Vielleicht geht es nicht um die Schweiz

Alex Capus' "Fast ein bißchen Frühling. Was seither geschah"

Von Karola KallweitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karola Kallweit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast ein bißchen Frühling. Was seither geschah - Tagebuch eines Romans, so lautet der eindeutige Titel des jüngsten Werks von Alex Capus. Das Tagebuch setzt sich aus autobiographischen Notizen des Autors und authentischen Zeitdokumenten zum Kriminalfall zusammen. Zudem ist dem Buch eine CD beigefügt, mit Original-Tango-Aufnahmen von Willi Kollo. Im ersten Teil des Buches erfährt der Leser einiges über den literarischen Werdegang des Autors, die Recherche für den Roman, dessen Entstehungsgeschichte und Eindrücke einer Lesereise durch die Schweiz. Im zweiten Teil stellt Capus dem Leser die Früchte seiner jahrelangen Recherche zur Verfügung. "Was seither geschah" ist eine Art Fortsetzung des 2002 erschienenen dokumentarischen Romans "Fast ein bißchen Frühling". Der "Vorläufer-Roman" erzählte die in der Schweiz legendäre und "wahre Geschichte" der Bankräuber Waldemar Velte und Kurt Sandweg, die im Basel der Dreißiger Jahre auf die Schallplattenverkäuferin Dorli Schupp trafen. Liebe, Verbrechen, Schicksal und 'Drittes Reich'waren die inhaltlichen Koordinaten dieses Romans. Wer den "Vorläufer-Roman" nicht gelesen hat, kann sich nun anhand von Fotos, Polizeiakten und Zeitungsartikeln ein Bild der Geschichte machen.

Das Tagebuch verweist im Haupt- und Untertitel auf den Vorgänger, doch die scheinbare Klarheit bröckelt während des Lesens, denn das dreiundneunzig Seiten umfassende "Büchlein" wirft Fragen auf. Was intendiert der Autor mit diesem Tagebuch? Brauchen sich "Vorläufer-Roman" und Tagebuch überhaupt? Ist das Eine zum kompletten Verständnis des Anderen notwendig und dennoch autonom begreifbar? Eine solche Synthese ist bei Christa Wolfs Erzählung "Kassandra" und den Frankfurter Poetik-Vorlesungen "Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra" geglückt. In den Vorlesungen thematisiert Wolf die eigene Arbeit am Gewebe, dem Stoff, aus dem Literatur entsteht. Sie entwirft damit nicht nur den ideellen Unterbau für "Kassandra" sondern sie bewahrt auch die Autonomie der beiden Werke.

Die Spezifizierung der literarischen Gattung bei Campus wirft hier das Problem auf, dass Inhalt und Form keine eindeutigen Schlüsse zulassen. Ist "Was seither geschah" eine Fortsetzung in Form eines autobiographischen Tagebuchs, ein Hörbuch, ein politisches Dossier oder etwa ein literaturwissenschaftlicher Essay? Möglicherweise ist es von allem ein bisschen, vielleicht das passende Gegenstück zum Roman oder vielleicht die Essenz des Romans, verknappt auf dreiundneunzig Seiten. Vielleicht geht es nicht um die Schweiz und um dieses Verbrechen, sondern um etwas ganz Anderes.

Wenn das die Intention des Autors war, dann geht es um Fiktion und Fakten. Es geht um die unzähligen Biographien im Nazi-Deutschland und um die Frage, wie man sich als Autor mit dem kollektiven Gedächtnis eines Volkes auseinandersetzt. "Wer ist denn dabei gewesen - Sie oder ich?", fragt eine alte Frau während einer Lesung. Und später fügt der Autor hinzu: "Und weil die Damen damit einiges über ihr eigenes Alter preisgaben, bestanden sie alle darauf, im Winter 1933/34 noch ganz, ganz kleine Mädchen gewesen zu sein." Dann bekommt auch das Hören des Liedes "Jetzt geht's der Dolly gut" von Willi Kollo einen tieferen Sinn. Es handelt von der Schauspielerin Dolly Haas, die 1936 aus einem nationalsozialistischen Deutschland emigrierte.

Der Text funktioniert nicht, betrachtet man ihn als Anhängsel des "Vorläufer-Romans". "Was seither geschah" verfolgt eine eigene Idee. Sich auf die bisweilen humoristische Darstellungsweise einzulassen, macht das Leseerlebnis dieses Buches aus.

Titelbild

Alex Capus: Fast ein bißchen Frühling. Was seither geschah. Mit den Original-Tango-Aufnahmen von Willi Kollo.
Residenz Verlag, Salzburg 2003.
91 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3701713448

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