Geschlechterforschung als Teil der Frauenforschung

Evelyn Tegeler über die Soziologin Helge Pross als Vorreiterin des Gender-Mainstreaming

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob die "Frauengruppen" der 70er Jahre wirklich nicht mehr als "manchmal interessante, häufig langweilige, in jedem Fall wirkungslose Sekten" waren, wie die 1984 im Alter von nur 57 Jahren verstorbene Soziologin Helge Pross seinerzeit meinte, scheint doch etwas fraglich. Unbestritten dürfte hingegen Evelyn Tegelers Feststellung sein, dass das Verhältnis zwischen der Wissenschaftlerin und der Frauenbewegung durch beiderseitige "Vorbehalte, Pauschalisierungen, Vorurteile bis hin zu polemischen Angriffen und Beleidigungen" geprägt war.

Pross, in den 50er Jahren Assistentin in Frankfurt zunächst bei Horkheimer, später bei Adorno, und in den 60er und 70er Jahren selbst Inhaberin von Professuren in Gießen und Siegen, war zwar alles andere als eine Antifeministin, doch unterschied sich ihre Position von den radikalen Forderungen weiter Teile der Frauenbewegung dadurch, dass sie die "Gleichstellung der Frau" innerhalb des "bestehenden Gesellschaftsgefüges" und "unter größtmöglicher Beibehaltung der strukturellen Bedingungen" anstrebte. Hierfür stritt die Wissenschaftlerin nicht nur in der "Zeit" und im "Spiegel", sondern auch in einer regelmäßigen Kolumne der von feministischer Seite heftig kritisierten Frauenzeitschrift "Brigitte". Durch dieses Engagement zeichnet sich die "Gleichheitstheoretikerin" Helge Pross als "Vordenkerin des Gender-Mainstreaming" aus, wie die erste der beiden zentralen Thesen einer Pross gewidmeten Monographie Tegelers lautet. Zudem habe Pross in ihren empirischen Untersuchungen - so die zweite These - "Vordenkerarbeit" für die Geschlechterforschung geleistet und einige "grundlegende Hypothesen" der Gender-Theorie vorweggenommen. Aus beiden Gründen seien die Ausführungen der Soziologin noch heute aktuell.

Zur Untermauerung ihrer beiden Thesen zieht die Autorin nicht nur zahlreiche Publikationen aus der Feder von Helge Pross heran, sondern auch deren umfangreichen Nachlass, der in dieser Arbeit erstmals ausgewertet wird. So gelingt Tegeler der vielfache Nachweis, dass es eines der zentralen Anliegen der ebenso umtriebigen wie produktiven Soziologin war, "'Frauenfragen' nicht als isolierten Komplex von Problem- und Fragestellungen zu untersuchen, die lediglich Frauen betraf[en] bzw. von ihnen erörtert wurde[n], sondern sie aufzubrechen und als Fragestellungen beider Geschlechter zu begreifen". Wieso Tegeler Pross - die sich, wie die Autorin wiederholt betont, "niemals als Frauenforscherin bezeichnet hätte" - par tout und gerade unter Bezugnahme auf deren "Geschlechterrollentheorie" "im Feld der 'Frauenforschung'" verorten will, bleibt allerdings rätselhaft. Weist der Forschungsansatz von Pross, wie Tegeler selbst nachdrücklich aufzeigt, doch gerade über das verhältnismäßig enge Feld der Frauenforschung hinaus und hin zum weiten Feld der Geschlechterforschung.

Titelbild

Evelyn Tegeler: Frauenfragen sind Männerfragen.
VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Leverkusen 2002.
252 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3810036013

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