Heideggers jüdisches 'Kind' und das "Prinzip Verantwortung"

Zum 100. Geburtstag von Hans Jonas

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach der Existenz und dem Wesen der "jüdischen" Philosophie, die zum ersten Mal von Vertretern der deutschen Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert aufgeworfen wurde, verweist unmissverständlich auf einen anderen, damit jedoch unmittelbar verbundenen Aspekt: den des jüdischen Selbstverständnisses. Man kann dies noch schärfer formulieren: Je mehr der jüdische Zugang zur Philosophie hervorgehoben bzw. verneint wird und die Thematisierung des Objektes in den Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion tritt, desto radikaler stellt sich die Frage nach Bestand, Wesen und Identität der jüdischen im Verhältnis zur allgemeinen Kultur. Es war wohl gerade die Wahrnehmung dieses dialektischen Verhältnisses zwischen dem Allgemeinen, in das jede Erfahrung der Wirklichkeit zumindest als Voraussetzung der menschlichen Kommunikation einfließt, und dem Besonderen, das die Identität des Individuums ausmacht, die dazu geführt hat, dass einige als spezifisch angesehene Sektoren der jüdischen Geistesgeschichte (wie z.B. die jüdische Mystik) als Bestandteil des philosophischen Diskurses betrachtet wurden. Für Hans Jonas, einem der bedeutendsten Denker aus dem Kreis jener, die sich im deutsch-jüdischen Milieu vor der Zeit des Nationalsozialismus der Philosophie verschrieben hatten, ist diese Frage auf den ersten Blick eindeutig zu beantworten. Weder entsprach es seinem Selbstverständnis, sich als jüdischer Philosoph rubrizieren zu lassen noch hat sich sein umfangreiches Textcorpus der religionsphilosophischen Deutung des Judentums angenommen. Statt dessen war Jonas überzeugt, sein wichtigstes intellektuelles Anliegen, die Formulierung einer Ethik globaler Verantwortung des Menschen für das Leben, ohne Rekurs auf theologische Kategorien zwingend und universal begründen zu können. Gleichwohl ist zu beobachten, dass Jonas' Denkweg vom deutschen Existenzialismus über eine naturalistische Philosophie des Organischen und eine wirkmächtigen Ethik globaler ökologischer Verantwortung bis hin zu einer Deutung der conditio humana nach Auschwitz durchzogen ist von einem spannungsvollen Wechselspiel von jüdischer Identität und universalem philosophischem Anspruch.

In mehreren Selbstreflexionen seiner deutsch-jüdischen Lebensgeschichte und seiner Verwurzelung im Judentum hat Jonas selbst diese Dialektik nachgezeichnet. In einem Interview mit Herlinde Koelbl bekannte er, eine gewisse Distanz zu traditionellen, an den Geboten der Tora orientierten Formen jüdischen Glaubens und Lebens zu haben, betonte jedoch, er habe zum "Wesensgehalt der jüdischen Überlieferung [...] zeitlebens ein bejahendes Verhältnis bewahrt" und sich insbesondere vom "biblischen Wort" stets angesprochen gefühlt. Über das Religiöse hinaus empfand Jonas die Tradition des Judentums, die "mit so viel Hartnäckigkeit und Leiden von Generation zu Generation durch Jahrtausende fortgetragen" worden sei, als persönlich und intellektuell bindend: "Das ist ein Schicksalsbund, eine Zugehörigkeit, die man nicht willkürlich auflösen kann. Man darf die Kette nicht abreißen lassen. Es hat doch etwas Besonderes auf sich mit den Juden. Es ist doch eine rätselhafte Sache, daß wir da sind und den Monotheismus in die Welt gebracht haben, seine Zeugen gewesen sind und seine Träger und fortwährend daran gearbeitet haben - unsere bedeutenden Geister und auch die unbedeutenden. Keine einzelne Generation hat das Recht, eine solche Kette einfachen abreißen zu lassen. Keine. Nein." Die besondere Herausforderung für Jonas' Denkentwurf liegt in der "permanenten Spannung" zwischen seinem Bezug auf die jüdische Tradition, in den seine lebenslange Auseinandersetzung mit der traumatischen Erfahrung der Shoah eingeschlossen ist, und seinen philosophisch-ethischen Ansätzen: "Der Philosoph muß sein eigentliches Geschäft, das Denken, völlig frei von solchen Bindungen und ererbten Voraussetzungen verrichten. Er ist dem Denken allein verpflichtet. Philosophie muß in der Methode 'atheistisch' sein. Das heißt nicht, dogmatisch zu behaupten 'Es gibt keinen Gott'. Aber es heißt, sich nichts vom Glauben darüber sagen zu lassen. Daß man zusammen Philosoph und Jude ist - darin liegt eine gewisse Spannung, das ist keine Frage." Dieses offenkundig klar zwischen jüdischer Identität und philosophischem Denken trennende Bekenntnis zum 'Atheismus der Methode', mit dem sich Jonas gegen den Verdacht wehrt, er habe sich seine philosophische Neigung "zu einer Metaphysik mit eher theistischer Vermutung" von seinen "jüdischen Voraussetzungen [...] einflüstern lassen" scheint die in der Forschung vielfach verhandelte Ansicht zu verifizieren, Jonas habe seiner ethischen Theorie der Verantwortung erst in einer späteren Phase seines Denkens eine (jüdisch-) theologische Dimension "hinzugefügt", wie etwa Vittorio Hösle nicht müde wird zu behaupten.

Die nun zu Jonas' 100. Geburtstag publizierten "Erinnerungen" des Philosophen, die auf mitgeschnittenen Gesprächen mit Rachel Salamander und Stephan Sattler beruhen und von einem hervorragenden Nachwort des Erfurter Judaisten Christian Wiese begleitet werden, lassen an dieser monolithischen Forschungsposition ernsthafte Zweifel aufkommen. Vielmehr werden nun deutliche Anzeichen erkennbar, dass sich, wie Christian Wiese zu Recht hervorhebt, "hinter der Spannung, 'zusammen Philosoph und Jude' zu sein, ein weit differenzierteres Wechselspiel dieser beiden Pole des Selbstverständnisses von Hans Jonas verbirgt, das es gestattet, den jüdischen Identitäts- und Überlieferungselementen seines Werkes stärkeres Gewicht zu verleihen." Die Entwicklung und intellektuelle Zielrichtung seines Denkens mit ihren Brüchen und ihrer dennoch konstatierbaren Kontinuität, die sich nach Wiese "am zentralen Motiv der Verantwortung des Menschen für die als göttliche 'Schöpfung' verstandene Welt" festmachen lässt, ist ohne den Kontext jüdischer Erfahrungen im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ohne Jonas' dezidierte Auseinandersetzung mit dem 'Zivilisationsbruch' (Dan Diner) der Shoah nicht zu verstehen. Bereits die äußeren Daten führen einem das deutsch-jüdische 20. Jahrhundert in einem Schnelldurchlauf vor Augen: 1903 wird Jonas in eine jüdisch-großbürgerliche Familie hineingeboren. Sein Studium der Philosophie begann er in Freiburg bei Edmund Husserl, setzte es in Berlin (u.a. an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums) und Heidelberg fort und beendete es 1928 in Marburg bei Martin Heidegger und dem Neutestamentler Rudolf Bultmann mit einer Promotion über den "Begriff der Gnosis". In dieser Zeit kam Jonas mit der zionistischen Studentenbewegung in Berührung. Wesentlich beeinflusst von Martin Bubers Plädoyer für die Renaissance der geistigen und ethischen Werte der jüdischen Tradition in seinen "Drei Reden über das Judentum", begeisterte er sich nicht nur für die Vorstellung, sich in Palästina anzusiedeln, sondern verstärkte auch seine Bemühungen, sich die hebräische Sprache und die Grundlagen der jüdischen Überlieferung anzueignen.

1933 emigrierte Jonas dann nach England, noch bevor sein Frühwerk "Gnosis und spätantiker Geist" in Deutschland bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschien, mit dem er sich in der Forschung einen Namen als herausragender Interpret dieses eigentümlichen religionswissenschaftlichen Phänomens machte. 1935 ging er nach Palästina, wo er für kurze Zeit an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrte. In Jerusalem verkehrte Jonas in dem deutsch-jüdischen Intellektuellenkreis um Gershom Scholem und Hugo Bergmann, gehörte der Brit-Schalom-Bewegung an, die sich angesichts der zunehmenden Konflikte mit der arabischen Bevölkerung für eine friedliche Koexistenz einsetzte, wurde allerdings auch bereits 1936 aktives Mitglied der jüdischen Selbstverteidigungsmiliz und rechtszionistischen Haganah. In einem im September 1939 entworfenen Aufruf unter dem Titel "Unsere Teilnahme an diesem Kriege. Ein Wort an jüdische Männer", der seine tiefe Verletzung durch die Entwürdigung des deutschen Judentums durch gesellschaftliche Entrechtung und Terror zur Sprache bringt, fordert Jonas einen neuen "bellum Judaicum", der im Gegensatz zum römischen Pendant "nicht ein Krieg der Katastrophe, sondern ein Krieg unserer Rettung aus der jüdischen Katastrophe, nicht Juda gegen die Welt, sondern Juda mit der Welt gegen den Weltfeind" sein sollte. Während des Zweiten Weltkriegs diente Jonas in der Britischen Armee, um nach dem Krieg in seinen Geburtsort Mönchengladbach zurückzukehren, wo er von der Ermordung seiner Mutter in Auschwitz (der Vater war bereits 1938 an Krebs gestorben) erfährt. Die intellektuelle Konfrontation des tief in der europäischen Kulturtradition verwurzelten Juden mit der in der Shoah gipfelnden nationalsozialistischen Preisgabe alles Menschlichen bestimmt - wie dies für viele jüdische Intellektuelle gilt, die den Genozid überlebt haben - auch Jonas' gesamtes Denken seit 1945. 1948 lehrte er für kurze Zeit erneut in Jerusalem, bis 1949 ein neues Leben beginnt, das ihn und seine junge Familie 1949 nach Kanada führt, wo er bis 1954 als Professor für Philosophie in Montreal und Ottawa dozierte. Angebotene Lehrstühle in Jerusalem, Kiel und Marburg schlägt Jonas aus, um schließlich von 1955 bis zu seiner Emeritierung 1976 in New York als viel geehrter Professor an der New School for Social Research zu arbeiten. Kurz vor Vollendung seines neunzigsten Lebensjahres verstarb Hans Jonas 1993 in New York.

1979 erschien Jonas' "Tractatus technologico-ethicus", wie er sein akademisches (Haupt-) Werk über das "Prinzip Verantwortung" auch nannte. Ein Paukenschlag war die These, dass die klassische Ethik der Technologie nichts entgegenzusetzen habe, ein Axiom, mit dem Jonas die westeuropäischen Gesellschaften mitten ins Herz traf. Jonas' Heuristik sieht keine radikale Neuorganisation der Gesellschaft vor, sondern appelliert eindringlich an alle, die Verantwortung tragen. Zugespitzt findet sich diese Position in Jonas' neuem "kategorischen Imperativ": "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden." Man hat den spezifischen Impetus und die revolutionäre Essenz dieses Imperativs lange Jahre unterschätzt. "Das Prinzip Verantwortung", auch davon berichten die "Erinnerungen" ausführlich, war Jonas' erstes Buch in seiner Muttersprache nach seiner Flucht aus Deutschland. Es ist ihm nicht leicht gefallen, doch letztlich obsiegte die Bedeutung des Mitzuteilenden über die gehegten Bedenken. Christian Wiese ist es zu verdanken, dass auch die Genese von Jonas' 'Tractatus' und das Verhältnis des 'Jüdischen' zum 'Säkularen' in seiner Philosophie der Verantwortung in einem neuen Licht erscheinen. Aus den Materialien seines Nachlasses gelingt Wiese der Nachweis, dass Jonas etwa zehn Jahre vor der Veröffentlichung des 'Tractatus' vor einem amerikanisch-jüdischen Auditorium Perspektiven seines ethischen Denkens "in einer bewusst auf jüdisch-religionsphilosophischen Prämissen beruhenden Gedankenfolge entfalten konnte". Gegen die herrschende These von der Priorität seines Entwurfs einer autonomen Zukunftsethik im "Prinzip Verantwortung", zu der erst später der Gebrauch theologischer Chiffren wie des Begriffs der 'Schöpfung' hinzugetreten sei, gelingt es Wiese zu zeigen, dass "die im Gespräch mit der jüdischen Tradition vorgetragenen Reflexionen über die Geschöpflichkeit und für die Ethik der Selbstbescheidung entscheidende 'Heiligkeit' allen Lebens am Anfang gestanden [...] haben und später zurückgetreten [sind], um die philosophische Plausibilität seines Entwurfs angesichts der Infragestellung aller Theologie und des schwindenden Vertrauens in die Selbstevidenz und ethische Relevanz des Religiösen nicht zu gefährden". Trifft Wieses Annahme zu, so ist es durchaus gerechtfertigt, die Substanz der jüdischen Überlieferung bei der künftigen Deutung der Texte von Hans Jonas stärker zu gewichten und von einer stärkeren Interdependenz seiner persönlichen jüdischen Verankerung und seiner Philosophie auszugehen. Ausdrücklich bejahte Jonas den Wert der jüdischen Tradition als Widerspruch gegen den Nihilismus - "nicht in dem Sinne, daß man alle ihre Aussagen als absolut und für alle Zeit bindend betrachten muß, doch - allgemein gesprochen - kann uns das Judentum, so wie es dazu beiträgt, das Gefühl der Ehrfurcht vor der Natur und des tiefsten Wesens unserer selbst wiederzugewinnen, helfen, eine neue Ehrfurcht und Demut gegenüber der Tradition zu entwickeln".

Aber in den "Erinnerungen" ist noch mehr verborgen: Was die ganz persönlichen Passagen dieses außergewöhnlichen Buches zeigen, ist Jonas' besondere Fähigkeit zur Freundschaft, zu deren Wesen für ihn vor allem Diskretion und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung, aber auch die Geste der Versöhnung gehören. Die mit Blick auf die deutsch-jüdische Exilgeschichte spannendsten Freundschaften des Philosophen, jene mit Hannah Arendt und Gershom Scholem, blieben auf je eigene Weise nicht von dramatischen Krisen und heftigen Wortgefechten verschont, die in Jonas' "Erinnerungen" eine wesentliche Rolle spielen. Während die von wachsenden Differenzen in wissenschaftlichen und moralischen Fragen belastete Beziehung zu Scholem, hielt dieser Jonas nach dessen Übersiedlung nach Kanada doch immerhin "Verrat am Zionismus" vor, noch nicht genügend beleuchtet ist, lässt sich über die lange und innige Freundschaft, die Jonas seit den Marburger Tagen "im Bannkreis Heideggers" mit Hannah Arendt pflegte, wohl kaum etwas Treffenderes sagen, als das, was er in seinem Erinnerungsbuch erzählt. Als 1963 ihr Buch über "Eichmann in Jerusalem" erscheint, bricht Jonas für zwei lange Jahre den Kontakt ab, bevor es wieder zum Gespräch kommt. Viele Jahre zuvor war Jonas Zeuge des Liebesverhältnisses zwischen der 18jährigen Hannah Arendt und ihrem Marburger Professor Heidegger geworden, aber erst nach dem Tod der beiden spricht Jonas mit seiner Frau darüber. Verwunderlich ist dies nicht, entbehrt doch der im Buch mit den Worten Arendts wiedergegebene Beginn der Beziehung nicht einer gewissen Pikanterie: "'Plötzlich fiel er [Heidegger] vor mir auf die Knie. Und ich beugte mich nieder, und er streckte von unten aus dem Knien heraus seine Arme zu mir empor, und ich nahm seinen Kopf in meine Hände, und er küßte mich, und ich küßte ihn.'" Arendt und Jonas verband seit ihrer ersten Begegnung eine wahre platonische Liebe, deren Grenzen nie überschritten wurden. So muss es Jonas folgerichtig schwer zugesetzt haben, dass der gemeinsame Lehrer, der im Dritten Reich seine Philosophie verraten sollte, der Geliebte seiner Freundin war.

Die eindrucksvollsten Passagen in den Erinnerungen über den Bruch mit seinem Lehrer Heidegger, den Jonas 1964 mit seinem Essay über "Heidegger und die Theologie" öffentlich machte, lassen erahnen, wie tief vor allem diese spannungsreiche Beziehung in das Denken des Philosophen und Menschen Jonas eingegriffen hat. Während Jonas in seiner Dissertation gnostische Mythen mit Hilfe von Heideggers Frühphilosophie entschlüsselt hat, distanzierte er sich im Laufe seines Lebens zusehends von Heideggers Existenzanalyse, würdigte ihn aber bis zuletzt als den Denker, der in der Philosophie des 20. Jahrhunderts "das wollende, sich mühende, bedürftige und sterbliche Ich zum Vorschein kommen" ließ. Gleichwohl schreckte Jonas nach 1945 nicht davor zurück, gerade das, was ihn an dem Marburger "Wunderrabbi" faszinierte, schonungslos anzusprechen: das Umstürzlerische seines Denkens, die mit einer völlig neuen Sprache einhergehende Infragestellung der humanistischen, rationalen Tradition abendländischen Denkens, die 1933 schließlich zu einer Affinität des Heideggerschen Denkens zum Nationalsozialismus führte. Dieser war Mitglied der NSDAP geworden, hatte sich im Frühjahr 1933 zum Rektor der Universität Freiburg wählen lassen und in seiner berüchtigten Antrittsrede über "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität" die nationalsozialistische Formierung des "Wissensdienstes" gefordert. In einem unveröffentlichten Vortrag über "Husserl und Heidegger" (Leo Baeck Institute Archives, New York, AR 2241/MS 75), den Wiese im Anhang abdruckt, kommt Jonas im Zusammenhang mit Heideggers unwürdiger Behandlung seines Lehrers Husserl auf ein weiteres Skandalon zu sprechen: "Was das Verhältnis zu seinem Lehrer angeht, dem hochverehrten gealterten Husserl, der ihn auf diesen Lehrstuhl als seinen Nachfolger gebracht hatte, so hat Heidegger von dem Moment der Machtergreifung an Husserl nicht mehr gesehen, nicht mehr auf der Straße gegrüßt, kein Wort an ihn gelangen lassen und ihn in Freiburg, dieser Stadt, die Husserl [subjectivus!; A.S.] berühmt gemacht hatte für die Philosophie, bis 1938 einsam leben und ebenso einsam sterben lassen. Unter seinen Rektoratsakten befand sich ein Edikt, das Husserl und anderen Nichtariern das Betreten des Universitätsgebäudes und die Benutzung der Bibliothek untersagte." Obwohl sich Heidegger später damit herauszureden suchte, dass dieser Vorgang "auf dem Routineweg erfolgt sei[,] [...] von dem er nichts gewusst habe", bedarf es keiner weiteren Worte um nachzuempfinden, welche Demütigung ein solcher mit nichts zu rechtfertigender Ausschluss aus der akademischen Welt damals für den Philosophen Husserl und in singulären Fällen auch heute noch bedeutet. Wenn Richard Wolin Jonas gemeinsam mit jenen jüdischen Studenten der Philosophie, die sich um Heidegger scharten, zu dessen "Kindern" zählt, so zeigen Jonas' Erinnerungen recht eindrücklich, dass er seinem philosophischen "Vater" schon bald entfremdet und entwachsen war. Pikant sind die Passagen der "Erinnerungen", in dem Jonas das Verhältnis Heideggers zu seinen jüdischen Studenten beschreibt. An einer Stelle heißt es vielsagend: "Nein - Heidegger war kein persönlicher Antisemit. Vermutlich war es ihm ein klein wenig unheimlich, daß so viele Juden unter seinen Schülern waren, aber wohl mehr in dem Sinne, daß das ein bisschen einseitig war, daß nicht genügend da waren, die mehr von seiner Art waren. Von Antisemitismus war im Umkreis von Heidegger nur insofern die Rede, als bekannt wurde, daß seine Frau aus der völkischen Jugendbewegung stammte. [...] Man hörte munkeln, daß Elfriede Heidegger antisemitische Neigungen habe, ohne daß ich sagen könnte, woher man das wußte. Immerhin hatte sie jeden Grund, eifersüchtig zu sein auf eine Jüdin, denn irgendwann wird sie vom Verhältnis ihres Mannes erfahren und kaum mit freundlichen Gefühlen darauf reagiert haben."

Christian Wiese unterstreicht, dass - in Jonas' Worten - "[d]as Einschwenken des tiefsten Denkers der Zeit in den tosenden Gleichschritt der braunen Bataillone" einen zentralen Wendepunkt in Jonas' Biographie bildete und, im Zusammenhang mit der Erfahrung des Krieges und der Shoah, "die Grundlagen für die radikale Neuorientierung auf eine naturalistische 'Philosophie des Organischen' nach 1945" legte. In dem bereits oben erwähnten Vortrag über "Husserl und Heidegger" führt Jonas ergänzend aus: "Für diejenigen, für die Heidegger einmal ein entscheidende Ereignis im Verhältnis zur Philosophie überhaupt und in den Möglichkeiten des eigentlichen Philosophierens war, ist Heideggers Verhalten in der Nazizeit etwas Unüberwindbares, und zwar nicht so sehr als menschliche Enttäuschung. [...] Das, womit man nicht fertig wird, ist, daß dies eine Tragödie der Philosophie ist, oder sollen wir sagen eine Blamage der Philosophie." Nachdem Jonas über Jahrzehnte hinweg jeden Kontakt zu Heidegger ablehnte, kam es 1969 dann doch noch einmal zu einer persönlichen Begegnung mit seinem Lehrer, deren Beschreibung in den "Erinnerungen" fatal an Celans Begegnung mit Heidegger im Jahr 1967 in der einsamen Hütte des Philosophen im Hochschwarzwald, in der Nähe des Dorfes Todtnauberg, erinnert. Was sich an diesem Tag zwischen Heidegger und Celan ereignete - oder besser: nicht ereignete -, worüber gesprochen und worüber geschwiegen wurde, ist bis heute umstritten, obwohl sich die Zahl der Dokumente, die darüber Auskunft geben, in den letzten Jahren vermehrt hat. Wenige Tage nach dem Treffen entstand Celans berühmtes Gedicht "Todtnauberg", das der Autor nach Freiburg an Heidegger schickte und sich als ernüchterte Bilanz einer Begegnung liest, bei der der eine, der überlebende Jude, vom anderen, der verantwortlich auf der Täterseite stand, ein sei es erklärendes, sei es entschuldigendes, jedenfalls ein "kommendes Wort" erhofft, aber nur "Krudes" - Rohes, in seiner alten Bedeutung: Grausames - zu hören bekam, banales Alltagsgerede möglicherweise. Mehrfach hat Celan in Gesprächen angedeutet, dass er von Heidegger Rechenschaft erwartet habe, sie aber nicht erfolgt sei. Übrigens ist vor kurzem ein Brief Heideggers an Celan vom 30. Januar 1968 - sinnigerweise am 35. Jahrestag der Machtübernahme der Nationalsozialisten geschrieben - aufgetaucht, in dem er Celan für das "unerwartet grosse Geschenk" des erwähnten Gedichts dankt und feststellt: "Seitdem haben wir vieles einander zugeschwiegen. Ich denke, dass einiges noch eines Tages im Gespräch aus dem Ungesprochenen gelöst wird." Ganz ähnliche Beobachtungen finden sich auch in Jonas' Erinnerungen an sein letztes Gespräch mit Heidegger: "Unsere Begegnung bestand allerdings im wesentlichen aus einem kurzen Austausch von Erinnerungen aus der Marburger Zeit, während die für mich entscheidenden Dinge nicht zur Sprache kamen. Sollte ich darauf gehofft haben, es könnte ein Wort fallen über die Geschehnisse nach 1933, über das Ergehen der Juden in Nazideutschland, über das Schicksal meiner Mutter, so wurde ich bitter enttäuscht. Ich hatte mit diesem Treffen für mich das Ringen um meine Beziehung zu Heidegger zum Abschluß gebracht, aber eine Klärung von seiner Seite aus, geschweige denn ein Wort des Bedauerns, erfolgte nicht. Was uns beide trennte, blieb von Schweigen umhüllt."

Davon, dass Jonas ein jüdischer Gelehrter mit enger Verbindung zu den Lehren seiner Religion war, zeugen nicht nur späte Veröffentlichungen, wie der 1984 in Tübingen gehaltene und noch im selben Jahr publizierte Vortrag "Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme", sondern bereits sein erster Aufsatz von 1922: "Die Idee der Zerstreuung und Wiederversammlung bei den Propheten". Die Erinnerungen des Philosophen spiegeln eindrucksvoll wider, wie er sich, bewegt von der Trauer über die Vergasung seiner Mutter in Auschwitz und dem Entsetzen über den Genozid der Nationalsozialisten, über Jahrzehnte in verschlungenen Ansätzen an philosophische Reflexionen über die ethische Relevanz jüdischer Überlieferung und existentieller Erfahrung sowie an die Frage, ob Gott Schuld an Auschwitz trage bzw. ob angesichts der Shoah überhaupt noch von einem allmächtigen Gott gesprochen werden könne, herangetastet hat: "metaphysische Vermutungen" und, wie er gesteht, "Ausschweifungen", mit denen er den "erlaubten Boden der Philosophie verließ", nennt er diese Versuche. Das Faszinierende seiner "mit Furcht und Zittern" entworfenen Reflexionen zum "Gottesbegriff nach Auschwitz", liegt, nach Ansicht Christian Wieses "in der Mischung aus existentieller Erschütterung über Gottes Schweigen angesichts des einzigartigen Völkermordes [...], philosophischer Strenge in der Destruktion der Vorstellung eines allmächtigen Herrn der Geschichte und der sprachlichen wie gedanklichen Schönheit und Tiefe des 'hypothetischen Mythos' über den werdenden, leidenden Gott, der sich bei der Erschaffung des Lebens 'seiner Gottheit [entkleidete], um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie'". Die nach Auschwitz offenbarte Undenkbarkeit Gottes, der, in den Worten Jonas', "zugleich absolut gut und absolut allmächtig ist und doch die Welt duldet, wie sie ist", hat für ihn die Konsequenz, Gottes Machtverzicht zu denken und den Menschen selbst in die Verantwortung für den Ausgang des "Weltabenteuers Gottes" zu rufen. Das impliziert die Rede von einem leidenden, werdenden, sich sorgenden Gott, d.h. einem Gott, der von dem, was in der Welt geschieht, verändert wird, nicht in Ewigkeit der gleiche sein wird und der für seine Geschöpfe Sorge trägt. Die Allmacht Gottes, für Jonas schon vom Begriff her äußerst zweifelhaft, muss weichen, wenn die traditionellen Attribute absolute Güte, absolute Macht und Verstehbarkeit Gottes gleichzeitig gelten sollen. Den Verzicht auf die Allmacht hat Gott aber nicht erst im Laufe der Geschichte gewählt, sondern er ergab sich schon in der Schöpfung, dem Akt göttlicher Selbstentäußerung. Hier sieht Jonas Parallelen zu den Vorstellungen der jüdischen Kabbala, die vom Zimzum, der Kontraktion und Selbsteinschränkung Gottes, spricht. Jonas verstand seinen Mythos vom ohnmächtigen, leidenden Gott als "ein Stück unverhüllt spekulativer Theologie", als "Gestammel", als tastenden Versuch, angesichts der vollendeten Sinnlosigkeit der Shoah - gegen die denkbare Alternative des Atheismus und jeglicher Preisgabe des Theodizeegedankens, wie sie etwa von Adorno gedacht wurde - die Vorstellung eines gerechten, sich sorgenden Gottes zu bewahren.

Nach Wiese ist "für die gesamte Philosophie von Hans Jonas entscheidend, daß seine ethisch-philosophische Deutung der Herausforderungen der Gegenwart, inspiriert von einem in der jüdischen Tradition wurzelnden Gedanken an die Geschöpflichkeit und Heiligkeit des Lebens, nicht isoliert von seiner existenziell-intellektuellen Auseinandersetzung mit dem in Auschwitz offenbarten Abgrund an Inhumanität und von seiner Überzeugung der transzendenten Verantwortung des Menschen zu verstehen ist". Gleichwohl hält Jonas daran fest, dass er kein jüdischer Philosoph sei. Vielmehr müsse der Philosoph, so Jonas, darin ganz seinem Lehrer Husserl verpflichtet, der wiederholt bemerkte, dass man als Philosoph keinem bestimmten Glauben "hörig" sein dürfe, seiner Profession die "Erkenntnismittel" entnehmen. Die Spannung, Philosophie und Judentum miteinander zu verbinden, war dennoch ein wesentliches Movens von Jonas' Reflexionen, vor allem, wenn er sein Denken am Begriff des Lebens und eben nicht, wie Heidegger, an dem des Todes orientiert. Wie sehr Jonas in der Tradition des deutschen Judentums stand - seine Witwe Lore und Rachel Salamander erinnern in ihren Vorworten daran -, zeigen seine "Erinnerungen" ebenso anschaulich wie sein Werk. Beide Grundtöne seiner Existenz - Judentum, "gleichsam als character indelibilis, den keiner von uns loswerden möchte" und intellektuelles Streben nach autonomer Vernunft und Erkenntnis - ließen sich zwar nicht zu einer unverbrüchlichen Einheit verknüpfen, doch Hans Jonas hat es auf einzigartige Weise verstanden, dass sie einander gegenseitig zum Klingen brachten. Die nicht selten gleichermaßen irritierend wie faszinierend unorthodoxe Form des Zwiegesprächs von jüdischer Tradition und philosophischem Diskurs lassen sich in Jonas' "Erinnerungen", denen der Philosoph zu Beginn der Gespräche mit Rachel Salamander die Bedeutung von "Memorabilia", also "Denkwürdigkeiten" im besten Sinne des Wortes, gegeben hat, eindrucksvoll beobachten. Ansichtig wird in den Prosavignetten, die zeitlich fast das gesamte 20. Jahrhundert umspannen, nicht nur eine philosophische Persönlichkeit von weltweiter Bekanntheit, ein erfrischend ungewöhnlicher Denker, sondern auch ein Genie des Erzählens, das scheinbar mühelos die komplexesten Zusammenhänge zu erinnern und in einer klaren und ästhetisch bestechenden Sprache zu entfalten vermochte. Gleichzeitig sind diese "Memorabilia" in ihrer Verflechtung als autobiographische Erzählung, Exilliteratur, Emigrations- und Philosophiegeschichte, Anekdotensammlung und Philosophie ein unendlich bedeutsames Zeugnis für den von den Nationalsozialisten ausgerotteten jüdischen Diskurs auf deutschem Boden - eine Kostbarkeit ersten Ranges für jeden, der bereit ist, den unterschiedlichen Facetten des Denkens von Hans Jonas nachzuspüren und neue Aspekte abzulauschen.

Titelbild

Hans Jonas: Revolte wider die Weltflucht. Reden und Gespräche. 5 CDs.
Der Hörverlag, München 2000.
360 Minuten, 47,90 EUR.
ISBN-10: 3895841978

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Richard Wolin: Heidegger's Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse.
Princeton University Press, Princeton 2001.
312 Seiten, 44,26 EUR.
ISBN-10: 0691070199

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Titelbild

Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
503 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3458171568

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