Grenzüberschreitend

Ein "Handbuch" von 700 Seiten erklärt, was interkulturelle Germanistik ist

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit dem von ihm herausgegebenen Band "Das Fremde und das Eigene" gilt Alois Wierlacher als Vater einer neuen, aufblühenden Schule innerhalb der Germanistik, die der Fachbezeichnung ein "interkulturell" voranstellt und sich nicht nur als Querschnittsdisziplin im eigenen Fach, sondern in allen nicht-technischen Wissenschaftsfächern versteht. Von Ursula Hudson-Wiedenmann für "Kulturthematische Literaturwissenschaft" als Teildisziplin formuliert, lässt sich folgender Satz auch auf die gesamte interkulturelle Germanistik beziehen: "oberstes Lernziel" ist "Kulturmündigkeit und interkulturelle Kompetenz". Ein zweifellos sehr lobenswertes Ziel. Doch was man darunter zu verstehen hat, bleibt angesichts des durchgängig hohen Abstraktionsgrades eher blass.

Das "Handbuch", das so dick und schwer ist, dass man es mit beiden Händen tragen sollte, gliedert sich in sechs Hauptteile: ein umfangreiches Vorwort, in "Horizonte und Fluchtlinien interkultureller Germanistik", in "Rahmenbegriffe", "Komponenten", "Länderspezifische Ansätze" und einen Anhang, der auch ein Sach- und Begriffsregister mit einschließt. "Rahmenbegriffe" ist lexikonartig aufgebaut, 22 Stichwörter von "Anerkennung" bis "Wissen" wurden ausgewählt. Die "Komponenten" sind in vier große Teile untergliedert, die sich wiederum in zahlreiche Unterpunkte auffächern. Es finden sich Beiträge von der "Stellung der deutschen Sprache in der Welt" über "Interkulturelle Literaturwissenschaft" bis zur "Reiseführerforschung".

Der Trend ist klar, der Band soll nicht nur der Grundstein eines neuen Faches sein, er soll auch die Germanistik auf dem Weg zu einer Kulturwissenschaft ein gutes Stück voran bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, konnten Wierlacher und Bogner zahlreiche renommierte Beiträger aus vielen Ländern gewinnen, beispielsweise Paul Michael Lützeler und Hinrich C. Seeba aus den USA. Der Band ist, soviel gilt es als Zwischenfazit festzuhalten, ein fast unerschöpfliches Kompendium von fast allem, was man auch nur im Entferntesten mit "interkulturell" und "Germanistik" assoziieren kann.

Vielleicht sind dennoch einige Bedenken eines Germanisten erlaubt, der mit dem Ansatz grundsätzlich sympathisiert, aber nicht mit dem hier vertretenen, im Wortsinne universalen Anspruch. Der Band ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich eine neue Germanistik herausgebildet hat, in der die Vermittlung von Sprache und Literatur als ursprünglicher Kern des Faches keine Rolle mehr spielt. Für Studierende einer solchen Germanistik gibt es zwei Möglichkeiten: Sie eignen sich das Wissen, das die Germanistik traditionell vermittelte, außerhalb der Universität an, oder sie ersetzen die früheren Inhalte durch die neuen. Im letzteren Fall, der mir der wahrscheinlichere erscheint, dürfte ein Germanistentypus herausgebildet werden, der seiten- und stundenlang mit abstrakten Begriffen wie Kultur, Kompetenz, Produktion, Rezeption, Hermeneutik, Interdisziplinarität etc. jonglieren kann, ohne auch nur ein Grundwissen seiner eigenen Sprache und der in dieser Sprache verfassten Literatur zu haben.

Akzeptiert man den Versuch der Neubegründung der Germanistik in dieser Form, dann gibt es, angesichts der Größe des Projekts sicher nicht zu vermeiden, einige Binnenprobleme. So wird kaum etwas an theoretischen Grundlagen erläutert, obwohl die entsprechende Terminologie omnipräsent ist; man erfährt wenig über die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die Zeichentheorie von C. S. Peirce oder anderen, die Diskursanalyse von Jürgen Habermas oder Michel Foucault ... Viele der Beiträger schreiben, als sei das alles jedem Leser ohnehin vertraut. Studenten dürften sich daran manchen geistigen Zahn ausbeißen. Es wäre vielleicht günstiger gewesen, die grundlegenden Theoretiker und Theorien gesondert vorzustellen. Angesichts seiner Bedeutung in der jüngsten Forschung vermisst man besonders Homi K. Bhabha und seinen Begriff der Hybridität, ebenso fehlt im Kapitel der "Rahmenbegriffe" der mittlerweile gängige Begriff der Alterität. Vereinzelt kommen solche Namen und Begriffe in Artikeln dann doch vor, etwa bei Norbert Mecklenburg, der einen Abschnitt mit "Differenz. Alterität" überschrieben hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der stattliche Umfang mit der hier zu findenden ehrfurchtgebietenden Leistung bedeutender Wissenschaftler korrespondiert. Kurz: ein wichtiges Buch. Die skizzierten Einwände sind grundsätzlicher, aber standpunktbezogener Natur, wer sie nicht teilt, muss sie nicht beachten. Mit einigem Vorwissen ausgestattete Leser, insbesondere dürften das an Literatur- und Kulturtheorie interessierte Germanisten sein, werden von dem Band zweifellos profitieren. Und Studenten der interkulturellen Germanistik kommen um ihn sowieso nicht herum.

Titelbild

Alois Wierlacher / Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
690 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-10: 3476019551

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