Erlebt die philosophische Anthropologie eine Renaissance?

Eine Festschrift für Helmut Fahrenbach

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der modernen Technikentwicklung hat die philosophische Ethik bekanntlich ihre liebe Not. Einerseits findet sich der Berufsethiker in der angenehmen Lage, immer wieder neu als Experte in Sachen Technikverträglichkeit konsultiert zu werden. Ihm obliegt die Klärung der Frage nach den Kriterien verantwortlichen und gerechten Handelns: was sich "verantworten" lässt, das darf dann auch "gemacht" werden. Andererseits befindet sich die Ethik in einer schwierigen, weil nur reagierenden Position: der Verlauf der Modernisierung scheint ihr ein vorgegebenes Faktum zu sein, das lediglich nachträglich auf moralische Qualität überprüft werden kann. Hinzu kommt, dass sich die ethische Reflexion auf die Anthropologie als philosophische Disziplin zurückgeworfen sieht, sobald unverkennbar wird - wie im Kontext der Biotechnologie -, dass der Mensch selbst zum Gegenstand der Technik avanciert. Somit verschiebt sich die Begründungslast für den Maßstab einer angemessenen moralischen Beurteilung der Technikentwicklung von der deontologischen Ethik hin zu einer anthropologisch fundierten Ethik.

Mit diesem allerorts verkündeten notwendigen Rückgang auf die philosophische Anthropologie befinden wir uns im Herrschaftsbereich von Helmut Fahrenbach. Kein anderer hat im Nachkriegsdeutschland so vehement die Anthropologie ins Zentrum der theoretischen und praktischen Philosophie gestellt. Fahrenbach hat das bei Helmuth Plessner erreichte Reflexionsniveau im Durchgang durch die Kritische Theorie und die Existenzphilosophie festgehalten und auf integrative Weise für die neuen Entwicklungen im Bereich der Philosophie (und in verwandten Fächern) anschlussfähig gemacht. Wer sich heute auf die Anthropologie in moralisch-praktischer Absicht wieder besinnt, der wird seine Anstrengungen an Fahrenbachs kritischer Reflexion messen lassen müssen. Ethik ohne Gesellschaftstheorie ist demnach ein Unding, die Etablierung einer bloß eigenschaftslogischen Anthropologie ein Rückfall in längst überholte Zeiten.

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbands gehen auf ein Symposion Ende 1998 zurück, das anlässlich des 70. Geburtstags von Helmut Fahrenbach in Tübingen veranstaltet wurde. Neben Fahrenbachs grundrissartiger Rekonstruktion seines eigenen Philosophierens, die immerhin ein Viertel des Buches füllt, findet die neugierige Leserin nach einer etwas müden Einleitung Vortragstexte von so bekannten Philosophen wie Dieter Henrich, Ernst Tugendhat und Axel Honneth. Das Themenspektrum ist breit und doch im "Bezugsrahmen" der Fahrenbachschen Forschungsarbeiten zu lokalisieren. Es reicht von "Grundfragen einer ökologischen Ethik" (Lothar Schäfer), Heideggers Auslassung einer ethischen Bewertung eigentlichen Selbstseins (Ernst Tugendhat) und Henrichs Streit um die Metaphysik - über die historisch-genetische Theorie der Moral als biologische Anthropologie (Günther Dux), die anthropologische Erweiterung der Diskursethik (Axel Honneth) und "didaktische Reflexionen im Anschluss an Wittgenstein" (Meinert Meyer) - bis hin zu Problemen einer ästhetischen Existenzform (Eberhard Braun, Jörg Zimmermann).

Beginnen wir mit der Hauptsache, nämlich Fahrenbachs Selbstpräsentation, und blenden an passenden Stellen Überlegungen der "Festredner" ein. In Anlehnung an Kants "Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung" nimmt Fahrenbach die Frage nach dem Wesen des Menschen im Sinne einer genuin philosophischen Anthropologie auf. Dabei verknüpft er auf eigentümliche Weise Existenzdenken und Gesellschaftsanalyse der sozialistischen Theorietradition - in deutlicher Anlehnung an Herbert Marcuse, an den späten Sartre, aber auch an Plessner und die strukturelle Verklammerung des Historisch-Politischen und Natürlich-Biologischen. An zentraler Stelle heißt es: "Die anthropologische Frage: was ist der Mensch? fragt nach der 'ganzen Bestimmung des Menschen'. Damit wird der Mensch nicht von dem her definiert, was er vermeintlich 'ist', sondern auf das hin entworfen, was er in pragmatischer und vor allem moralisch-praktischer Hinsicht aus sich selbst machen kann und machen soll, wozu er sich also selbst bestimmen muss."

Laut Fahrenbach sind die anthropologischen Grundbegriffe per se Strukturbegriffe eines niemals abgeschlossenen und "kulturspezifisch" verlaufenden Werdens, so dass es prinzipiell unmöglich ist, die Einheit des Menschen als Aufhebung der differentiellen Vielheit anthropologischer Bestimmungen zu konzipieren. Merkmalsorientierte Anthropologie überhaupt besitzt keinen philosophischen Status, wie schon Heidegger deutlich zu machen wusste. Der Mensch ist wesentlich durch seine Offenheit charakterisiert: das "nicht festgestellte Tier" - oder, wie Tugendhat in seinem Beitrag unterstreicht: das nicht fest verdrahtete Lebewesen ("we are not hardwired"). Unter Verwendung der Plessnerschen Terminologie heißt es dazu im Text von Fahrenbach: "Während das Tier aus dem Zentrum seiner Position lebt, erlebt sich der Mensch als Zentrum seiner leiblichen Positionalität und ist dadurch zugleich aus ihr herausgesetzt, ex-zentrisch, ohne sie jedoch aufheben zu können."

Die Strukturformel der "exzentrischen Positionalität" legt Fahrenbach mit Blick auf Heidegger "daseinsanalytisch" aus. Der Mensch ist nicht gegeben, sondern "sich aufgegeben", sofern er sich verstehend zu sich verhält, indem er sich auf die Möglichkeiten seines Seinkönnens hin entwirft. Es ist zutiefst problematisch, so Fahrenbach, mittels inhaltlicher Bestimmungen des Wesens des Menschen diesen Möglichkeitssinn auszuschalten. Das bedeutet nicht, eine weltlose Innerlichkeit anzunehmen, die sich jeder Bestimmung entzieht. Mit Heidegger verweist Fahrenbach auf das menschliche "In-der-Welt-sein", auf die (gesellschaftlich konkretisierte) Lebenswelt und ihre determinierende Kraft der Faktizität des Daseins. Mit Bezug auf Gehlen wird diese Lebenssituation anthropologisch gedeutet: ",Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt' und die natürliche Unsicherheitslage seiner Existenz 'künstlich', d. h. im selbstgebildeten und doch objektiven Gefüge seiner kulturell-geschichtlichen Lebenswelt ins Gleichgewicht zu bringen suchen muss." Die von allen angestrebte Selbstverwirklichung gewinnt dabei ihre Orientierung an der "Idee der Humanität als Inbegriff eigentlichen Menschseins."

Hiermit kommen wir zum Problembereich der Moral. Im Anschluss an Kierkegaard interpretiert Fahrenbach die existentielle Situation, sich selbst zu wählen, für bestimmte Seinsmöglichkeiten zu entschließen, als immer schon ethisch eingefärbt. Es ist nicht möglich, die ethische Dimension aus dem Selbstverhältnis des Menschen wegzukürzen, wie auch Tugendhat gegen Heideggers Eigentlichkeitsdenken einwendet. Mit dem Sollen eröffnet sich der Spielraum für freies Handeln, sofern sich Normen vor konventionellen Regeln (des "Man") dadurch auszeichnen, dass sie für begründet gehalten werden. Honneth macht in seinem Beitrag für diskursethische Fragestellungen deutlich, dass im Rückgang zur anthropologischen "Ebene" des "tätig-verstehenden Sich-verhaltens" der Phänomenbereich des Moralischen nicht auf die normativen Bedingungen der Verständigung eingeschränkt werden muss. Das weite Feld moralischer Verletzungen etc. verweist auf die tiefer liegende Problematik der Identitätsbildung bzw. auf das historisch und gesellschaftlich variable Netz intersubjektiver Anerkennungserwartungen.

Honneth weist hier in eine Richtung, die für Fahrenbachs Weiterführung des existenzphilosophischen Ansatzes von zentraler Bedeutung ist. Die realen gesellschaftlichen Verhältnisse sind demnach für die Realisierung der Existenzmöglichkeiten die entscheidende Größe. Sie sind ganz konkret für die Ermöglichung oder Verhinderung des menschlichen Selbstseinkönnens maßgeblich. Es gilt, die Faktoren der Entfremdung (Marx) und Selbstentfremdung (Freud) kritisch aufzuweisen - wenngleich nicht im Sinne eines die anthropologische Offenheit überspielenden sozialpsychologischen Determinismus. Schließlich ist das Unterfangen, den Menschen qua Natur als eindeutig definierte Gegebenheit aufzufassen, aus theoretischen wie praktischen Gründen abzulehnen. Als "utopisches Wesen" versteht er sich zwar primär aus den gesellschaftlich strukturellen und lebensgeschichtlichen Daseinsbedingungen, ist aber prinzipiell in der Lage, die gegebenen Verhältnisse in der Nötigung zur freien Selbstbestimmung zu überschreiten. Auf die normative Dimension in der Erfahrungsganzheit legt die philosophische Anthropologie Fahrenbachs großes Gewicht, sofern ihre "Sinnbestimmung" in dem Realisationsproblem der menschlichen Existenz liegt. Sie untersteht dem Primat des Praktischen.

Die Konzeption philosophischer Anthropologie, die Fahrenbach kontinuierlich ausgearbeitet hat, integriert die unterschiedlichsten Kritiken, die sich auf das anthropologische Denken wenigstens seit Hegel bezogen haben. Damit ähnelt sie einer allgemeinen Rekonstruktion der Gegenwartsphilosophie. Von Dieter Henrich stammt der Satz: "Fahrenbachs besondere Begabung gleicht der eines Generalstäblers im Entwerfen, in der Übersicht und in der kritischen Revue von philosophischen Strategien."

Gleichwohl sind auch Fahrenbachs Aneignungskapazitäten begrenzt. Es ist der Name Foucaults - und die mit ihm verbundene Revision der anthropologischen episteme der Humanwissenschaften -, der sich der Aneignung sperrt und nach draußen verwiesen wird. Das Paradigma von der universellen Idee des Menschen, die als Orientierungsinstanz einer zu verfolgenden Aufhebung der Entfremdung, Repression der Sexualität (vgl. den Beitrag von Braun) und Ästhetisierung der Existenz (vgl. den Beitrag von Zimmermann) fungiert, markiert den fraglichen Punkt. In der Einleitung stellen die Herausgeber Fahrenbach und Foucault gegenüber, indem sie schlicht Foucaults Kritik am Bild des Menschen auf die idealistische Subjektphilosophie einschränken und andererseits fälschlicherweise die Idee einer Ästhetik der Existenz als "Rückkehr zum Subjekt" interpretieren. So umgehen sie die von Foucault aufgebrachte Frage, ob das Denken in Begriffen von Entfremdung und Freiheit ausreicht, die produktive Seite der Machtverhältnisse zu analysieren bzw. Subjektivierungsweisen zu bestimmen, die sich quer zu den diskursiven Ordnungen und Machtbeziehungen stellen. Wenn Fahrenbach feststellt, dass in Zeiten der Globalisierung "ein philosophisches Denken kommunikativer Vernunft in weltbürgerlich-sozialistischer Perspektive" gefordert ist - und das für eine "Weltgesellschaft" notwendige "Weltethos" im Anschluss an den Theologen Küng begreift -, so sticht an der Stelle der gattungslogischen Gesamtperspektive das konzeptionelle Ungenügen in die Augen.

Erlebt also die philosophische Anthropologie eine Renaissance? Man wird eher sagen müssen, dass sie über das von Fahrenbach erreichte Reflexionsniveau kaum hinauskommen wird. Wo sie neu ausgerufen wird, unterschreitet sie den seit langem erreichten Forschungsstand. Die Fragen der Bioethik werden sich nicht im Rückgriff auf einige Grundprinzipien des Menschseins, sondern nur im größeren Kontext gesellschaftspolitischer Zusammenhänge lösen lassen. Andererseits gibt es einen Weg über sie hinaus: Foucault hat diesen Weg angebahnt. Dieser Weg verlangt eine Sensibilität auf all den Bereichen der Philosophie (Ethik, Existenz- und Gesellschaftstheorie), die Fahrenbach in sein Projekt einer Anthropologie integrieren konnte, wie immer harmonisch und ungebrochen orientiert am humanistischen Leitideal.

Titelbild

Reinhard Brunner / Peter Kelbel (Hg.): Anthropologie, Ethik und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Fahrenbach.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
239 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3593366363

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