Nach-Exil

Der 19. Band des Jahrbuchs zur Exilforschung wirft einen Blick auf Fragen jüdischer Emigration

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst vergleichsweise spät hat sich die Forschung der Frage zugewandt, inwieweit von einer spezifisch deutsch-jüdischen Exilliteratur gesprochen werden könne. Der von Itta Shedletzky und Hans Otto Horch herausgegebene Sammelband "Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur" (Tübingen 1993) kann als der erste systematische Versuch gelten, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. In diesem Zusammenhang hat Itta Shedletzky die Exilliteratur von jüdischen Autoren und Autorinnen in die Kontinuität der deutsch-jüdischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert gestellt und dabei die Begriffe 'Existenz' und 'Tradition' als die beiden wesentlichen Text-Aspekte hervorgehoben. Seit 1933 wird Exil für Juden nun einerseits zum Ort der Rettung vor noch Schlimmerem, andererseits verdoppelt sich gleichsam das Exilbewusstsein, das eine Konstante in der religiösen Tradition bildet. Im Exil entstehen große Werke jüdischer Autoren mit deutlichem Bezug auf die jüdische Tradition, etwa Karl Wolfskehls und Yvan Golls Hiob-Gedichte oder die Lyrik von Gertrud Kolmar und Nelly Sachs. Immer geht es dabei um die "Spannung zwischen dem 'Unentrinnbaren' und dem 'Unzerstörbaren'", die von Itta Shedletzky als Quintessenz jüdischer Erfahrung auch in der Literatur herausgestellt wird. Erhard Bahr gibt in seinem Beitrag für den genannten Band eine (vorläufige) Definition dessen, was unter deutsch-jüdischer Exilliteratur verstanden werden könne: "Mit deutsch-jüdischer Exilliteratur wird eine Literatur bezeichnet, in der die Identifikation mit der jüdischen Herkunft und die Darstellung jüdischer Wirklichkeit und Problematik nicht mehr mit Rücksicht auf Integration in Gesellschaft und Staat zu erfolgen brauchten. Im Gegenteil, sie erfolgten in Opposition zu Staat und Gesellschaft, die aufgrund ihrer rassistischen Ideologie eine große Anzahl von Autoren nicht nur exilierten, sondern sogar mit dem Leben bedrohten. Der negativen Fremdidentifikation wird die positive Selbstidentifikation entgegengesetzt. Selbstidentifikation wird somit zu einem Kriterium der deutsch-jüdischen Exilliteratur."

Jürgen Nieraad schließlich insistierte darauf, dass sowohl die Frage der minoritären Situation jüdischer wie nichtjüdischer Autoren als Intellektuelle als auch die Frage jüdischer Tradition, die Exil immer schon als Ausgangspunkt religiösen Selbstverständnisses betrachtet hat, Leitgesichtspunkt der Forschung sein müsse. Neben diesem Sammelband, der einen wichtigen Diskurs zur deutsch-jüdischen Exilliteratur überhaupt erst eröffnet hat, ist auf die von Wolfgang Benz organisierte Tagung der Gesellschaft für Exilforschung vom März 1993 hinzuweisen, die sich auf die Frage konzentrierte, ob das deutsch-jüdische Exil "das Ende der Assimilation" bedeutet habe. Deshalb stand die Frage der spezifischen "Jüdischkeit" der deutsch-jüdischen Exil- und Emigrationsliteratur nicht im Mittelpunkt der Diskussionen. Ferner ist unter den jüngeren Beiträgen zur deutsch-jüdischen Exilliteratur ein Aufsatz von Markus Bauer im "Jahrbuch zur Exilforschung" zu nennen, der jüdische Debatten über "Exil und Galut" im Zusammenhang mit den Strukturen des "Dritten Reichs" skizziert. Für Bauer eröffnete "die Expulsion aus Zentraleuropa [...] einen spezifisch jüdischen Raum des Exils, dessen Umrisse in einem komplexen Prozess sich vermischten mit jenem theologisch-messianisch deutbaren, 'eigentlichen Exil' der Judenheit, das mit der Vertreibung aus 'Erez Israel' begann und bis in die Neuzeit andauerte." Zu Recht verweist Bauer, wie vorher schon Itta Shedletzky, auf die breite Auseinandersetzung um West- und Ostjudentum seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Zeichen der 'Jüdischen Renaissance' hin, deren Facetten, von Autoren wie Kafka, Roth oder Döblin als provokative Fragen nach dem jüdischen Selbstverständnis im Raum der Literatur formuliert wurden. Hans Otto Horch hat in Bezug auf Bauers Ansatz auf die von diesem nicht berücksichtigte Tatsache verwiesen, dass "sich religiöse und säkulare Tendenzen gerade nicht ausschließen, sondern dass im Prozess der Säkularisierung Elemente der religiösen Tradition zu wirkmächtigen Denkmodellen umgeformt werden - so vor allem der jüdische Messianismus, der untrennbar mit der Dimension des Exils verbunden ist."

Horchs wichtiger Beitrag zu "Exil und Messianismus" findet sich in Band 19 des internationalen Jahrbuches zur "Exilforschung", dessen Schwerpunktthema Fragen der jüdischen Identität und der Akkulturation im Exil und "Nach-Exil" bilden. Trotz der Kartierung des Forschungsfeldes durch die genannten Sammelbände und auch trotz des enormen Aufschwungs, den die Exilforschung seither erlebt hat, liegen manche Aspekte der Emigration der deutschen Juden nach 1933, beziehungsweise der Juden aus den seit 1938 von den Deutschen besetzten Ländern, wie die Herausgeber treffend bemerken, weiterhin im Dunkeln. Die einzelnen Beiträge befassen sich einerseits mit der widerspruchsvollen und auch aus Sicht der Betroffenen ambivalenten Vertreibungspolitik der Nationalsozialisten, die von der Ausschließung bis zur Entrechtung der deutschen Juden, von der Emigration bis zur Shoah führte. Jürgen Matthäus greift im Titel seines Beitrags "Abwehr, Ausharren oder Flucht" die Kernfragen deutsch-jüdischer Existenz im "Dritten Reich" auf, indem er sich mit dem 1893 gegründeten Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens beschäftigt, der wie keine andere Organisation das Selbstverständnis der Mehrheit der deutschen Juden prägte und repräsentierte. Die besondere Aufmerksamkeit gilt auf der anderen Seite der Perspektive der Betroffenen, insbesondere der bisher weniger berücksichtigten Flucht nach Palästina (Wolfgang Benz), der Exilerfahrung in verschiedenen europäischen und überseeischen Aufnahmeländern: So schildert Susanne Meinl am Beispiel von vier Einzelschicksalen, wie die Finanzbehörden und die mit ihnen kooperierenden Institutionen und Ämter in Hessen die Besteuerung und Ausplünderung der Auswandernden vollzogen. Gabriela Ann Eakin-Thimme nimmt die Situation deutschsprachiger jüdischer Historiker im amerikanischen Exil unter die Lupe und führt aus, dass die Historiker im amerikanischen Exil nicht nur auf antisemitische Vorbehalte stießen, sondern dass die Wissenschaftleremigration als Konkurrenz und daher vornehmlich als ein 'jüdisches Problem' wahrgenommen wurde, was sich keineswegs mit der Selbstwahrnehmung der Flüchtlinge deckte, die sich nicht als jüdische Historiker verstanden.

Julia Franke widmet sich französischen und emigrierten deutschen Juden im Paris der dreißiger Jahre, die ebenfalls damit konfrontiert waren, dass die Aufnahme der Emigranten in erster Linie als 'jüdisches Problem' betrachtet wurde. Andreas Klugescheid untersucht den Kampf deutsch-jüdischer Emigranten in den britischen Streitkräften 1939-1945 und zeigt recht eindrucksvoll, dass der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime ein wichtiges und bisher nicht recht wahrgenommenes Kapitel der deutsch-jüdischen Emigration ist. Auch Markus Bauer widmet sich in seinem Beitrag über Exil und Shoah in Rumänien einem Forschungsdefizit. Mit einigem Recht verweist er darauf, dass Rumänien mit den deutschsprachigen "Kulturinseln" in der Bukowina, mit Czernowitz als Zentrum, in Bessarabien, im Banat und in Siebenbürgen für zahlreiche in Deutschland arbeitende Wissenschaftler und Schriftsteller, die der jüdischen und deutschen Minorität der früheren habsburgischen und russischen Territorien Russlands entstammten, ein Exilland mit relativ guten Arbeitsmöglichkeiten und offenem Zugang zum nichtfaschistischen deutschen Buch- und Pressemarkt war. Kerstin Emma Schirp betrachtet den "Semanario Israelita" in Buenos Aires, die bis in die jüngste Zeit hinein deutschsprachige Zeitung der Flüchtlinge, die gleichzeitig als eine "Brücke zwischen Heimat und Exil" in Argentinien fungierte. Helga Embacher wirft einen Blick auf die Remigration nach Österreich und weist zu Recht darauf hin, dass die wissenschaftliche Forschung zum Thema Remigration weiterhin große Lücken aufweist. Barbara von der Lühe untersucht die Problematik der Dokumentation und medialen Vermittlung jüdischer Exilerfahrung. Sie berichtet über das Projekt "Zeitzeugen der Shoa im Offenen Kanal Berlin: Verfolgung und Exil in der Zeit des Nationalsozialismus als Gegenstand einer medienpraktischen Unterrichtseinheit", das dem Versuch unternimmt, die Methode der Oral History in das Curriculum von Medienberaterstudierenden zu integrieren.

Die literaturwissenschaftlich orientierten Beiträge des Bandes stammen aus der Feder von Hans-Otto Horch und Stephan Braese und beschreiben aus unterschiedlichen Perspektiven die Situation jüdischer Autoren in der Nachkriegszeit. Während Horch am Beispiel Manès Sperbers und seiner autobiographischen Romantrilogie "Wie eine Träne im Meer" den geistigen Konflikt einer Generation verdeutlicht, die ohne die metaphysische Gewissheit jüdischer Orthodoxie, liberalen oder marxistischen Fortschrittsglaubens eine Antwort auf das Überleben nach der Shoah sucht, und dabei auf Benjamins Dialektik von Kontinuität und Bruch rekurriert, unternimmt Braese eine stärker sozial- und literaturgeschichtlich orientierte Begründung für die unfreiwillige Positionierung jüdischer Autoren "außerhalb" der Kontinuität. Unter Rückgriff auf Klaus Brieglebs These vom "Nach-Exil" zeigt Braese am Beispiel der Entwicklung dreier eminent wichtiger Nachkriegsautoren (Wolfgang Hildesheimer, Paul Celan, Peter Weiss) die diskursiven Ausgrenzungsmechanismen der westdeutschen Literaturkritik und greift damit noch einmal Brieglebs jüngst publizierte Streitfrage nach einer möglichen antisemitischen Ausrichtung der Gruppe 47 auf (Klaus Briegleb, "Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: 'Wie antisemitisch war die Gruppe 47?'", Berlin/Wien 2003). Die Nicht-Wahrnehmung dieser Autoren durch die westdeutsche Literaturkritik liefert nach Braese den Schlüssel für die Konstituierung dieser Literatur als "Nach-Exil". Elementarste Voraussetzung zu einer wie auch immer eingeschränkten Teilhabe der Autoren des Nach-Exils war nach Braese "die Bereitschaft, deutschen Boden zu betreten, befristet - und sei es noch so kurz - den sicheren Entzug 'ihre(r) persönliche(n) Existenz, wenigstens in leiblicher Hinsicht [Gehle]' vor deutscher Verfügungsgewalt zu unterbrechen". Das Schreiben 'nach-exilierter' jüdischer Autoren handelte von der Katastrophe, von den Verlusten, vom Trauma des Überlebens, von der Erinnerung und ihren Beschädigungen, von den Beschädigungen auch der deutschen Sprache, ihrer Inbesitznahme durch die Täter. Entscheidend für die Literatur des Nach-Exils war, wie Braese zu Recht unterstreicht, "jener skrupulöse, zugleich denkbar eindringliche Dialogwunsch, wie er in einer Wendung Paul Celans in einem Brief an Gottfried Bermann Fischer vom November 1958 zum Ausdruck kommt, einer Wendung, die für die literarische Arbeit der jüdischen Autoren deutscher Sprache in dieser Zeit insgesamt stehen könnte". In diesem Brief heißt es viel sagend: "Es ist kein Brückenschlagen, gewiß; aber es versucht, indem es an die Abgründe herantritt, das hier noch Mögliche - möglich sein zu lassen. Es versucht es mit den ihm von der durch die Zeit gegangenen Sprache an die Hand gegebenen Mitteln, unter dem besonderen Neigungswinkel seiner (also meiner) Existenz. Es versucht es, inmitten der Beschönigungen und Bemäntelungen, auf das ungeschminkteste. Es spricht ins Offene, dorthin, wo Sprache auch zur Begegnung führen kann."

Die Texte Paul Celans stehen für jene integralen Bestandteile der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die nicht auf deutschem Boden, sondern im Nach-Exil einst von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik Verfolgter entstanden. Die bemerkenswerte Summe der Auszeichnungen, die sein Werk im westdeutschen Literaturbetrieb erfahren hat, aber auch der Raum und die Bedeutung, den sie in nahezu jeder einschlägigen Literaturgeschichte der letzten zwanzig Jahre einnehmen, mögen den Eindruck von einer 'verspäteten' success story eines deutschen Literatur-Exils erwecken. Tatsächlich jedoch war solcher Erfolg, wie Braese betont, über Jahrzehnte "an Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft, deren Folgen die Rezeption der im Nach-Exil entstandenen Texte teilweise bis heute belasten." Wirft man ferner einen Blick auf den vor kurzem erschienenen Briefwechsel Paul Celans mit seiner Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange, so findet man in seinen Schlüsselerlebnissen diesen Befund bestätigt. Man darf möglicherweise sogar so weit gehen zu fordern, die Geschichte der Nachkriegsliteratur und vor allem die Bedeutung der Gruppe 47 mit einem kritischeren Blick als bisher wahrzunehmen.

Titelbild

Claus-Dieter Krohn / Erwin Rotermund / Lutz Winckler / Wulf Köpke (Hg.): Jüdische Emigration Band 19/2001. Zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität.
edition text & kritik, München 2001.
294 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3883776726

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helga Schreckenberger: Ästhetiken des Exils.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2003.
403 Seiten, 82,00 EUR.
ISBN-10: 9042009659

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch