Methode der Analyse oder Kunst der Interpretation?

Zu einer neuen Einführung in die Literaturanalyse

Von Florian GelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Gelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Einführungen in die Literaturwissenschaft herrscht auf dem Buchmarkt eigentlich kein Mangel. Verschiedene Verlage bieten "Grundzüge", "Modelle", "Grundlagen", "Arbeitsbücher", "Einübungen", "Orientierungen", "Grundprobleme" oder "Einladungen" an, die den Studienanfänger mit den Methoden und Theorien der literaturwissenschaftlichen Arbeit vertraut machen und den Einstieg in das Literaturstudium erleichtern sollen. Das verdienstvolle Unternehmen hat jedoch seine Kehrseite. Je umfassender und gründlicher versucht wird, die gesamte Breite der literaturwissenschaftlichen Grundlagen zu dokumentieren, desto mehr gerät das eigentliche Kerngeschäft in den Hintergrund: die Arbeit am Text, ja gar das Lesen selbst. Angesichts der verwirrenden Vielzahl der Übersichten und Einführungen droht die Lektüre der Primärtexte unterzugehen.

Der vorliegende Band setzt an diesem Punkt an. Die Verfasserin möchte nicht eine weitere Einführung in die Literaturwissenschaft bieten, sondern einem "Leserkreis im Schwellenbereich zwischen Schule und Universität" eine Anleitung zur Analyse literarischer Texte liefern. Es handelt sich um ein Arbeitsbuch mit Aufgaben zum Selberlösen, das in die voraussetzungslose "Textanalyse am bloßen Sprachmaterial", bar jeglicher Kontextualisierungen einüben möchte - einen Leitfaden zum vertieften Umgang mit Literatur und zur Methodik der Textanalyse also. Oder, wie es Corbineau-Hoffmann (etwas missverständlich) ausdrückt: "So wie Paul Klee in Bezug auf Bilder meinte, man sehe nur, was man kennt, so möchte ich für die literarischen Texte hinzufügen: Man genießt nur, was man beherrscht."

Das Konzept erscheint vielversprechend: In dieser Einführung stehen literarische Texte selbst im Vordergrund, und nicht Methoden und Theorien. Anstatt literarische Texte sogleich in Gattungsrastern und historischen Strömungen zu verorten oder methodischen Zugriffen zu unterziehen, sollen sie hier zunächst einmal gelesen und in ihrer konkreten Form, als Sprachgebilde, aufgenommen, gedeutet und analysiert werden. Die Charakteristika verschiedener 'Textsorten' werden nicht abstrakt abgehandelt, sondern induktiv aus exemplarischen Untersuchungen abgeleitet. Studium, Analyse und Interpretation ausgewählter Texte erfolgen also nicht getrennt, sondern verschmelzen in einem Arbeitsgang miteinander. Die Beispieltexte stammen allesamt von demselben Autor: Hugo von Hofmannsthal. Das Buch ist also auch eine kurze Einführung in das Werk Hofmannsthals - das sich in seiner Vielfalt für einen solchen Gang durch die Gattungen geradezu anbietet.

Begonnen wird allerdings keineswegs mit voraussetzungsloser Textarbeit. Die Autorin entwirft zunächst eine kleine linguistische "Theorie der Texte", einen globalen 'Text'-Begriff, aus dem sie ein einfaches Analysemodell ableitet. Die eklektische Konzeption bleibt allerdings ziemlich verschwommen. Auf der einen Seite wird ein dezidiert "vorwissenschaftlicher Standpunkt" eingenommen: Durchgängig wird auf 'wissenschaftliche' Herleitungen, präzise Definitionen, Literaturhinweise, einen Apparat sowie bibliographische Nachweise verzichtet; andererseits wird ein Autor wie "Derrida" ohne Vornamen erwähnt (das ihm zugeschriebene Zitat stammt allerdings von Ferdinand de Saussure). Die knappe, lockere Form der Ausführungen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier massive Anleihen bei theoretischen Modellen gemacht werden. So ist die Arbeitsdefinition von 'Text' offenbar von der Pragmatik und der Textlinguistik angeregt; sie wirkt aber in der lässigen Darstellung reichlich zusammenhangslos. (Die etymologische Herleitung von 'Text' ist übrigens unrichtig. Das mehrfach erwähnte lat. Verb 'tissere' existiert schlechterdings nicht; richtig wäre 'texere'.) Das Anfangskapitel schließt mit einem Merkmalskatalog von 'Texten': Sie machen auf unterschiedliche Weise Aussagen über Sachverhalte, sind auf jeweils verschiedene Weise 'verknüpft', durch eine bestimmte Darstellung von Zeitabläufen charakterisiert und als kommunikativer Akt verstehbar. In den folgenden Modellanalysen wird nun dieser Katalog als Analyseschema an ausgewählte lyrische, dramatische, erzählende und essayistische Texte Hofmannsthals angelegt. Das Hauptbeispiel für einen 'Nicht-Text', aus dem ex negativo die Kriterien eines 'Textes' abgeleitet werden, findet sich übrigens wörtlich in einer früheren Publikation der Verfasserin ("Einführung in die Komparatistik", Berlin 2000).

Der mit diesem Text-Begriff gerüstete Leser wird nun nicht (wie man erwarten würde) mit kontextfreien Texten konfrontiert, sondern mit einer Kurzeinführung in das Leben und Werk Hugo von Hofmannsthals. Damit wird nicht nur das Konzept der voraussetzungslosen Lektüre unterlaufen - die Texte werden ja gewissermaßen vorinterpretiert -, die engagierte Vorstellung Hofmannsthals kontrastiert in ihrer (selbst beinahe poetischen) Diktion merkwürdig mit der nüchternen Darstellung des Text-Kapitels. So heißt es etwa zu der einen von gerade einmal zwei Abbildungen des Buches: "Hofmannsthals Handschrift, das beweist schon ein kurzer Blick darauf, ist schwungvoll und behende, von Eile angetrieben, dabei aber niemals flüchtig, obwohl aus ihr ein Werk von imposanten Ausmaßen, Vollendetes (oder zumindest zu Ende geführtes) und Fragmentarisches umfassend, erwuchs." Von einer "voraussetzungslosen" Hinführung zum "bloßen Sprachmaterial" kann spätestens von hier an keine Rede mehr sein: Es geht um das - vorstrukturierte - Œuvre Hofmannsthals, das mittels eines linguistischen Textbegriffes analysiert wird.

Auf die Modellanalysen kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Im 'Arbeitsteil' werden Gedichte, Dramen, Erzählungen und Essays des Autors exemplarisch behandelt, wobei dem Leser das weiterführende Selbststudium "angesonnen" wird. Kriterien der Textauswahl waren offenbar vor allem Kürze, Verständlichkeit und praktische 'Tauglichkeit' im akademischen Unterricht. In der Regel wird ein Text vorgestellt und einem intensiven close reading unterzogen, worauf als Aufgabe ein verwandter Text selbständig analysiert werden soll. Abschließend werden Schlüsse zu Eigenschaften und Problemen der verschiedenen "Textsorten" beziehungsweise Gattungen gezogen sowie grundsätzliche Fragen nach Kriterien von 'Literarizität' gestellt. Im Lyrikkapitel untersucht und deutet die Verf. etwa einige bekannte Gedichte Hofmannsthals ("Wolken", "Manche freilich ..." u. a.) anhand des Text-Schemas. Die Gedichte werden also, getreu dem Merkmalskatalog, nach Thema, "Verknüpfungen", Zeitgestaltung, "Kommunikationssituation" etc. befragt. (Allerdings bringt die Verf. mehrfach das Schema mit einem ähnlichen aus dem Text-Kapitel durcheinander.) Die Gedichtanalysen sind knapp und treffend und dienen als - dankenswerte - Beispiele für weiterführende Überlegungen zu den Charakteristika lyrischer Texte. Anschaulich ist auch die daran anschließende Behandlung von 'Übergangsphänomenen' zwischen den Gattungen: der lyrischen Erzählung "Die Rose und der Schreibtisch" (1892) sowie des lyrischen Dramas "Der Tod des Tizian" (1892).

Bei der Behandlung der dramatischen 'Textsorten' Komödie und Tragödie wird die Tauglichkeit des Verfahrens etwas fragwürdig. Konnten die Unterschiede zwischen 'reiner' Lyrik, lyrischer Prosa und lyrischem Drama überzeugend 'am Sprachmaterial' herausgearbeitet werden, so bleiben die Kriterien und die Vorgehensweise der deutenden Betrachtung der "Elektra" (1903) und der späten Komödie "Arabella" (1933) weitgehend im Dunkeln. Beide Stücke werden (an und für sich überzeugenden) ausführlichen Interpretationen unterzogen, welche sich aber nur mit sehr viel gutem Willen auf das ursprünglich geplante - nämlich "voraussetzungslose" oder zumindest streng auf die Sprache fokussierte - Vorgehen beziehen lassen. Die Verf., so könnte man pointiert sagen, arbeitet vielmehr aus den Dramentexten heraus, was sie zuvor hineininterpretiert hat - und stellt das Ganze dann als simple Text-Analyse dar. Die Erzählung "Lucidor" (1910), eine frühe Prosafassung der "Arabella", bildet den gelungenen Übergang zum Prosakapitel, in dem unter anderem 'Klassiker' wie das "Märchen der 672. Nacht" (1895) und die "Reitergeschichte" (1899) mit Hilfe eines einfachen narratologischen Schemas untersucht werden (der "Andreas"-Roman wird aus Platzgründen nicht behandelt). Das Fazit des Kapitels bleibt etwas tautologisch-verschwommen (und für Anfänger schon allein aufgrund der Terminologie wohl schwer verständlich): "Wie die Deskription eine Deutungsebene der Narration erstellt, ist umgekehrt die Narration ein Interpretationsmodus der Beschreibung." Den Abschluss bildet ein "Versuch zum Essay", in dem "Die Bühne als Traumbild" (1903), ein Essay über d'Annunzio (1893) sowie der Aufsatz "Wert und Ehre deutscher Sprache" (1927) besprochen werden. Auch hier bleibt die aus der Analyse gewonnene 'Gattungsbestimmung' des Essays raunend und diffus: "Die Sprache treibt den Essay aus sich heraus und umgekehrt der Essay die Sprache. Im Essay werden Gedanken zu Sprache, wird Sprache zu Gedanken."

Die Konzeption des 'Arbeitsteils', das Wechselspiel zwischen Modellanalysen, Lektürevorschlägen und Aufgaben, vermag insgesamt zu überzeugen. Die Texte sind mit Bedacht ausgewählt und die einzelnen Kapitel gut aufeinander abgestimmt. Dadurch, dass der Fokus auf einen Autor gelegt ist, und dank der zielgerichteten, straffen Vorgehensweise wirkt die Einführung wie aus einem schwungvollen Guss. Zum Selbststudium ist das Buch also grundsätzlich geeignet, und es mag in der Tat zur weiterführenden Lektüre anleiten und anregen. Dennoch: Es hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Bis zum Schluss bleiben bezüglich der angewandten 'Methodik' - und eine solche soll ja ausdrücklich vermittelt werden - viele Fragen offen. Es handelt sich offenbar, ausgehend von dem erwähnten (diskutablen) 'Text'-Begriff, um eine Art von werkimmanentem close reading, bei dem aber stillschweigend bei den verschiedensten Fachrichtungen und Methoden (etwa dem Strukturalismus oder der Diskursanalyse) Anleihen gemacht werden. Nun könnte man einwenden, dass dies ja genau die Absicht des Buches sein könnte: dem Leser literaturtheoretische Grundbestimmungen gleichsam en passant mitzuliefern. Dem wäre auch grundsätzlich nichts entgegenzuhalten; problematisch ist das Vorgehen jedoch, weil dem Leser suggeriert wird, dass die so miteinbezogenen Ansätze sich allein aus dem Sprachmaterial herausarbeiten ließen.

So bleibt zwischen den sparsamen 'theoretischen' Einsprengseln und den eingehenden werkimmanenten Deutungen ein ungelöster Widerspruch bestehen. Irgendwo zwischen den Vorüberlegungen und den gerundeten Modellanalysen, so muss ein unvoreingenommener Leser folgern, 'vollzieht' sich die Textanalyse, deren Verfahren offenbar recht beliebig sind. Denn hält er sich tatsächlich nur an die einleitenden 'Anweisungen', bleiben zahlreiche Argumentationsschritte und Feststellungen in den exemplarischen Analysen nicht nachvollziehbar. Im allerersten Beispiel, der Analyse des Gedichtes "Wolken", heißt es beispielsweise: "Wie der Titel 'Wolken' schon vermuten lässt, kommt dem Konsonanten 'W' ein besonderer Rang zu." Weshalb soll der Titel dies noch vor der Lektüre des Nachfolgenden "schon vermuten" lassen? Der Inhalt des Gedichtes wird folgendermaßen paraphrasiert: "Um die Aussage zusammenzufassen: Die Bilder des Schattentanzes der Wolken bewegen sich gigantisch auf der Seele des lyrischen Ich und erreichen eben dort [...] ihre höchste Dynamik." Ist dies noch eine Analyse auf der Basis des 'Text'-Modells? In einer anderen Analyse heißt es: "Das Gedicht ["Manche freilich..."] ist 'gelehrter' als die beiden vorher betrachteten Beispiele und verweist auf die Antike. Ein Hinweis darauf ist zunächst das Fehlen des Reims, sodann das Motiv des Schiffes, das offenbar, wie in der Antike üblich, von Ruderern bewegt wird." Wo sind hier die Grenzen zwischen 'Text' und 'Kontext'? Und in der "Elektra"-Interpretation heißt es: "Ein sehr subtiles Geflecht von Verweisungen bestimmt den Text und eröffnet damit die Möglichkeit, ihn auch anders zu lesen als in seinem unmittelbaren Verlauf, zumal sich die Analogie des Tanzes zwischen imaginärem Siegestanz zu Anfang und tatsächlichem Totentanz am Ende förmlich aufdrängt. Folgen wir also den Tanzschritten". Ist hier noch irgendeine 'Methode' erkennbar?

Noch einmal: Die einzelnen Deutungen sind größtenteils einleuchtend, und ihre lockere Darstellungsform ist dem angepeilten Zielpublikum angemessen. Bei einer Einführung allerdings, die mit Nachdruck in eine Methode einzuüben vorgibt, führt die assoziierende Vorgehensweise zwangsläufig zu Unklarheiten und Konfusion. Die Analyse literarischer Texte - dies geht aus dem Buch hervor - bedeutet zu einem guten Teil offenbar die Gewöhnung an einen bestimmten literaturtheoretischen Jargon, bei dem Stringenz und Klarheit zugunsten eines 'plaisir du texte' preisgegeben werden. Hinzu kommt, dass zahlreiche Fachtermini beiläufig verwendet werden, welche nur vage oder überhaupt nicht definiert werden. So etwa der Begriff "Diskurs": Einmal meint der Ausdruck offenbar den Ablauf eines Gedichts ("Duktus des Diskurses", "diskursive[r] Verlauf [des Essays]"), dann so etwas wie Themenbereiche ("Welche verschiedenen 'Diskurse' kennt der Text?"). Dann scheint aber auch ein erweiterter, schillernder Diskurs-Begriff auf (im Sinne einer ,Rede-Ordnung'), wenn etwa von der Stellung von Begriffen "im Diskurs" die Rede ist. Ähnliches gilt für Begriffe wie "syntagmatisch" bzw. "paradigmatisch", "lyrisches Ich", "personaler Erzähler" und die ohnehin hochproblematischen Bezeichnungen "Naturlyrik" und "Gedankenlyrik" - allesamt Termini, die keine genaue Bestimmung erfahren. Wenn als Fazit des Bandes im Nachwort emphatisch die Freiheit des Lesers postuliert wird, der sich einen fiktionalen Text so erschließen dürfe, "wie es ihm am liebsten ist - bis hin zu einem spielerischen Umgang, der ohne jede Verpflichtung zum Ernst die Möglichkeiten eigenen Verstehens erprobt", bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Die angekündigte "Methode der Analyse" erweist sich am Ende als eine - nicht weiter bestimmbare - hermeneutisch-einfühlende "Kunst der Interpretation", welche die Polyvalenz und die unabschließbare Deutung literarischer Texte bestätigt, insgesamt aber im Dunklen bleibt. Ob dies eine gute Voraussetzung für eine propädeutisch angelegte Einführung ist?

Titelbild

Angelika Corbineau-Hoffmann: Die Analyse literarischer Texte. Einführung und Anleitung.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2003.
201 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3825223302

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