Etikettenschwindel

David Leavitts Skandalbuch "Florence. A Delicate Case" als Gebrauchsanweisung für Florenz

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was immer der Leser dieses Buches sich unter einer Gebrauchsanweisung für die Kulturmetropole Florenz vorgestellt haben mag, er wird enttäuscht werden; für Liebhaber der englischen Literatur mag diese Enttäuschung allerdings angenehm ausfallen. Denn statt Gebrauchsliteratur bekommt er mit der deutschen Übersetzung von "Florence. A Delicate Case" eine recht umstrittene Abhandlung über die Engländer bzw. die englische Literatur in Florenz, die sich recht gut liest, weil Leavitts Schreibe flüssig und seine Darstellung populär, zuweilen sogar populistisch ist; nur als Führer oder gar Gebrauchsanweisung für Florenz taugt sein Buch überhaupt nicht. Das liegt daran, dass dem amerikanischen Literaturwissenschaftler jegliches Talent zur Beschreibung räumlicher, architektonischer oder städtischer Strukturen abgeht. Mit der Kunst verhält es sich nicht viel besser, die anspruchsvollste Diskussion von Florentiner Kunst findet sich in seiner launigen Beschreibung von Michelangelos David als Ikone der internationalen Schwulenszene.

Mag der Autor auch nichts von Kunst verstehen, er versteht etwas von englischen Künstlern und Literaten, die sich in den letzten 150 Jahren massenweise in Florenz niederließen. Mit Lust an der Denkmalschändung plaudert er deren kleine und größere Geheimnisse aus, was nicht nur in den feinen Kreisen der Anglo-Florentiner einigen Ärger hervorrief. Die Engländer in Florenz erscheinen ihm als Spießer, die es zumindest im 19. Jahrhundert nicht so sehr wegen der Kunst nach Florenz zog, sondern weil man dort billig leben konnte. Auch bot die Stadt ein erotisches Versprechen, denn die Sexualmoral war locker und den finanzkräftigen Fremden wurde von den Einheimischen vieles nachgesehen. Wie es aber englische und wohl auch deutsche Angewohnheit ist, hatten die Fremden oft nichts besseres zu tun, als ihre toleranten Gastgeber zu verachten und sich fortwährend über deren mangelnde Sauberkeit und moralische Laxheit zu beklagen. Auch mochten viele Engländer kein Italienisch lernen, was deren Möglichkeiten zum Verständnis von Land und Leuten erheblich einschränkte. Am bedenklichsten aber stimmt ihn, dass die Engländer in Florenz sich standhaft weigerten, sich auf die Herrlichkeiten der italienischen Küche einzulassen und weiterhin den zweifelhaften Spezialitäten ihrer Heimat die Treue hielten.

Leavitt regt die snobistische Ignoranz der Anglo-Florentiner des 19. Jahrhunderts immer noch auf, er erklärt sie damit, dass die Komplexität Italiens die armen Engländer einfach überforderte. Die Aufregung ist ehrenwert, der Vorwurf der Unfähigkeit zur intellektuellen Durchdringung einer fremden Kultur ist teilweise an den Autor zurückzugeben, denn mit seiner moralischen Empörung wird er einem so komplexen Phänomen wie den Engländern in Florenz kaum gerecht. Sicher gab es Chauvinismus und Intoleranz in der englischen Kolonie, aber es gab genauso andere Verhaltensmuster. Diverse Anglo-Florentiner schafften es durchaus, sich in die Sprache und Kultur des Gastlandes einzuarbeiten und waren oft wesentlich weltläufiger als die Landsleute, die auf der Insel wohnten. Englische Literaten waren nie sonderlich kunstinteressiert, die Begegnung mit Florenz veranlasste aber so manchen zum Umdenken, George Eliots renaissancistischer Roman "Romola" ist da nur ein Beispiel. Schließlich machte im 19. Jahrhundert das anglo-florentiner Dichterehepaar Elizabeth Barrett und Robert Browning Florenz zu einem Zentrum des englischen Geisteslebens, in dem es um einiges weniger provinziell als in der Weltstadt London zuging; zudem war Barrett-Browning - wie viele andere Engländer - eine dezidierte Parteigängerin des Risorgimento, also durchaus in die Politik des Gastlandes involviert. Die Liste der Gegenbeispiele ließe sich fortsetzen, zumal die aufgeschlosseneren Anglo-Florentiner, wie die Schriftstellerin Vernon Lee, nicht nur mit Italienern, sondern sogar mit den ortsansässigen Deutschen verkehrten, es also auch Ansätze einer kosmopolitischen Geselligkeit gab. Gerade in Florenz war der Kontakt zwischen Einheimischen und Fremden oft enger als anderswo in Italien, zumal Wissenschaftler immer einen wichtigen Teil der Kolonie ausmachten, die allein wegen ihrer Forschungen oft auf gute Kontakte zu italienischen Kollegen angewiesen waren. Florenz ist von alters eben nicht nur die Stadt der Kunst, sondern auch die des Geistes.

Es ist die kulturelle Abgrenzung von Florenz, die Leavitt immer wieder erzürnt. Er übersieht dabei aber, dass das Bedürfnis nach Abgrenzung von der verwirrenden Realität des Gastlandes ganz sicher nicht auf die englische Kolonie in Florenz beschränkt war, die Deutschen in Rom konnten dies genauso gut oder besser. Ein Blick in Goethes "Italienische Reise" zeigt, dass selbst dichterische Größe wenig gegen interkulturelles Desinteresse vermag, zumal es sich bei Tischbein so gemütlich im deutschen Kreis wohnen ließ. Die Deutschen in Florenz kommen bei Leavitt nur am Rande vor, einzig auf Winckelmann geht er näher ein, obwohl der nun gar nichts mit Florenz anfangen konnte. Allerdings war er homosexuell und lebte lange in Italien, was ihn für Leavitt, der ein Experte für Gay Literature ist, interessant macht. Augenzwinkernd bringt er Zitate von Madame de Staël und Walter Pater, die implizieren, dass Winckelmanns Vorliebe für das Hellenentum vor allem in seiner Liebe zu Knaben begründet gewesen sei. Leavitts maliziöse Schilderungen der homosexuellen Künstler- und Literatenszene gehören zu den besten Teilen des Buches. Strenge Gesetze im viktorianischen und postviktorianischen England trieben wohlhabende Schwule aus dem Land. In Italien und vor allem in Florenz ließ es sich dagegen relativ unbeschwert leben, was die toskanische Hauptstadt damals zum Zentrum einer kosmopolitischen homosexuellen Subkultur machte. Obwohl Leavitt auch prominente Lesben erwähnt, konzentriert sich seine Schilderung auf diverse, ziemlich mittelmäßige Schriftsteller, die ihre Kreativität in der Pflege eines ästhetizistisch-dekadenten Lebensstils auslebten, den er mit einer Mischung aus Faszination und Indignation beschreibt. Viele von diesen Schriftstellern seien eben nur chauvinistische Dilettanten gewesen, deren Werke vor allem alten Klatsch wiederkauen, moniert er; was für einen Autor, dessen eigenes Buch vor allem aus altem und neuem Klatsch über die Anglo-Florentiner besteht, ein ziemlich starkes Stück ist.

Besonders die letzten der Anglo-Florentiner, die wie der Schriftsteller Harold Acton noch im späten 20. Jahrhundert in stilvollen Villen ein pseudoaristokratisches Leben führten, Kunst sammelten, zum Katholizismus konvertierten und nicht zu ihrer stadtbekannten Homosexualität standen, werden zu Objekten eines ziemlich unfreundlichen Enthüllungseifers. Dabei ist es immer wieder der Affekt des überzeugten Amerikaners, der mit der Bildung und Überfeinerung jener Herren nichts anfangen kann und darauf ziemlich grobschlächtig reagiert. Es verwundert auch nicht, dass Leavitt immer wieder auf die Filmversion von E. M. Forsters Novelle "Zimmer mit Aussicht" zurückkommt, denn am Ende wirken seine Anglo-Florentiner so, wie die im Film karikierten prätentiösen englischen Kunstspießer.

Leavitt beendet sein Buch mit einer Distanzierung von den Anglo-Florentinern und einer leidenschaftlichen Liebeserklärung an das wahre Florenz. Darüber, was wahre Florentiner Kultur ist, haben sich die Experten seit Jahrhunderten gestritten, sicher ist aber, das die Anglo-Florentiner, ob man sie nun sympathisch findet oder nicht, zur Kulturgeschichte der Stadt gehören. Eigentlich ergeht es Leavitt in seinem Buch so, wie den Amerikanern aus den Romanen des zeitweiligen Anglo-Florentiners Henry James: sie lieben Italien und seine Kultur heiß und innig, scheitern aber regelmäßig beim Versuch, sich diese zu erschließen.

Titelbild

David Leavitt: Gebrauchsanweisung für Florenz.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel.
Piper Verlag, München 2003.
160 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3492275192

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