Ein Prophet in barbarischen Zeiten

George Orwell zum 100. Geburtstag

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

"Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere", so lautet der wohl bekannteste Satz aus George Orwells Fabel "Animal Farm". Eine vermeintlich schicksalhafte Formel, gegen die der englische Schriftsteller zeit seines Lebens aufbegehrte. Unermüdlich kämpfte er für das "comradeship", für einen menschlichen und gerechten Sozialismus und gegen die faschistoiden Auswüchse der totalitären Regime. Mit seinen Werken wollte er die Menschen zu einer selbstständigen, kritischen Denkweise erziehen, sie unempfindlicher gegen Propaganda jeglicher Couleur machen; aufgrund der immensen Popularität seiner Texte wurde er zu einer der wichtigsten und einflussreichsten Stimmen des Jahrhunderts.

George Orwell wurde am 25. Juni 1903 als Eric Arthur Blair in Motihari geboren, einem indischen Dorf an der nepalesischen Grenze. Sein Vater, Beamter im Opium Department der britisch-indischen Kolonialverwaltung, und seine um achtzehn Jahre jüngere Frau Ida Mabel lebten bis 1907 in Indien, siedelten dann aber nach Henley, England über. Die Familie war nicht gerade reich, er selbst bezeichnete sie später als "lower-upper-middle-class", schickte ihren Sohn aber auf traditionsreiche Eliteschulen wie Wellington und Eton, wo er beileibe nicht zu den Besten gehörte: er schloß als 138. von 167 Schülern ab.

1922 schloss er sich der Indian Imperial Police an und diente fünf Jahre als "Rädchen des Imperialismus". Die Erlebnisse in Burma während seiner Dienstzeit brachten ihn zu der Erkenntnis, dass er selbst ein politisches System unterstützte, an dem er massiv zweifelte. In "The Road to Wigan Pier" (1936) schrieb er, er wollte "jeder Form von Herrschaft über andere Menschen" entkommen. Zurück in London sah er, dass auch in der Hauptstadt des mächtigen Empires die Unterdrückung mit den Händen zu greifen war. Die englische Klassengesellschaft gab ein Negativbeispiel par excellence ab, die Arbeiterklasse hungerte, einige wenige Privilegierte hatten geradezu unumschränkte Macht.

In London und Paris lebte Blair unter Armen und Obdachlosen, mietete sich in schäbigen Absteigen ein und arbeitete darauf hin, sich seinen Traum zu erfüllen und Schriftsteller zu werden. Im Oktober 1930 vollendete er sein Manuskript "Down and out in Paris and London", das er mehreren Verlegern anbot, damit aber keinen Erfolg hatte. Mabel Firez, eine Freundin, erhielt von ihm den Auftrag, das Manuskript zu vernichten, was sie aber nicht tat. Stattdessen übergab sie das Konvolut einem befreundeten Literaturagenten, der das Werk mit einigen wenigen Änderungen akzeptierte und eine Veröffentlichung ermöglichte. Blair hatte aber eine Bedingung, er wollte das Buch unter Pseudonym veröffentlichen, er wollte im Falle des Misserfolges "keine Reputation verlieren." Dies dürfte aber nicht nur der einzige Grund sein, vielmehr wollte er sich bewusst von seinem alten Leben als Eric Blair, Etonschüler und Kolonialpolizist, absetzen und sich als George Orwell, klassenloser Klassenkämpfer, etablieren. "Down and out in Paris and London" war ein Versuch, der englischen Mittelklasse den Spiegel vorzuhalten und sie auf das Schicksal derjenigen hinzuweisen, die ihren Wohlstand und ihr Leben erst ermöglichten, der sogenannten "lower class". Auch sein Buch "The Road to Wigan Pier" beschäftigte sich mit der Situation der Arbeitslosen und der Minenarbeiter im Norden Großbritanniens. Den Widerspruch zwischen seiner Existenz als "bürgerlicher Schriftsteller" und der Solidarität zum englischen Proletariat war für ihn eine schmerzliche Erfahrung.

Ein Schlüssel für Orwells weitere Entwicklung war sein Engagement im spanischen Bürgerkrieg. Ende 1936 ging er nach Barcelona und schloss sich der Miliz des Partido Obrero de Unificacion Marxista (POUM) an, die gegen den faschistischen Aufstand Francos und für die sozialistische Republik kämpfte. Orwell war fasziniert von der Atmosphäre in der Stadt, der Aufhebung der Klassen. Der Sozialismus erschien als eine Möglichkeit, für die es sich zu kämpfen lohnte. Bald stellte sich aber Ernüchterung ein, die POUM wurde von der moskauhörigen Partido Socialista Unificado de Cataluña (PSUC) aufgelöst, die Politik der PSUC war - nicht nur für Orwell - ein Verrat am Sozialimus. In "Mein Katalonien" (1938) prangerte er die stalinistischen Auswüchse und Säuberungsaktionen an und kritisierte die kritiklose Haltung der englischen Linken gegenüber der sowjetrussischen Propaganda. Diese Auseinandersetzung - oder besser Nichtauseinandersetzung - innerhalb der Linken bestärkte Orwell in seinem Engagement "gegen den Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus" (in "Why I write", 1946). Auch in seinen beiden bekanntesten Büchern, "Animal Farm. A fairy tale" (1945) und "Nineteen-eighty-four" (1949) sollte er die stalinistischen Fehlentwicklungen des Kommunismus angreifen. Nach einer Verwundung floh er zusammen mit seiner Frau aus Spanien und kehrte nach England zurück. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges meldete er sich als Freiwilliger, um gegen die "faschistischen Feinde" zu kämpfen, wurde aber aufgrund seines Gesundheitszustandes als untauglich befunden. So arbeitete er für die BBC zwei Jahre lang als Reporter und wechselte 1943 als Literaturredakteur zur "Tribune".

Die zu dieser Zeit begonnene Fabel "Animal Farm" war von Orwell als antistalinistische Satire konzipiert, um die englische Linke über die "Korruption der ursprünglichen Idee des Sozialismus" zu unterrichten und eine "Wiederbelebung der sozialistischen Bewegung" einzuleiten. Diese Intention Orwells wurde im beginnenden Ost-West-Konflikt konsequent missdeutet. "Animal Farm" wurde von den westlichen Mächten als strikt antikommunistisch angesehen, das Buch war fester Bestandteil der politischen Umerziehung des faschistischen Deutschlands. Der Autor machte sich aber an eine fiktionale Erklärung für das Scheitern der sozialistischen Revolution: der Herrschaft intellektueller Eliten über das Volk, das, künstlich und bewusst dumm gehalten, mittels einer subtilen, totalitären Propaganda manipuliert wird. Die positiven, revolutionären Errungenschaften werden von der herrschenden Elite nach und nach zunichte gemacht, das System wird zunehmend totalitärer und ergeht sich schließlich in offenem Terror. Die Parallelen zu Stalin sind unverkennbar, sei es in der Propaganda, die noch jeden Fehlschlag ins Positive umdeutet, oder im Aufbau eines Feindbildes, etwa die Gleichsetzung Snowballs mit Trotzki.

Diese Auseinandersetzung mit dem Sozialimus prägte auch die Dystopie "1984", die bereits 1943 geplant, erst nach Ende des Krieges 1949 erschien. Auch dieses Buch wurde als Schullektüre oft ideologisch gelesen und als strikt antikommunistisch angesehen, erst in den 1980er Jahren wurde der Roman auch in der Forschung differenzierter diskutiert. Die Handlung scheint auch nur auf den ersten Blick ausschließlich pessimistisch, das Scheitern der Revolution ist bedingt durch diverse Umstände. Der Kult um den Großen Bruder und die Lehre des Engsoz drängen auch hier wieder den Vergleich mit Stalin auf. Die krude Dialektik "Unwissenheit ist Stärke. Freiheit ist Sklaverei. Krieg ist Frieden" und die streng reglementierte Neusprache zeigen die Macht des Wortes und der Propaganda. Könnten diese Umstände beseitigt werden, so wäre eine erfolgreiche Revolution durchaus möglich und erfolgreich.

Auch persönlich gab Orwell die Hoffnung auf die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft nicht auf, noch in "Toward European Unity" (1947) stellte er ein detailliertes und durchdachtes Programm vor. Am 21. Januar 1950 starb er in London an einer Lungenerkrankung. Auch heute noch ist das Werk Orwells sehr populär, auch heute noch sind seine Thesen und Beobachtungen immens wichtig und aktuell. Man denke nur an die stalinistischen Regimes in Nordkorea und Vietnam, und auch angesichts der negativen Seiten des socialismo tropical von Fidel Castro und der allmählichen Preisgabe revolutionärer Errungenschaften sieht man sich an "Animal Farm" oder die Repressalien in "1984" erinnert. So bleibt Orwell auch in der jetzigen Zeit, was er sein Leben lang war, ein Mahner vor dem Missbrauch politischer Macht und eine Hoffnung für die Linke auf der Suche nach dem richtigen Weg.