Bedürfnisloses Leben ohne Ziel

Siegfried Lenz' Roman "Fundbüro"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich an seinem ersten Arbeitstag im Bundesbahn-Fundbüro wird der Protagonist Henry Neff von seinem Vorgesetzten mit der bitteren Realität konfrontiert: "Jetzt sind sie bei uns gelandet, auf unserem Abstellgleis". Bürovorsteher Harms muss es wissen, denn nach einem von ihm als Lokführer mit verschuldeten Bahnunfall wurde er ins Fundbüro strafversetzt.

Entgegen aller Warnungen findet Henry, Spross einer angesehenen Familie, jedoch Freude an seiner Arbeit. Das Wort Karriere ist ihm fremd, für ihn zählt der Umgang mit den Menschen. Geradezu detektivisch spürt der junge Mann die Besitzer unterschiedlichster Fundsachen auf. Ob es nun das Wurfmesser aus Toledo-Stahl ist, das Textbuch einer Schauspielschülerin, ein ausgefallener Verlobungsring, ein Dompfaff im Käfig oder das Laptop eines Staatssekretärs: Hinter jedem Fundstück steckt eine Lebensgeschichte, die Henry viel mehr interessiert als sein eigentlicher Job, der nur einmal richtig heikel wird: als eine mit Rauschgift gefüllte Kinderpuppe in einem Zug liegen bleibt.

Henry Neff ist der geborene Philanthrop, hilfsbereit und beliebt, beinahe ein Sonderling in unserer vom Egoismus geprägten Zeit, ein junger Mann ohne Ehrgeiz, über den seine Arbeitskollegin Paula Blohm befindet: "Das nenne ich genügsam und bedürfnislos." Eine auf den ersten Blick wirklich liebenswerte, aber bei genauerem Hinschauen auch ziemlich langweilige Person. Das gilt allerdings für alle wichtigen Handlungsfiguren, die sich charakterlich stark ähneln: Arbeitskollegin Paula, die mit einem Synchronsprecher eine merkwürdige Fern-Ehe führt, kümmert sich rührend um Henry, aber seine schüchternen Annäherungsversuche weist sie strikt zurück; der dienstälteste Bürokollege Bußmann (mit dem "verdrossenen Blick"), der dem Alkohol in ungesunden Maßen frönt, pflegt daheim seinen debilen Vater; und Henrys Schwester Barbara, die im traditionsreichen Familienbetrieb arbeitet, tritt als harmonisches Bindeglied zwischen Bruder und Mutter auf.

Und dann ist da noch der liebenswerte, aber zur Geschwätzigkeit neigende Fedor Lagutin, ein Gast-Wissenschaftler aus Saratow, den Henry auf dem Fundbüro kennen gelernt hat und auf den seine Schwester Barbara (man kann es nur vermuten, denn Erotik spielt überhaupt keine Rolle) wohl ein Auge geworfen hat.

Innerhalb dieses Figurenensembles kommt es zu keinerlei Reibungen, alle sind so lieb und nett, dass ihre Wohlanständigkeit bei der Lektüre beinahe ermüdet. Die Dialoge klingen distinguiert, bewegen sich aber dennoch kaum über den gepflegten Small-Talk hinaus. Da sowohl Henry als auch seine Schwester Barbara, Albert Bußmann, Fedor Lagutin und (mit Abstrichen) Paula Blohm ein tristes Single-Dasein führen, existieren nicht einmal handfeste Beziehungsprobleme.

Die wenigen Störungen sind anonymer Natur. Als Folge des unter dem Deckmantel der "Reform" angekündigten Personalabbaus bei der Bahn soll Bußmann in den Vorruhestand versetzt werden. Henry, von dem seine Schwester behauptet, dass er "ohne Ziel lebt", will seinen Platz für den älteren Kollegen räumen. Ist das nun edel oder krampfhaft aufgesetzt? Die noble Geste des Protagonisten hilft Bußmann allerdings nicht, denn er erleidet wenig später einen Schlaganfall.

Der selbstlose Henry, dessen Hobby Eishockeyspielen eigentlich überhaupt nicht zur übrigen Vita passt, ist Siegfried Lenz allzu tugendhaft geraten. Dieser zeitgenössische Mittzwanziger hätte Platz in jeder biblischen Geschichte. Aus Nächstenliebe wird der introvertierte junge Mann sogar gewalttätig. "Auge um Auge, Zahn um Zahn" - dieses Prinzip setzt er beinahe wörtlich um, als ein nigerianischer Briefträger und sein Freund Lagutin vor seiner Wohnung von einer anonymen, ausländerfeindlichen Motorradgang attackiert wird.

Er greift zu seinem Eishockeyschläger und treibt die Angreifer in die Flucht - die einzige wahrhaftige Gefühlswallung in diesem Roman. Dem Wissenschaftler Lagutin hat Lenz die Opferrolle zugeschanzt. Auch bei einer Feier in der Universität sieht er sich unflätigen fremdenfeindlichen Beschimpfungen ausgesetzt. Die "Botschaft" des Autors ist nicht zu übersehen - die Ausländerfeindlichkeit grassiert in allen gesellschaftlichen Kreisen. Aber haben wir das nicht vorher schon gewusst?

Lagutin verschwindet so unvermittelt wie er aufgetaucht ist, und vielleicht erinnert sich Henry am Ende an seinen ersten Arbeitstag im Fundbüro, als ihm sein Vorgesetzter Harms mit auf den Weg gab: "Nicht alles ist ersetzbar, bei weitem nicht alles, eines Tages werden sie es einsehen." Lagutins Ehre ist verloren gegangen, zwar keine Sache für das Fundbüro, aber so schließt sich der Erzählkreis allegorisch.

"Das Fundbüro" ist ein mildes, routiniert geschriebenes Alterswerk. Lenz erzählt ausschweifend und bisweilen arg altbacken, oder - um es mit einem häufig gebrauchten Adverb auszudrücken - ziemlich "freimütig". Ein Roman wie ein leise dahin tröpfelndes literarisches Bächlein - ohne Strömungen und Strudel, wie wir sie aus seinen Meisterwerken "Deutschstunde" und "Heimatmuseum" kennen und schätzen.

Titelbild

Siegfried Lenz: Fundbüro. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003.
336 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3455042805

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