Unterwegs in der kalten Welt

M. A. Numminen führt durch die Geschichte des Finntango

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alexander Kluge gelangte in einem seiner besten Interviews mit Gerard Mortier, dem Intendanten der Ruhrtriennale, zu einer bemerkenswerten Einschätzung der Funktion der Oper bei der Gefühlsvermittlung: Nach der Einschätzung, dass eine gute Oper immer entweder von Liebe, Eifersucht oder Tod handeln müsse, da das Singen eine so außergewöhnliche Handlung darstelle, dass man nur über Existentielles singen könne, wird das Konzept der Oper, den Mensch und seine Gefühle ins Zentrum zu stellen, in den Alltag transponiert. Wann fange ich an zu singen? Wenn die Worte versagen, ist die Antwort, denn Isoldes Liebestod muss gesungen werden, er kann nicht im Gesprochenen oder auch nur im Rezitativ verhandelt werden. Da die bürgerliche Gesellschaft aber in ihrem Diktat der Virtuosität die Urform ihrer Kommunikation, das Singen, dem Menschen schwer gemacht hat, muss man, um Gefühl auszudrücken, auch stilistische und technische Einfachheit hoch bewerten, um Tiefe in der Breite offenbaren zu können. Die Kraft des Gesanges muss genutzt werden, um Kavernen zu schaffen für kardinale Äußerungen im geschwätzigen Alltag.

Es scheint fast, als hätte Kluge mit Alain Resnais korrespondiert, jedenfalls ist die geistige Nähe der beiden in der Frage des emotionalen Ausdrucks schon fast frappierend. In seinem 97er Film "Das Leben ist ein Chanson" lässt Resnais nämlich sein Figurenensemble, das ansonsten oberflächlich und falsch agiert, in bester MGM-Tradition singen, um diesen Momenten in diesen schmalen Korridoren der Tiefe, authentisch Ausdruck zu verleihen. Dass dieses Konzept der unmöglichen Artikulation emotionaler Tiefe außer im Rahmen musikalischer Zitatweisen ein besonders beliebtes ist, bewies auch R. W. Fassbinder in seinem Film "Warum läuft Herr R. Amok", in dem die einzig wirkliche, sich nicht dem rasterhaften Charakter der übrigen gefühls- und gedankenleeren Sprachfertigteile beugende Emotionsäußerungen im Singen Herrn Raabs des Schlagers "Geh nicht vorbei" von Christian Anders liegt. Und mit der Instrumentalisierung des Schlagers, der Volkskultur schlechthin, hat auch Virtanen, die finnische Tanzsalonikone seine Erfahrung. Allerdings eine unbewusste. Der Held von Mauri Aantero Numminens Roman "Tango ist meine Leidenschaft" übt sich nämlich darin, in seinen raren verbalen Kontakten zu seinen Mitmenschen, seinen jeweiligen Tanzpartnerinnen in den Tanzlokalen Helsinkis, einen auf ihren Namen gemünzten Tango ins Ohr zu hauchen: "Einst warst du, Irja/ für mich das schönste Traumbild..."/ "Nach dir sehn ich mich, meine goldene Aila./ Das Flüstern deiner Lippen, das Feuer deiner Augen-/ Erinnerung wie an einen Traum."/ "Dich, nur Dich, du liebe Anja,/ dich allein mein Herz begehrt".

Und letztere Anja lässt Virtanen nicht mehr los. Er, der zwar täglich nichts anderes tut, als sich in den einschlägigen Locations seiner Stadt einen Namen als Tangogeher zu machen, der seine teilweise beliebig erwählten und wechselnden, aber immer geschätzten Damen über die Tanzflächen schiebt, empfindet nach 35 Jahren stoischen Einzelgängertums etwas Merkwürdiges im Bauch. Das besondere daran ist, dass er seit seiner Schulzeit jegliche intime, ernsthafte körperliche Annäherung an das weibliche Geschlecht zu vermeiden suchte und sich darin auch meisterlich übte. Ursache dieser konsequenten Verweigerungshaltung ist ein persönlicher Wettkampf mit Platon. Platon ist seit einer schulischen Begegnung ständiger Begleiter im Leben des enthaltsamen Virtanen, denn die von dem griechischen Philosophen festgelegte Marke zur Reife eines Mannes zum Geschlechtsverkehr von 35 Jahren gilt es zu überbieten. Der genau 35jährige will bis zu seinem 36sten Lebensjahr keusch leben und den guten Platon mit seiner Demonstration finnischer Standhaftigkeit in die Schranken weisen. In dem schmerzhaften Wettbewerb gegen seinen omnipräsenten Kontrahenten macht er während einiger Tangogänge Erfahrung mit seiner wenig domestizierbaren Natur, die regelmäßig peitschenknallend auf den Klos der Schauplätze seines Lebens gezüchtigt werden muss. Diese rigide Selbstdisziplinierung wird einige Male in expliziten Situationen auf die Probe gestellt, da sich der auf finnischen Tango abonnierte, schweigsame Sonderling eines schlagenden Erfolges bei der weiblichen Tangogemeinde erfreuen kann. Jene werden ebenso originell unterhaltsam aufgelöst wie die Beziehung zu Anja aufkeimt, der einzigen intensiven, die er zu einem anderen Menschen eingeht. Die zentralen Pole waren bis dahin seine obsessive Passion für die Historie der für ihn wichtigsten Volkskultur Finnlands, jener aus Argentinien importierten Musikweise und sein edler "Wettstreit der Entsagung" mit dem griechischen Giganten. Und da vor allem letzterer nicht zu schmelzen beginnt, überrascht, um in Tangoduktus zu sprechen, der Winter die Blüte seines Lebens in tragischer Art jäh.

Virtanens Welt ist doppelt dokumentiert. Zum einen wird man durch seinen Gedankenapparat mit einer etwas eindimensionalen Perspektive auf Helsinki vertraut, die Relevanz nur praktizierten Körperfahrungen beimisst, sei es unter dem Banner des gleichbleibend marschmäßigen Finntangotaktes oder im Zeichen seiner Sexualaskese. Ein vermeintlicher Ethnologiedozent übernimmt die andere Erzählerrolle, die hauptsächlich damit beschäftigt ist, das Buch auch noch zu einer instruktiven Dokumentation 90jähriger Finntangogeschichte zu machen. Dass die dann eingeschobenen sachbuchartigen Beiträge dermaßen mit abstrusen Fakten zu allen Protagonisten der finnischen Aneignungsgeschichte des Tango beladen sind, macht die Lektüre dieser Parallelerzählung etwas mühsam. Die Montage mit der eigentlichen Handlung wirkt in zahlreichen Fällen ähnlich konstruiert wie die Eingliederung verbriefter Sicherheit mit "Pfandbrief und Kommunalobligation" in anderen Romanen. Virtanens Geschichte alleine hätte schon genug über den Finntango verraten, unter anderem seine klassenspezifische Gebundenheit an Kleinbürgertum und Proletariat, sein Trost- und Schutzpotential und eben auch seine wichtige Funktion als Scharnier zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Bindungen funktionieren durch die beiden Urformen menschlicher Kommunikation, das Tanzen und das Singen. Beide stiften Gemeinschaft in dieser von vielen solitären Lebensexistenzen durchfurchten Realität. Die Tangolokale bilden vom frühen Nachmittag an die Trutzburgen dieser Menschen, in denen Berührung und Annäherung für ein paar Stunden funktionieren. Und wenn man insbesondere aus anderen wichtigen finnischen Kulturexportschlagern, wie etwa Filmen Aki Kaurismäkis oder Texten Petri Tamminens etwas lernen durfte, dann ist es die Ahnung von einigen finnischen Spezifika, die immer gerne ähnlich verwendet werden. Kontaktscheue und Einsamkeit, gepaart mit charakterlicher Verquastheit, sind das Standardcharakterarsenal; das Ganze wird aber immer grundiert mit einem klaren Begriff von einer Verbundenheit zu einer einnehmenden, liebenswerten Figur, die ihr Leben, und sei es nur das emotionale, eben nicht so glatt und reibungs- und problemlos navigiert. Dass Virtanen einer von diesen finnischen Typen ist, macht Numminen rasch klar, und auch in Virtanens Leidenschaft für den Tango erkennt man eine tragische Ambivalenz. Sie ist erbauend, denn Virtanen spricht durch ihn und gewinnt seine einzigen Freuden durch diese so volkstümliche, einfache Kunst. Doch letztlich kann auch der Tango beim Dialog mit Platon nur den Kürzeren ziehen und den traurigen Mann nur auf sich und sein Scheitern zurückwerfen und den Leser um einige Haare erleichtern.

Titelbild

Mauri Antero Numminen: Tango ist meine Leidenschaft. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Eike Fuhrmann.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2003.
347 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3861505142

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