Eine Poetik der Amnesie?

Neil H. Donahue untersucht Karl Krolows Werk

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer über das Verhalten einzelner Personen im deutschen Faschismus schreibt, begibt sich auf vermintes Gelände, auch heute noch. Die Macht der Täter und Mitläufer, von denen die meisten spätestens im Kalten Krieg ihre Positionen wieder besetzten, ist zwar aus biologischen Gründen gebrochen, und ihre Schüler und Anhänger haben nur noch in Einzelfällen die Möglichkeit, Karrieren von Kritikern zu zerstören. An die Stelle der alten Risiken treten aber neue, nun im Bereich des Intellektuellen.

Die eine Gefahr ist die der moralisierenden Verurteilung. Sie war wichtig vor Jahrzehnten, als es darum gehen musste, die alten und neuen Machthaber zu attackieren. Mittlerweile kann sie auch eine fragwürdige Selbstvergewisserung bedeuten, kann sie die Illusion befördern, man sei heute vor Fehlverhalten gefeit. Der Erkenntnisgewinn über die Funktionsweise einer Diktatur, um den es nun gehen müsste, bleibt dagegen gering. Während jedenfalls die moralische Empörung alleine heute zum Ahistorischen tendiert, so führt, zweite Gefahr, die historische Erklärung alleine zur Bagatellisierung der Verbrechen. Historistisch alles aus seiner Zeit zu verstehen bedeutet einen Wertrelativismus, der Geschichte als Verlauf leugnet.

Geht es um Intellektuelle, um Künstler oder Wissenschaftler, so tritt eine weitere Problematik auf. Soll man vor allem das im engeren Sinne politische Verhalten werten, eine Parteimitgliedschaft, propagandistische Schriften? Oder geht es um das gesamte Werk, das politische Haltungen selbst dort beinhalten oder befördern kann, wo es auf den ersten Blick um ganz andere Themen geht?

Neil H. Donahue berücksichtigt in seiner Untersuchung zu Karl Krolow beide Aspekte. Den gelungeneren Teil bildet dabei der eher biographische, der auf umfangreichen Archivstudien beruht. Bemerkenswert ist die Diskrepanz zwischen den Angaben, die Krolow vor und nach Kriegsende machte. Stützte er sich vor 1945 auf eine Parteimitgliedschaft, Teilnahme an der Hitler-Jugend, eine kurzfristige Tätigkeit als Blockwart, und gab er sich sogar als "Referent (K) beim Reichsführer SS" aus, so verschwieg er im ersten Fragebogen nach der faschistischen Niederlage sämtliche Aktivitäten. Er hatte Pech: Die Alliierten verfügten über die früheren Informationen, und so musste er sich zusätzlich wegen "Fragebogenfälschung" verantworten. Als Ausweg blieb die Verharmlosung. Krolow beschrieb sich nunmehr lediglich als Parteianwärter, denn er sei nie vereidigt worden; in die HJ sei er lediglich für kurze Zeit als Angehöriger einer zwangsweise angeschlossenen Schüler-Spielschar geraten; als Blockwart habe er ein paar Wochen lang einen Freund vertreten, teils aus Gefälligkeit und teils um umlaufende Vedächtigungen zu widerlegen, er sei gegen das Regime; die Referententätigkeit stellte er als Ferienjob eines wehrdienstunfähigen Studenten dar, der nur Artikel über den "kulturellen Aufbau" in Oberschlesien herausgesucht und archiviert habe.

Irgendwo ist mindestens eine Lüge; vielleicht die eines Mannes vom Jahrgang 1915, der nicht an die Front wollte, vielleicht die eines gut dreißigjährigen Schriftstellers, der endlich wieder publizieren mochte. Donahue bleibt vorsichtig und entscheidet nicht, wo die Lüge ist. Statt zu skandalisieren, belässt er im Ungewissen, was anhand der überlieferten Materialien nicht zu klären ist. Zu Recht verweist er darauf, dass jemand ganz ohne das Vertrauen der Nazis kaum als Blockwart und Kulturreferent hätte agieren können. War Krolow einerseits wohl kein fanatischer Täter, so war er andererseits auch wohl nicht der abseits stehende Wortkünstler, zu dem er sich später stilisierte.

Doch will Donahue keine Biographie Krolows schreiben, sondern sich auf das Werk konzentrieren. Die Frage, wie Krieg und Gewalt vor und nach 1945 in Krolows Gedichten auftauchen, ist hier in der Tat zentral. Mitläufer, die dann keine mehr gewesen sein wollten, gab es zu Millionen, doch ist Krolow für seine Dichtung berühmt. Diese Dichtung also gilt es zu befragen.

Zu einer brauchbaren Antwort kommt Donahue für das umfangreiche Frühwerk, das Krolow später nicht in seine "Gesammelten Gedichte" aufnahm. Wenige Phrasen sind darin direkt propagandistisch, unklar, ob aus Überzeugung oder Angst vor der Front. Viel scheint unpolitische Naturlyrik und lässt erst beim genaueren Blick erkennen, wie die idyllisierenden Konventionen des Genres durchbrochen werden, nämlich zu einem Kriegerischen, zu einem Lebenskampf, der der herrschenden Ideologie durchaus nicht widersprach. Donahue nimmt auch die kulturpolitische Funktion der Zeitschriften, in denen Krolow publizierte, in den Blick. So wird deutlich, dass es eine unschuldige Innere Emigration, die weiter publizierte, nicht gab. Wer etwa sich der mit kurzer Unterbrechung bürgerlich-konservativen Linie des "Inneren Reichs" fügte, bediente damit ein gesellschaftliches Segment, das Goebbels vorerst nicht vor den Kopf zu stoßen beabsichtigte. Auf den ersten 70 Seiten legt Donahue eine überzeugende Untersuchung vor.

Schwieriger wird es für die Nachkriegszeit. Krolow thematisierte sein Verhalten vor 1945 nur selten, in randständigen Bemerkungen, und dann ausweichend. Wenn Donahue, wie sein Titel ankündigt, "Karl Krolow and the Poetics of Amnesia in Postwar Germany" zu untersuchen unternimmt, so bringt diese Themenstellung ein immenses methodisches Problem mit sich. Zu zeigen ist nämlich nicht allein, wie bestimmte Stoffkomplexe in Krolows Werk fehlen, dazu bräuchte man kein ganzes Buch; zu zeigen ist darüber hinaus, wie die Verdrängung das Werk prägt, und zwar nicht das einzelne Gedicht, sondern eben Krolows Poetik. Zu zeigen ist zudem, inwiefern genau diese Poetik - und nicht nur ein gewolltes Vergessen überhaupt, dessen Dominanz in den fünfziger Jahren kaum umstritten ist - repräsentativ für die Nachkriegsgesellschaft ist.

Dies alles gelingt nur in Ansätzen. Donahue interpretiert wichtige Gedichte aus den Gedichtbänden bis hin zu "Nichts weiter als Leben" (1972) und zur Gruppe der nicht durch die Aufnahme in die "Gesammelten Gedichte" kanonisierten "Bürgerlichen Gedichte" (1970). Dabei folgt er keiner Verdachtsästhetik und verfährt äußerst behutsam, wenn er Spuren verdrängter politischer Gewalt vermutet. Nur in wenigen Fällen, etwa bei den "Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt" von 1950 oder "Der Blätter-Schütze" aus dem Band "Fremde Körper" (1959), wirkt der Bezug aufs Thema erzwungen. Häufiger ist das gegenteilige Problem der Fall: Man liest überzeugende Interpretationen der Gedichte, ohne doch mehr als zu erahnen, wie sie mit der Themenstellung zusammenhängen. Soviel man über die Wandlungen des Lyrikers Krolow durch ein Vierteljahrhundert hindurch erfährt, so enttäuschend wenig erfährt man über die Amnesie, die sein Werk doch prägen soll.

Das mag ein darstellungstechnisches Problem sein; 180 Seiten über die Abwesenheit eines Motivs zu schreiben ist mühevoll, vielleicht zu viel der Mühe. Die wenigen Muster, die sich konstant zeigen, sind schnell benannt: eine gleichzeitige Dramatisierung und Enthistorisierung von politischer Gewalt; wie konsequent Krolow enthistorisierte, zeigt Donahue in zwei der überzeugendsten Abschnitte des Buches eindrucksvoller als in den Gedichtinterpretationen: wie nämlich Krolow als Essayist und Interpret seinen Vorläufer Oskar Loerke und seinen Zeitgenossen Paul Celan zu Dichtern überhistorischer, existentieller Erfahrungen reduzierte und er zumal die Bedeutung der Shoah für Celan kaum je erwähnte.

Insgesamt aber verliert sich Donahue in Einzelinterpretationen und fasst er kaum je zusammen, was sich immerhin doch feststellen lässt. Eine der interessantesten Fragen, die das Material stellt, bleibt überhaupt unerörtert: Trotz bedeutender stilistischer Wandlungen bleibt die Art konstant, wie Krolow über seine Vergangenheit und die Mehrheit der Deutschen schweigt. Wie ist das Verhältnis von sich wandelnder Form und verdrängtem Inhalt? Sind die flexiblen Poetiken Krolows repräsentativ für eine stets neue gesellschaftliche Weise, von der Vergangenheit nichts wissen zu wollen? Und warum diese Verschiebungen?

So wenig die Verbindung von Individuellem und Allgemeinem geleistet ist, die der Titel verspricht, so wenig überzeugt der Abschluss. Wenn Donahue die vorgeblich pornographischen "Bürgerlichen Gedichte" mit den gleichfalls aus den "Gesammelten Gedichten" ausgeschlossenen Texten vor 1945 parallelisiert, ist das eine von einer Äußerlichkeit nahegelegte Willkür. Die kalte Schilderung gewalthafter Sexualität im späteren Zyklus beinhaltet durchaus ein Moment des Protests. Krolow, so erkennt Donahue richtig, ist hier trotz der Gleichzeitigkeit kein Propagandist einer sexuellen Befreiung wie die 68er. Er beschreibt zutreffend die Reduktion, die eintritt, wenn man das frühere moralische Pathos beiseitelässt, aber im Rahmen des Warentauschs bleibt. Bezogen auf Alexander und Margarete Mitscherlich Krolow "Abzug der Affekte", "auffallende Gefühlsstarre" oder "Unfähigkeit zum Mitgefühl überhaupt" vorzuwerfen, verkennt die Wirkungsweise von Literatur; denn der Autor muss nicht ausrufen, wie schlimm etwas ist, sondern kann es mit seinen Mitteln dem Leser zeigen. Eben das leistet Krolows Zyklus, der darin eben, bei aller sexuellen Direktheit, geradezu anti-pornographisch und jedenfalls das Gegenteil einer Verdrängung von Gewalt ist.

Ein Fazit? Für die Zeit bis zu Krolow Entnazifizierung liefert Donahue wichtige biographische Informationen, seine Interpretation des Frühwerks überzeugt. Für das Nachkriegswerk bleiben anregende Fragestellungen, die hier aber kaum zufriedenstellend beantwortet sind; eine Folgearbeit wäre wünschenswert.

Titelbild

Neil H. Donahue: Karl Krolow and the Poetics of Amnesia in Postwar Germany.
Camden House, Rochester 2002.
285 Seiten,
ISBN-10: 1571132511

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