Prädikat: wertvoll

Ein Text-und-Kritik-Band beschäftigt sich mit der Frage, wer was warum lesen soll (oder auch nicht)

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren scheint sich die Debatte über die Frage "Was sollen Germanisten lesen?" in jeder Hinsicht ausgeweitet zu haben. Das Zitat ist der Titel einer Pionierleistung, der Lektüreanregung von Wulf Segebrecht, in der 1. Auflage 1994 erschienen. Segebrecht nennt wichtige Beispiele aus dem Kanon, also aus der Zahl qualitativ wertvoller literarischer Werke, ohne vorschreiben zu wollen, genau die und nur diese zu lesen. Seither ist der Kanon nicht nur zu einem vieldiskutierten Problem innerhalb der Literaturwissenschaft, sondern auch zu einem allseits beachteten, die Feuilletons der Republik beschäftigenden Phänomen geworden. Die Wochenzeitung "Die Zeit" hat zahlreiche Persönlichkeiten nach den wichtigsten Büchern gefragt und, unter Hinzuziehung von ausgesprochenen Literaturkennern, einen Schüler-Kanon dekretiert. Marcel Reich-Ranicki hat in Zusammenarbeit mit dem Magazin "Der Spiegel" und zahlreichen Verlagen verschiedene eigene Kanones (so der Plural) vorgelegt. Praktischerweise kann man die Bücher aus diesem Kanon gleich in Kassette kaufen und ins Regal stellen, vielleicht sogar lesen.

Die divergierenden Ansichten der Fachwelt spiegelt wohl keine andere Publikation besser als ein von Renate von Heydebrand herausgegebener Tagungsband, der die Beiträge zu einem der renommierten Symposien der Deutschen Forschungsgemeinschaft versammelt: "Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen". Schematisch gesprochen sind drei Einstellungen zum Thema möglich: 1. Es gibt einen Kanon überzeitlicher, also zeitlos wertvoller literarischer Werke; 2. es gibt diesen Kanon nicht, vielmehr hängt die Bestimmung solcher Werke von zeitlichen wie historischen Rahmenbedingungen und persönlichen Vorlieben ab; 3. es gibt Kanones als je nach Zweck unterschiedliche Lektüreempfehlungen, die ständig im Fluss sind, immer nur vorläufigen Charakter haben. Für jede dieser Auffassungen können ihre Verfechter gute Gründe nennen, was die Orientierung innerhalb der Kanontheorie so schwierig macht wie die Wegsuche im allgemeinen Lektüredschungel.

Die Synthese der neueren Kanonforschung findet sich seit Ende 2002 in einem Sonderband der Reihe Text und Kritik. Synthese heißt nicht, dass eine allgemein verbindliche Summe aus der bisherigen Forschung gezogen worden wäre, das ist weder möglich noch wünschenswert. Vielmehr wird in die Problematik kompetent eingeführt und sie wird umfassend diskutiert. Bekannte und weniger bekannte Teilnehmer des Kanondiskurses äußern sich zu "Kanontheorien", "Kanongeschichten" und "Kanoninstanzen". Im Abschnitt "Kanon der Autoren" kommen fünf Personen zu Wort, die im Kanon der Gegenwartsliteratur ihren Platz haben, darunter Ludwig Harig und Gabriele Wohmann. Den Schluss macht eine von Ilonka Zimmer erstellte Bibliographie in beeindruckender Länge und Genauigkeit.

Den Band eröffnet Simone Winko, die sich bereits in zahlreichen Publikationen mit dem Themenkreis Kanon/Bewertung von Literatur auseinander gesetzt hat, so in ihrer zusammen mit Renate von Heydebrand verfassten, grundlegenden Studie "Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik - Geschichte - Legitimation". Im neuen Aufsatz probiert Winko einen neuen Ansatz, sie erklärt den "Literatur-Kanon als 'invisible-hand'-Phänomen": "Niemand hat ihn absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele 'intentional' an ihm mitgewirkt." Angesichts des einführenden Charakters des Bandes wird das Bedürfnis nach Basisinformationen nicht vernachlässigt, so stellt Winko in unüberbietbarer Kürze fest: "Die allgemeinen Prämissen jeder Kanonbildung sind schlicht: (1) Kein Mensch kann alle literarischen Texte lesen. (2) Menschen tendieren zu sinnbesetztem Handeln." Die qualitative Bewertung von Literatur und ihre hierarchische Anordnung hat, das macht Winko deutlich, nur teilweise mit den Texten selbst zu tun: "So tragen Kanones dazu bei, die Identität einer Gruppe zu stiften, sie gegen andere Gruppen abzugrenzen und zu legitimieren, und sie bieten Orientierung, indem sie als Maßstab für Anschlusshandlungen dienen." Darin ähneln Kanones beispielsweise Fußballclubs: Man identifiziert sich mit ihnen oder lehnt sie ab, grenzt sie aus der eigenen (Gruppen-)Identät aus. Die Befunde Winkos (und anderer) könnten für Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler Ausgangspunkt für eine selbstkritische Sichtung und Relativierung der eigenen Maßstäbe sein.

Mitherausgeber Hermann Korte hat ein informatives Glossar zur Kanonforschung von "Dekanonisierung" bis "Subkanon" zusammen gestellt. Klaus-Michael Bogdal wirft einen aufschlussreichen Blick auf die Entwicklung des Spezialkanons literaturwissenschaftlicher Standardwerke. Peter Gendolla beobachtet die "Kanonbildung im Netz". Über den germanistischen Tellerrand hinaus blickt Erk Grimm mit einem Beitrag zur Kanon-Debatte in den USA, die auch in Überlegungen diesseits des großen Teichs eingegangen ist, vor allem in Gestalt von Harold Blooms "The Western Canon". Weniger stark ausgewirkt hat sich die angloamerikanische Entwicklung zu Kanones unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen, von Frauen bis zu Ethnien.

Damit ist der eher theoretisch orientierte Teil abgeschlossen, es folgen Vermessungen des historischen Kanonfeldes, den Auftakt macht Hermann Korte mit dem Kanonkonzept des heute nur noch Wenigen bekannten Gelehrten Johann Joachim Eschenburg um 1800. Mirjam Springers flott geschriebener Beitrag zur Kanonisierung Schillers ist etwas schillernd in seiner Präsentation historischer Urteile: "Während also der gemeine Bildungsbürger Schillers Balladen in seinen Kanon einschrieb, erkor die Avantgarde sie dankbar für ihren Negativkanon." Das stimmt so nicht. Zweifellos haben sich viele jüngere, nachfolgende Autoren an Schiller gerieben, das ging aber jedem besonders bekannten Autor so, von Gottsched über Goethe bis Thomas Mann. Schiller war, dafür lassen sich von Wilhelm Hauff bis Theodor Fontane zahlreiche Größen des 19. Jahrhunderts in den Zeugenstand rufen, auch der Autor, den viele "Avantgarten" auf ihren Schild hoben - man denke an die Schillerfeiern begeisterter jüngerer Intellektueller. Der Versuch der Rekanonisierung Schillers am Schluss des Beitrags ist dagegen, gerade aus der Erfahrung der Instrumentalisierung dieses Autors im Kaiserreich und im Nationalsozialismus, ausgesprochen sympathisch.

Mehrere Einzelstudien aus unterschiedlichen Blickwinkeln folgen, zu Friedrich Hölderlin und Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff und Thomas Mann. Jan-Pieter Barbian beleuchtet kritisch den Kanon der NS-Diktatoren, die vorgestellten Lebensläufe brauner Germanisten sind ebenso skandalös wie lehrreich. Carsten Gansel handelt vom Kanon der DDR, Achim Geisenhanslüke vom Kanon der Theorie. Nicht alle Beiträge können hier genannt werden, nur einer sei noch angesprochen. Im Abschnitt zu den "Kanoninstanzen" zieht Hermann Korte ein Fazit der Ratgeber-Kultur, wie sie jüngst beispielsweise Marcel Reich-Ranicki pflegt. Dem Empfehlungsgestus, der Leser zu Empfängern unanzweifelbarer Botschaften degradiert (man fühlt sich an Moses mit den zehn Geboten erinnert), setzt er (wie seinerzeit Wulf Segebrecht, auf den eingangs hingewiesen wurde) die Aktivität des Lesers entgegen: "Hat im materialen Kanonkonzept jeder Eintrag per se seinen Bildungswert, so relativiert die Idee der Selbstbildung den Geltungsanspruch jeder noch so voluminösen Empfehlungsliste."

Die Auswirkungen solcher von Toleranz geprägter Kanonkonzepte für die Literaturkritik wären zu diskutieren. Hier ist der Punkt, an dem der zur Bewertung aufgeforderte Rezensent nur sagen kann: Ein informatives, vielseitiges, erhellendes Buch zu einem wichtigen Thema, ein Buch, in das jeder interessierte Leser selbst einen Blick werfen sollte.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: Literarische Kanonbildung. Text und Kritik IX/02.
edition text & kritik, München 2002.
372 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3883777188

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