Im Saal der Aquarien

Patrick Modianos Roman "Die Kleine Bijou"

Von Marion GeesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Gees

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Laufband der Metrostation Châtelet sieht eine junge Frau, die man noch ein Mädchen nennen könnte, eine ältere Frau in einem gelben Mantel. Die mysteriöse Frau geht weiter in einen Metrogang mit der Richtungsangabe "Château de Vincennes". Das Mädchen ist sich blitzartig sicher, dass es ihre Mutter ist, die sie für tot gehalten hatte, eine gescheiterte Tänzerin, die vor langer Zeit fortgegangen war, angeblich nach Marokko, und das Kind zurückgelassen hatte in einer Welt taumelnder Ungewissheit. Diese Ungewissheit scheint mit dem Auftauchen der vermeintlichen Mutter nun erneut die verlassene, unbehauste Tochter, die früher die kleine Bijou genannt wurde und die nun neunzehn ist, zu besetzen und ihre Handlungen beinahe schlafwandlerisch zu bestimmen. Sie folgt der Frau im gelben Mantel in die Metro, sie tauschen Blicke aus, aber nur flüchtig und unverbindlich wie sich gemeinhin Blicke von Fahrgästen in der Metro streifen, sie folgt ihr bis in die Vorstadt, wo die Frau zu wohnen scheint, sie beobachtet sie in einem Café und später auf ihrem Nachhauseweg. Von nun an tritt das Mädchen über mehrere Wochen diesen Weg an, kehrt mehrmals zurück an diesen Ort, wohl mit dem Wunsch dieser Frau, die im Viertel - wie wir nebenbei erfahren - "Täusche den Tod" genannt wird, gegenüberzutreten.

Ein Familiendrama oder ein Familiengeheimnis, das Auflösung verspricht? Eine solche an psychoanalytischen Tiefenschärfen orientierte Lesererwartung wird hier enttäuscht, obwohl durchaus eine Figur in einer sich zuspitzenden Krise vorgestellt wird. "Es handelt sich", so Patrick Modiano selbst über seinen Roman, "um einen Wachtraum, der sich gelegentlich in einen Alptraum verwandelt. Die Stadt selbst, die Straßen in denen sich die kleine Bijou befindet, sind 'surreal'. Dies auch, weil die Hauptfigur in einem Zustand der Krise ist, von Anfang bis zum Ende des Romans." Von Anfang an ist es vor allem die Art des Erzählens dieser unschuldigen Kinderstimme, die die besondere Surrealität über diesen Text legt, der zugleich in einer auffällig transparenten, klaren und eher Oberflächen als Psychopathologien abtastenden Sprache erzählt. Die von der Erzählerin angestimmte kindlich-melancholische Tonlage, die durchzogen ist von blitzartigen Einbildungen, erzeugt einen Sog, von dem man sich als Leser kaum mehr loslösen kann.

Die Figur bewegt sich derart orientierungslos durch das Leben wie auch durch Paris, dass sie nicht fähig ist, überhaupt eine Spur entschieden zu verfolgen. Einmal angekommen vor der Tür der Wohnung der Frau mit dem gelben Mantel, kurz vor dem vermeintlichen Ziel also, verlässt sie das Haus schnellen Schrittes wieder, beinahe erleichtert, dem "Sumpf" der Vergangenheit entkommen zu sein. Selbst an dieser für kurze Momente Hoffnung und Klarheit verheißenden Passage des Romans, führt der Autor seine Protagonistin, wie auch den Leser, wieder in eine Ungewissheit, die beide umtreibt, bis zum Ende des Romans und darüber hinaus.

Weitere Figuren tauchen auf, die Wege und Lösungen zu eröffnen versprechen und andere, durch die in diversen Déjà-vu-Erlebnissen die Verlorenheit der eigenen unglücklichen Kindheit jäh wieder auftaucht. So trifft sie eine Apothekerin, die sich, aufmerksam geworden auf das verloren wirkende Mädchen, einfühlsam, mütterlich-freundschaftlich um sie kümmert, voller "Sanftmut und Festigkeit". Sie lernt einen jungen Mann namens Moreau-Badmaev kennen, der viele Sprachen spricht, u. a. das "Persisch der Steppe", einer Sprache, die in ihrem Klang "etwas vom Streifen des Winds im Gras und vom Rauschen der Wasserfälle" habe. Er wohnt im Süden der Stadt, sie im Norden, wo sie ein ärmliches Zimmer bei der Place Blanche bezieht, von dem sie sich vorstellt, auch ihre Mutter habe es einmal bewohnt. Es sind imaginierte Spuren der Vergangenheit, an die sich die kindliche Einbildungskraft der Protagonistin hält, die sie geradezu heraufbeschwören muss, um ein Gefühl von Leben zu verspüren. Passagen von frappierender sprachlicher Einfachheit bilden die poetischen Höhepunkte des Romans:

"In der Nacht schien die Leuchtschrift der Autowerkstatt weiter unten in der Rue Coustou an der Wand über meinem Bett wider, rote und grüne Reflexe. Das machte mir nichts aus, es beruhigte mich sogar. Jemand wachte über mich. Vielleicht kamen dieses Rot und dieses Grün von sehr weit, aus der Zeit, da meine Mutter das Zimmer bewohnte, auf dasselbe Bett ausgestreckt wie ich, und wie ich auf der Suche nach Schlaf. Die Lichter gingen an, aus, an, und das wiegte mich ein, so dass ich allmählich entschlummerte. Warum hatte ich dieses Zimmer gemietet, und nicht eines in einem anderen Viertel? Nein, in ein Zimmer woanders wäre nicht dieses rote und grüne Blinken gekommen, so gleichmäßig wie das Klopfen eines Herzens, und von dem ich mir schließlich vorstellte, es sei die einzige Spur der Vergangenheit."

Und schließlich betreut sie regelmäßig ein kleines Mädchen in einem herrschaftlichen Haus am Bois de Boulogne, um Geld zu verdienen. Auch hier bestimmen Déjà-vu-Erlebnisse ihre Wahrnehmungen. Dieses Mädchen, das von ihren großbürgerlichen gefühlskalten Eltern kaum mehr wahrgenommen wird, meint sie schon einmal getroffen zu haben und "in diesen Alleen schon mit ihr gegangen zu sein". Die leeren Räume des Hauses erinnern sie an die Wohnung, in der sie als Kind mit ihrer Mutter gelebt hat. Und wer den Stadtplan von Paris genauer vor Augen hat, erkennt, dass damit nun der noch fehlende Westen durch die Figuren und die Handlung topographisch besetzt wird. Ein geographisch exaktes und zugleich imaginäres Koordinatensystem, dass seinen Ausgang genau in der Mitte der Stadt, in Châtelet, nimmt, zieht seine Kreise in alle Himmelsrichtungen der Stadt und bildet so einen vermeintlich überschaubaren Rahmen. Die exakte Topografie von Paris, die Namen der Straßen und Quartiers, durch die sich die Hauptfigur bewegt, scheinen in diesem Buch den einzigen Halt zu bieten, aber auch diese erweisen sich als Trugschluss. Wie in anderen Romanen Modianos wird Paris, das als allegorischer Raum der Verlassenheit durchstreift wird, zu einem faszinierenden geheimnisvollen Mikrokosmos menschlicher Suchbewegungen und Aporien.

Die bisherigen einstimmig positiven Kritiken der großen Zeitungen des unlängst in deutscher Übersetzung von Peter Handke erschienenen Romans, der in eindrücklicher Weise die Melancholie der Moderne fortleben lässt, verweisen durchgängig auf die Stilmittel des Aussparens, des nur Andeutens, auf das Zwischen-den-Zeilen-Erzählte, auf die Räume der Spekulation, die den Text bis zum Schluss in einer Rätselhaftigkeit belassen, die, würde man sich noch weitaus länger gedanklich davon besetzen lassen, beinahe bedrohlich wirken könnte. Modianos "Meisterschaft in narrativer Ökonomie bringt ihn dazu, «Technik» oder «Stil» zurückzunehmen in die Verinnerlichung (...). Die Eindringlichkeit des Textes verdankt sich all dem Ungesagten, das zwischen den Worten und den Zeilen lagert - wie eine Materie, so schmerzempfindlich, dass niemand daran rühren darf" (so Barbara Villinger Heilig in der NZZ). Ein Buch, "das umso unheimlicher wird, je länger man sich mit ihm beschäftigt" (Christoph Bartmann in der SZ). Und dies trotz (oder gerade wegen?) einer gleichzeitigen Schwerelosigkeit, einer Leichtigkeit und eines so wenig von Innerlichkeit strotzenden Gestus eines Erzählens, der schon seine früheren Romane auszeichnet, von denen mittlerweile einige in hervorragenden deutschen Übersetzungen von Handke und Elisabeth Edl vorliegen.

Am Ende des Romans erwacht die Protagonistin nach einem Selbstmordversuch in einem mysteriösen Raum, in dem sie um sich herum kleine Aquarien wahrnimmt. "Ich fragte mich, was diese Schatten in den Aquarien wohl darstellten. Später wurde mir erklärt, es habe keinen Platz mehr gegeben, und so sei ich in den Saal der Frühgeburten gelegt worden. Noch lange habe ich das Brausen der Wasserfälle gehört, als ein Zeichen, dass auch für mich, von diesem Tag an, das Leben begann." Diesen Neubeginn sich in seinen möglichen Facetten auszumalen, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen.

Titelbild

Patrick Modiano: Die kleine Bijou. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Peter Handke.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
152 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3446202722

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