Textbilder

Eine anregende Sammlung von Aufsätzen zur europäischen visuellen Lyrik von den frühesten Zeiten bis in die Gegenwart

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Katalog zu einer Wolfenbütteler Ausstellung und insbesondere mit seiner grossen Arbeit "Carmen figuratum" (1991) hat Ulrich Ernst eine äußerst vielgestaltige und traditionsreiche Gattungsgeschichte zwischen Bild und Gedicht nachhaltig in das Gedächtnis der deutschsprachigen Literaturwissenschaft gehoben. Wiewohl seit den fünfziger Jahren von der Nachkriegsavantgarde im Gefolge der frühen Moderne als 'neue', 'radikale' Infragestellung der Schriftordnung exponiert und mit entsprechendem Interesse von Lesern und Literaturwissenschaftlern goutiert, zeigen die hier versammelten Aufsätze Ernsts, dass mit diesen Beispielen der "Konkreten Poesie" nur die Spitze eines tief in die europäische literarische Tradition reichenden Eisberges aus unterschiedlichsten Texten wahrgenommen wird. Wie eine genauere Untersuchung auch im Falle der klassischen französischen, osteuropäischen und italienischen Avantgarde zeigt, speisten deren Bildphantasien und Textmanöver sich aus längst vergessen geglaubten Techniken seit dem Anfang europäischer Entwicklung.

Mit einem Altargedicht des Dosiadas von Kreta aus der Epoche des Hellenismus beginnend, führen die Beiträge informativ und sehr materialreich über die mittelalterlichen Kreuzgedichte z. B. eines Hrabanus Maurus und des Bonifatius oder Abaelardus zur Blütezeit der Bildgedichte in der Frühen Neuzeit. Im Mittelalter übte naheliegenderweise die Form des Kreuzes eine besondere religiöse Faszinationskraft auf die erfindungsreichen Schreiber und Dichter aus, und ließ häufig das christliche Ikon als Intext oder optische Gestaltung erkennen. Aufgrund zahlensymbolischer Überlegungen diente es als komplexe Meditationsfigur einer über den Text hinausreichenden Ansprache des Lesers, fand aber, wie ein Übersichtsaufsatz zeigen kann, bis hin zu Yvan Goll und Ernst Jandl das Interesse auch nicht explizit religiös argumentierender Autoren. Ebenfalls häufigere Verwendung fand die Figur der Pyramide, wie in zwei Aufsätzen ausführlicher dargestellt wird. Die Pyramide bot den Autoren mehrere Interpretationsebenen: sie stand für die alte Baukunst der Ägypter, symbolisierte das göttliche Dreieck, konnte als pyramis inversa die verkehrte Welt oder den Untergang alles Irdischen meinen oder sexuelle Anspielungen enthalten. In der Frühen Neuzeit wurde ein älteres Motiv für den Gebrauch der Pyramide häufig hervorgehoben: sie stand für den Verfall des in Stein auf scheinbar ewige Zeiten konservierten menschlichen Werkes, wohingegen die Lyrik, im scheinbar ephemersten Medium bewahrt, die Epochen überdauert.

Auch im Falle des Labyrinths hat eine architektonische Form ihre Fortsetzung in der zweidimensionalen Darstellung durch Textgraphik gefunden. Der entsprechende Aufsatz folgt der reichen Ikonographie und literarischen Motivik der text-und lesepermutativen Produktion von Irrgärten. Nicht nur von hier führt der Gang der Argumentation auf die verschiedenen Formen des Lesens, die in einem weiteren Aufsatz an den manieristischen Repräsentationen von Texten mit wunderbaren Beispielen ihre Darstellung finden. Denn verständlicherweise funktionieren die textgraphischen Erfindungen nur, wenn die lineare fortlaufende Lesart aufgebrochen wird und zahlreichen anderen Möglichkeiten der Lektüre spielerisch sich öffnet. Dies ist bis in die experimentellen Ausbruchsversuche der provokativen "Konkreten Poesie" der Nachkriegszeit so geblieben. Gewandelt hat sich jeweils der theoretische, metaphysische, religiöse Kontext, aus dem heraus solche visuelle Überschreitungen von Textgrenzen ihre Begründung fanden. Es ist ein weiteres Verdienst der Arbeiten Ernsts, dass er gerade diesen Zusammenhängen immer wieder grosse Aufmerksamkeit schenkt. Dazu gesellt sich der andere Grundzug dieser Geschichte der visuellen Poesie, der in der medialen Spezifizität der Textbewahrung im Laufe der Jahrhunderte zu erkennen ist. Denn seit der Erklärung der frühen Technopägnien als auf Eier oder Vasen geschriebener Texte hat die materielle Organisation des Textes bedeutenden Einfluss auf die Möglichkeiten zur visuellen Variation der graphischen Tektonik.

Es bleibt zu wünschen, dass nach dieser Publikation der vor 1991 entstandenen wichtigsten Aufsätze auch die jüngsten Arbeiten Ernsts zusammengestellt zur Verfügung stehen.

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Ulrich Ernst: Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2002.
324 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3503061509

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