europäischen Nationalismus", dem latenten Antisemitismus weiter Bevölkerungsteile in Deutschland und Österreich und dem Dreyfus-Prozess, ohne den "sein Begründer Theodor Herzl [...] immer ein Wiener Feuilletonist und ein verborgner Privatmann geblieben wäre".

Arnold Zweig war sich der prekären Ambivalenz seiner Bewunderung für die deutsche Kulturtradition auf der einen sowie seiner jüdischen Außenseiterrolle auf der anderen Seite nicht erst im Jahr 1933 bewusst. Im Gegenteil: Er hat zeit seines Lebens immer wieder nach integrationistischen Konzepten gesucht, mit denen sich diese beiden Pole seiner Existenz auf einen Nenner bringen ließen. Aus diesem ambivalenten Denken ergaben sich für Zweig mitunter erhebliche Probleme, die ihn ständig vor neue Entscheidungen stellten, in neue Krisen verstrickten und dafür sorgten, dass er sich nie mit konkreten nationalistischen, religiösen oder ästhetischen Einseitigkeiten zufrieden gab. Den traditionellen Bindungen früh entfremdet, hat er sein Judentum dennoch nicht zugunsten einer kritiklosen Verinnerlichung der deutschen Kultur verleugnet. Dafür ist auch der Beginn des Ersten Weltkriegs mitverantwortlich, der Zweig als zionistisch gesinnten Juden, deutschen Bildungsbürger und angehenden Schriftsteller mit Fragen konfrontierte, auf die er weitgehend unvorbereitet war. Obwohl er sich in den Jahren zwischen 1910 und 1914 mehrfach für eine stärkere Berücksichtigung jüdischer Elemente im deutschen Kulturleben eingesetzt hatte, waren solche Überlegungen doch insgesamt weitgehend abstrakt geblieben. Nach anfänglicher Begeisterung für den Krieg als Kulturmission, die Zweig mit vielen bildungsbürgerlichen Intellektuellen teilte, trat der Gesinnungsumschwung recht schnell ein. Einer der auslösenden Faktoren hierfür war jene von Zweig als höchst diffamierend empfundene "Judenzählung" innerhalb der Armee, die das Preußische Kriegsministerium 1916 anordnete. Ihren literarischen Niederschlag fand diese Maßnahme zunächst in seiner alptraumartigen Geschichte "Judenzählung vor Verdun", die er im November 1916 in der "Jüdischen Rundschau" publizierte. Präzisere Formen nahm diese Selbstkritik an, als Zweig 1917 erstmals mit der Welt des Ostjudentums in Berührung kam, die er als Kind und junger Mann in Oberschlesien nur am Rande kennen gelernt hatte. In mehreren Beiträgen für Martin Bubers Zeitschrift "Der Jude" forderte Zweig hier, fern aller jüdischen Orthodoxie und sich lediglich zu einer "atheistischen Religiosität" bekennend, eine gesamtjüdische Solidarität und klagte in aller Offenheit darüber, dass an sämtlichen Fronten "Juden gegen Juden kämpfen" müssten. In seinen Briefen an Buber aus der gleichen Zeit wies Zweig wiederholt auf den abgründigen "Antisemitismus" im deutschen Heer hin und bezeichnete sich voller Abscheu vor solchen Phänomenen als einen "staatenlosen Ausländer", der nicht länger gewillt sei, sich zu deutscher Kultur zu bekennen.

Doch Zweigs Zerrissenheit ging tiefer: Er war Zionist, trug sich früh mit Auswanderungsplänen, doch stellte er seine nationaljüdischen Interessen nicht über das universalistische Ethos des Judentums. Er war ein dem abendländischen Humanismus verpflichteter Weltbürger und hat doch in seinem Buch "Das ostjüdische Antlitz" (1920) die Würde des geschmähten Ostjudentums ohne Sentimentalität beschworen. Er war primär von der bürgerlichen deutschen Kultur geprägt, bemühte sich jedoch um eine ideologische Synthese aus deutschem Kulturhumanismus, einem Sozialismus der "ostjüdischen Jugendbewegung", als dessen Leitbilder er vor allem Franz Oppenheimer, Gustav Landauer und Martin Buber ausmachte, und einem eher linksorientierten Zionismus. In dieser Synthese stand die "jüdische" Komponente für Zweig eine Zeitlang durchaus im Vordergrund, wofür seine vielen Beiträge in Zeitschriften wie "Der Jude", "Freie zionistische Blätter", "Die jüdische Rundschau", "Der neue Orient" sprechen, in denen er vor allem Themen wie das Ostjudentum, die Palästinafrage sowie den zeitgenössischen Antisemitismus aufgriff. Großes Aufsehen erregte in dieser Hinsicht schon Zweigs Aufsatz "Die antisemitische Welle", der 1919 in drei Folgen in der "Weltbühne" erschien und in dem er behauptete, dass es unter den "deutschen Proletariern" wie auch unter den "deutschen Linksparteien" keinen wirklichen Antisemitismus gebe, sondern dass dieser weitgehend ein mittelständisches Phänomen sei. Vor allem die Kleinbürger, die in den Juden eine "dreckige Schleuderkonkurrenz" sähen, griffen begierig zu den von "Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Theodor Fritsch und Adolf Bartels" aufgestellten Diffamierungen einer goldenen und roten jüdischen Internationale, die sich dem Gedanken der "Weltherrschaft" verschworen habe, ja versuchten, den Juden sogar die Schuld an dem verlorenen Krieg in die Schuhe zu schieben. Zudem habe das deutsche Kleinbürgertum in den Juden einen wehrlosen Feind entdeckt, den sie für alle ihm bedrohlichen Erscheinungen - für die Macht des Kapitals wie für den revolutionären Sozialismus, für Presse und "zersetzende" Literatur - verantwortlich mache. Diesen Schuldzuweisungen setzte Zweig am Schluss die idealistisch postulierte Hoffnung auf eine fortschreitende "Symbiose" der jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen entgegen, um so zu einer weiteren "Entgiftung" der Atmosphäre beizutragen.

Noch grundsätzlicher ging Zweig auf diese Fragen in seiner Aufsatzserie "Der heutige Antisemitismus" ein, die 1920/21 in der Zeitschrift "Der Jude" erschien. Ganze Abschnitte dieser Reihe wurden in Zweigs Buch "Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus" aufgenommen, das im Mai 1927 im Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam, erschien und für den Zeitraum der Weimarer Republik die umfassendste Dokumentation sowohl der Lebenserfahrung Zweigs als auch seiner geistigen und politischen Orientierung nach dem Ersten Weltkrieg darstellt. In ihm beschäftigte sich Zweig - in Anlehnung an Sigmund Freud - vor allem mit den massenpsychologischen Aspekten des Antisemitismus, den er mit einem höchst eindrucksvollen Aufgebot kulturgeschichtlicher Details aus einem atavistischen "Gruppenhaß", einem Zusammenspiel verschiedener "Zentralitäts-, Abstoßungs- und Differenzaffekte" abzuleiten versuchte. Während Zweig seinen Artikel in der "Weltbühne" - vermutlich im Hinblick auf die Leser dieser Zeitschrift - noch mit der Hoffnung auf eine künftige "deutsch-jüdische Symbiose" beschlossen hatte, nahm er in der Aufsatzreihe für Bubers Zeitschrift eher Zionisten in den Blick und bot seinen Lesern zwei andere Zukunftsperspektiven an: entweder sich innerhalb Deutschlands auf ihr "jüdisches Sein" zu besinnen oder nach Palästina "auszuwandern" und sich dort "mit den Arabern auf autonomer Ebene" über ein friedliches Zusammenleben zu einigen.

Im zweiten Hauptteil der Aufsatzreihe, der später zum 2. und 3. Buch von "Caliban" umgearbeitet wurde, entfaltete Zweig jene These, die er im Nachhinein für seine originellste Leistung im Bereich der politischen Psychologie hielt. Er behauptete, dass man mit individualpsychologischen Vorstellungen wie "Haß" und "Verachtung", die durchaus berechtigte Bestandteile im psychischen Leben des Einzelmenschen sein mochten, dem Antisemitismus nicht beikomme. Dieser sei vielmehr aus der abstoßenden Wirkung eines (biologisch bedingten) "Differenzaffekts" von Gruppe zu Gruppe zu verstehen. In dieser Akzentuierung der biologischen Grundlage des Antisemitismus lässt sich sowohl in der Aufsatzsammlung von 1920/21 als auch im Text von 1927 ein Doppelzweck erkennen: Auf der einen Seite beabsichtigt Zweig, gerade im Hinblick auf die Juden Deutschlands die Auslebung der Eigenart zu legitimieren, auf der anderen Seite will er durch die Parallelisierung von Individuum und Gruppe die Aussicht auf eine therapeutische Lenkung von Gruppenaffekten offen halten. Zweig reagierte damit auf eine Akzentverschiebung in der Vorstellung des Antisemitismus. Unterlag dieser um die Jahrhundertwende vornehmlich einer rassistisch orientierten intellektuellen Richtung, so sah sich Zweig 1920 mit einem massenpolitischen Phänomen konfrontiert, das offenkundig aus den aufgereizten Feindseligkeiten der Kriegsjahre hervorgegangen war. Er verband diese Analyse mit der Darstellung der aktuellen Wirklichkeit jüdischen Lebens. Seine schärfste Kritik galt einer gesellschaftlichen und politischen Situation, in der die Juden weder als Volk anerkannt wurden noch sich selber als Volk erkannten. Seinem Furor über die fehlende nationale Solidarität unter Juden - besonders im Hinblick auf die massive Bedrohung der osteuropäischen Juden seit Kriegsende - gab er genauso Ausdruck wie seiner Entrüstung über die Diffamierung des Judentums durch deutsche Nationalisten.

Bei der Ausarbeitung und Ergänzung des Textes im Jahr 1926 hat Zweig alle wesentlichen Aspekte seiner Thematik ausführlicher behandelt und die Theorie der Gruppenaffekte (in den neu hinzugefügten Abschnitten 4 und 5 im 2. Buch, sowie im 6. Buch von "Caliban") deutlicher zu begründen versucht. So ging er intensiver sowohl auf die psychologischen als auch auf die historischen Dimensionen des antijüdischen Verhaltens ein und entwickelte seine, auch für spätere Schriften wesentlichen Gedanken über den Zionismus als jüdische Renaissance sowie über die Psychoanalyse Freudscher Prägung als Instrument der Selbstheilung für das zerrissene und an Minderwertigkeitsgefühlen leidende Judentum. Im deutlichen Unterschied zur Aufsatzserie von 1920/21 weitete Zweig in "Caliban" sowohl die historischen als auch die politischen Perspektiven seiner Abhandlung aus, indem er den Antisemitismus als eine bestimmte Abart des politischen Differenzaffekts, genauer: des Nationalismus, besprach. In "Caliban" geht es Zweig nun zum einen darum, das Einzigartige an jüdischen kulturellen Werten hervorzuheben und die Vorurteile gegen Juden als historisch bedingt darzustellen, zum anderen will er den Antisemitismus als Spielart eines universellen menschlichen Hangs zu Abgrenzung und Selbstüberschätzung verstanden wissen. Darüber hinaus deutet er den modernen Antisemitismus unter dem Gesichtspunkt nationaler Identitätsgefühle, die sich zwischen Inklusion und Exklusion des Fremden bewegen.

Nach Zweig erzeugen die Grenzziehung zwischen 'innen' und 'außen' (nicht-jüdischen Deutschen und jüdischen Deutschen) und die Positionierung des jeweils Zugehörigen bzw. Nicht-Zugehörigen im entsprechenden Paradigma die Vorstellung, das Chaos zu bändigen, und die Illusion, durch die Ausgrenzung des Anderen nicht nur Symmetrie zwischen den Paradigmata, sondern vor allem Eindeutigkeit, Identität innerhalb dieser herzustellen. Antisemitismus und die ihm inhärente Vernichtung des Nicht-Identischen erscheint in diesem Sinne als eine Folge der 'Identitätslogik' modernen Denkens und Handelns. Die Eliminierung alles Differenten, Ambivalenten, Unzuordenbaren, sich diesem Ordnungssystem Widersetzenden ergibt sich als logische Folge aus dem Identitätsbegehren der Moderne. In der dem modernen Denken adäquaten Gesellschaftsordnung, dem nach Einheit und Ganzheit strebenden modernen Nationalstaat, stellt die Gruppe der Juden die letzte Inkongruenz dar, die es aufzuheben gilt. Zweig veranschaulicht, dass sich diese weder völlig außerhalb noch völlig innerhalb stehende Gruppe in das Konzept des modernen Nationalstaates, das die Idee der innereuropäischen Solidarisierung der herrschenden Klassen zugunsten der Herstellung in sich hierarchisierter homogener Entitäten, die sich nach außen abgrenzen, ablöst, nur schwer integrieren lässt. Ferner unterstreicht Zweig, dass vor allem der Nationalstaat gänzlich ungeeignet ist, Fremdes zu assimilieren. Stattdessen habe die im Zuge der Emanzipation der Juden geweckte Hoffnung auf soziale Integration in die nichtjüdische Gesellschaft einen Prozess der Desintegration in Gang gesetzt. Denn Emanzipation, die nur unter der Bedingung der Assimilation denkbar ist, erfordere mehr als lediglich eine weitgehende Anpassung an die Zielgemeinschaft, sie gehe vielmehr mit dem Aufgeben der eigenen Identität einher. Da in der Praxis des Assimilationsprozesses jedoch der Verlust der konsistenten Identität nicht durch soziale Integration kompensiert wird, bedeutet der Eintritt in die moderne Welt, wie Zweig umsichtig erkennt, doppelte Entfremdung. Aus dem fest gefügten territorialen Ghetto treten die assimilierungswilligen Juden in die soziale Inkongruenz. Ihre 'Dejudaisierung' entfremdet sie der jüdischen Gemeinschaft und aufgrund des Stigmas ihrer Herkunft gelten sie auch der nichtjüdischen Gesellschaft als Fremde. Das absehbare Scheitern der Assimilation einerseits sowie die fortgesetzte Konfrontation mit dem Fremden (in Form der jüdischen Migranten aus dem Osten) andererseits produzieren eine Krise der Signifikanten, die es für Zweig zu überwinden gilt.

David R. Midgley weist in seinem kenntnisreichen Nachwort zur Neuedition von "Caliban" im Rahmen der Berliner Ausgabe der Schriften Zweigs detailliert nach, in welchem Sinne sich die intellektuelle Orientierung des Textes zwischen 1920 und 1926 geändert hat. Die an Nietzsche, an Max Scheler, am Vitalismus und an der Psychoanalyse orientierten Ansätze, die Zweig für "Caliban" fruchtbar macht, weisen auf eine geisteskulturelle Grundlage hin, die sich in den 1920er Jahren im Umbruch befindet. Während sich Zweig in der Aufsatzserie von 1920/21 noch weitgehend auf Schelers Schriften "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" (1912) und "Abhandlungen und Aufsätze" (1915) sowie auf Werner Sombarts Buch "Die Juden und das Wirtschaftsleben" (1911) stützt, spielen diese Texte in der Neubearbeitung wenige Jahre später keine Rolle mehr. Stattdessen haben Zweigs psychologische Überlegungen sowohl zum Thema Antisemitismus als auch seine persönlichen Erfahrungen dazu geführt, dass er Mitte der 1920er Jahre in der Freudschen Psychoanalyse den Schlüssel zu einem allgemeinen Verständnis des menschlichen Verhaltens sah, wie der mehrfache Rekurs auf Freud in "Caliban" verdeutlicht. Im Zusammenhang mit Zweigs Bestreben, Freud das Buch widmen zu dürfen, begann der umfangreiche Briefwechsel, in dem Zweig bis zu Freuds Tod für seine späteren Texte wichtige Gedanken mit ihm erörterte. Midgley unterstreicht aber völlig zu Recht, dass die eigentümlichen gruppenpsychoanalytischen Ansichten, die Zweig in "Caliban" darlegt, mit Freuds Ausführungen zum Thema Massenpsychologie, wie dieser sie etwa in "Massenpsychologie und Ich-Analyse" von 1921 entfaltet, nur wenig zu tun haben. Es ist immerhin bemerkenswert, dass sich Freud selbst (im Gegensatz zu dem Gros der Rezensenten, die Zweigs enge Verbindung zur Freudschen Psychoanalyse betont haben) jeder öffentlichen Stellungnahme zu "Caliban" enthielt. Nachdem Zweig am 18. März 1927 den ersten brieflichen Kontakt zu Freud aufgenommen und dieser den Empfang des Buches am 2. Juni bestätigt hatte, schrieb Freud erst am 2. Dezember wieder an Zweig, um sich für die Übersendung des Romans "Der Streit um den Sergeanten Grischa", der ebenso wie "Caliban" 1927 publiziert wurde, zu bedanken. Er erklärte im selben Brief, dass er "Caliban" in den Sommerferien "mit großer Teilnahme, Alternativen von warmer Zustimmung und kritischem Stillhalten" gelesen hatte und fuhr fort: "Im ganzen lag das, was mich an dem Buche gestört hat, gewiß an mir. In der Frage des Antisemitismus habe ich wenig Lust, Erklärungen zu suchen, verspüre eine starke Neigung, mich meinen Affekten zu überlassen, und fühle mich in der ganzen unwissenschaftlichen Einstellung bestärkt, daß die Menschen so durchschnittlich und im großen ganzen doch elendes Gesindel sind."

Im Anhang dieser Edition werden neben weiteren, sehr aussagekräftigen Rezeptionszeugnissen auch mehrere Vorwortentwürfe aus den sechziger Jahren vorgestellt, die von Zweigs Bemühen zeugen, seinen Text erneut und durch erweiterte soziologische Perspektiven bereichert zu veröffentlichen. Diese zum Teil mehrfach überarbeiteten Einleitungen lassen sich als Selbstinterpretationen aus der Zeit des Kalten Krieges lesen, zumal sie Überlegungen zur erneuten Aktualität des Themas Antisemitismus enthalten. Zu einer Umarbeitung des Textes kam es nach 1945 trotz mehrfacher Anläufe jedoch nicht. Die Hoffnung Zweigs, man möge in "Caliban" "trotz der scharfsinnigen Fehlanalysen seines Verfassers die Infusorien und Keime studieren, die unter dem Mikroskop unserer Erfahrungen sich seit dem Ende des zweiten Weltkriegs enthüllten", haben sich nicht genauso wenig erfüllt, wie die mit viel Emphase am Ende der Vorwortskizzen aus dem Jahre 1960 vorgetragene politische Utopie: "Daß die Verwandlung unserer Gesellschaft in eine mehr oder weniger sozialistische Welt auch zur Reinigung unserer Gruppenaffekte beitragen wird, wagen wir nicht nur zu hoffen - wir arbeiten daran. So kann die Tragödie, welche sich hinter dem Antisemitismus und der Kriegsfreude unserer bürgerlichen Gesellschaft verbirgt, zur Katharsis hepatematon des Aristoteles führen, noch in unserem zwanzigsten Jahrhundert. Dann werden seine Ströme von Blut und Tränen nicht vergeblich ins Meer der Vergangenheit hinabgeströmt sein, und unsere Kinder und Enkel werden uns betrachten, uns Davongekommene, wie jenen Reiter über den Bodensee, der nicht wußte, daß zwischen ihm und dem Abgrund nur das gefrorene Eis eines strengen Winters lag." Die starken Bedenken, die Zweig in der Zeit nach 1945 gegenüber der politischen und geistigen Orientierung seines Textes äußerte, führten zu keiner Neufassung des Textes selbst. Dennoch enthalten auch die Vorwortentwürfe manche kleine Trouvaille, etwa wenn bereits knapp 30 Jahre vor den Aufsehen erregenden Thesen Daniel Jonah Goldhagens in seinem Buch "Hitler's Willing Executioners" (1996) bei Zweig von "Millionen deutscher Mitläufer" die Rede ist, die sich "als willige Werkzeuge [Hitlers] dar[boten]".

Als historisches Dokument ist der Text von 1927, da ist David R. Midgley zuzustimmen, auch heute noch mit einigem Gewinn lesbar, dokumentiert er doch sehr anschaulich den Übergang in der intellektuellen Wahrnehmung des Antisemitismus in Deutschland, für den die politischen Entwicklungen der Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs von einschneidender Bedeutung waren. In dieser Zeit löst sich der Antisemitismus als Phänomen der Moderne aus seinem pseudowissenschaftlichen Kontext und erscheint als massenpolitisches Phänomen, das auch nicht vor Gewalttaten zurückschreckt. Vor allem ist das Buch ein wichtiges Beispiel für die intellektuelle Auseinandersetzung mit der ambivalenten Lebenssituation der Juden im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts. Damit schreibt sich Zweig in einen Diskurs ein, an dem sich viele jüdische Intellektuelle der Zeit beteiligen, indem sie der Frage nachgingen, wie sich eine spezifisch jüdische Identität bei gleichzeitiger Verwurzelung in der deutschen Kultur unter den gegebenen historischen Verhältnissen etablieren ließe. Zugleich lassen sich auch Berührungspunkte zu Zweigs späterem Essay "Die Bilanz der deutschen Judenheit" (1934) finden, in dem er der deutschen Gesellschaft noch einmal vor Augen zu halten suchte, was mit der Machtergreifung des NS-Regimes zerstört worden war. Dabei ging es Zweig nicht nur darum, die psychologischen Abläufe der Diskriminierung, wie in "Caliban", und den Kollaps der Weimarer Republik nachzuzeichnen, sondern in erster Linie sollte der Beitrag des Judentums in allen Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur Deutschlands noch einmal gewürdigt werden. Über sich selbst schreibt Zweig in diesem Text, er habe in zahlreichen Publikationen versucht, "seine Haltung als bewußter Jude und Zionist, europäischer Geistiger und deutscher Dichter klar zu legen und zu vereinheitlichen".

Zweig war Sozialist, Marxist, Freudianer, Zionist, doch vor allem Humanist, der sich seiner wechselseitigen Verankerung in deutscher und jüdischer Tradition immer bewusst blieb. Gleichzeitig aber ahnte er, dass sich das Universalisierungsprojekt der Moderne am Beispiel der Juden als gescheitert erwies, hatte doch der Akkulturationsprozess die Juden nicht als gleichwertige Mitglieder in die nichtjüdische Gesellschaft eingegliedert. Die Hoffnung Zweigs, sein eigenes Judentum und die bürgerlich-humanistische Kultur nicht nur als antinomischen Widerspruch, sondern auch als dialektisches Wechselspiel zu betrachten, erwies sich als fataler Irrtum. Keiner hat dies treffender dargelegt als Gershom Scholem in seinen berühmten Gedanken "Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch", wo es heißt: "Dem unendlichen Rausch der jüdischen Begeisterung hat nie ein Ton entsprochen, der in irgendeiner Beziehung zu einer produktiven Antwort an die Juden als Juden gestanden hätte, das heißt der sie auf das angesprochen hätte, was sie als Juden zu geben, und nicht auf das, was sie als Juden aufzugeben hätten. [...] Die angeblich unzerstörbare geistige Gemeinschaft des deutschen Wesens mit dem jüdischen Wesen hat, solange diese beiden Wesen realiter miteinander gewohnt haben, immer nur vom Chorus der jüdischen Stimmen her bestanden und war, auf der Ebene historischer Realität, niemals etwas anderes als eine Fiktion [...]."

Titelbild

Arnold Zweig: Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus. Berliner Ausgabe.
Herausgegeben von Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit Julia Bernhard.
Aufbau Verlag, Berlin 2000.
480 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3351034210

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