Bilanzen zur Postmoderne

Ein Sonderheft der Zeitschrift Merkur

Von Caroline AlbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Albert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vergleicht man die sich mehrenden Abgesänge auf die Postmoderne mit ihrer publikumswirksamen 'Ausrufung' durch Charles Jencks' Werk "The Language of Postmodern Architecture" im Jahre 1977, so breitet sich Ernüchterung aus. "Viele postmoderne Revisionen, Variationen und Substitutionen der Moderne gehören heute zum Selbstverständlichen unseres Bewußtseins und unseres Alltags". Gleichzeitig aber markieren "wichtige Oppositionen zwischen Moderne und Postmoderne Differenzen [...], die es sozusagen schon von jeher gab, nicht nur in der Moderne." Die Postmoderne als heilsame Provokation für "die Verkrustungen und Selbstgefälligkeiten der Moderne" Die Herausgeber des "Merkur"-Sonderheftes jedenfalls sehen diese Lektion (als) gelernt an. Zwischen Philosophie-, Literatur-, Musik-, Kunst- und Architekturgeschichte vermittelnd entfalten die Beiträger ein Panorama der (nicht mehr so) neuen Pathosformeln und der alten Epochendiagnosen, die verdeutlichen, warum gerade die Moderne so anfällig für Überschreitungen aller Art sein mußte. Ist sie doch, wie der grundlegende Beitrag von Walter Grasskamp zeigt, schon seit dem 5. Jahrhundert "antithetisch zu dem (Begriff) der Antike" zu denken und damit eher ein Verhältnis- und Stilkonzept als eine genuine Epochenbezeichnung. Wenn aber "die Moderne in jeder Epoche steckt und jede Epoche in der Moderne", dann werden die Institutionen, Formen und Haltungen ästhetischer Selbstvergewisserung wichtiger als die "klare, an ästhetischen Kriterien orientierte Einteilbarkeit der Geschichte". Mit Karl Heinz Bohrer bestätigt Grasskamp, daß "die Moderne [...] von Beginn an schon ihr eigenes post histoire war." - auch wenn sie es erst jetzt gemerkt hat.

Großstadt, Mode, Medien, Ironie und 'fröhliche Wissenschaft' - die Anwendungsbeispiele bestätigen mit ihren Bezugsfiguren Rimbaud, Baudelaire, Heine, Nietzsche und Benjamin die Zulieferfunktion der klassischen Moderne für die Postmoderne. Es bleibt Bohrer, dem Moralisten unter den Ästhetikern, vorbehalten, ihre Ironie als puren "kommunitaristischen Spaß" zu betrachten, als Spiel, in dem Relevanzen, Bedeutungen und Differenzen [...] und damit die diskursive Kraft der Ironie selbst eigentlich aufgehoben werden." Wolfgang Welsch, Christoph Ransmayr oder Umberto Eco verfallen dem Verdikt der "Seichtheit und Langeweile der Panästhetik", die "den stattgehabten Ironieverlust" allenfalls scheinbar "wettgemacht hätte". Ist insgesamt zu konstatieren, daß Theorien und Autoritäten in dem Band auf ihren diagnostischen Wert und nicht auf Zitierhäufigkeit hin überprüft werden, so bestätigt sich so doch nochmals die Bedeutung von Jean-François Lyotard, den nicht nur Hans Ulrich Gumbrecht als Vermittler "zwischen den dramatischen Alternativen der Ausgangssituation", also "dem gänzlich selbsttransparenten" und dem seine eigene Abdankung feiernden Subjekt, würdigt. Der Preis (oder Gewinn) dieser Ethik und Ästhetik der Ambivalenz wäre dann allerdings, daß "sich inzwischen aus der Moderne / Postmoderne-Debatte eben keine Funken mehr schlagen" lassen. Vielmehr besteht ihr Erkenntniszuwachs in der gestiegenen Aufmerksamkeit für die "Unverläßlichkeit der Medien Sprache und Schrift", die Jochen Hörisch an den - offenbar unerschöpflichen - "Wahlverwandtschaften" herauspräpariert, für die Alternative von Lesen und Leben und für die Chancen und Gefahren des Manierismus.

Gerade hier zeigt sich der Vorzug des Genres Zeitschrift, das ja nicht nur gehaltvolle Grundsatzartikel, sondern auch Glossen, Miszellen und Parodien enthält. Andrea Köhler hat aus der Postmoderne gelernt, daß man mit drei Zitaten, "eins von Hesiod, eins von Hegel und eines von Tarantino" sowie einer "Widmung an Jacques Derrida" und der fiktiven Herausgeberschaft "eines pädophilen Franziskanermönches" beliebig viele (selbstverständlich postmoderne) Romane produzieren kann, während das (Ehe-?)Paar Jörg und Mariam Lau mit der "miese(n) Stimmung in den Gender Studies" und dem "Gratis-Durchblickertum" postmoderner Zeichentheoretiker à la Derrida hart ins Gericht geht. So stellt man fest, daß das allgegenwärtige Gleiten der Signifikanten das (durchgängige) "Gelingen der Zeichenverwendung im Alltag, in der Kunst, in der Politik, in der Wissenschaft" eben nicht erklärt, während die 'Abwesenheit des Sinns' dem dekonstruierenden Interpreten reichlich Gelegenheit gibt, Distinktionsgewinne einzuheimsen." Ein Schnellkurs in Bourdieu hätte hier sicherlich weitere Erkenntnisse bringen können. Vor allem, da als letzter Beiträger Wolfgang Schömel, der Literaturreferent der Kulturbehörde Hamburg, den Leser- und vielleicht mehr noch die Leserin - mit dem Inhalt seiner "beiden Kleiderschränke" und den Problemen von dessen angemessener Verwertung konfrontiert. "Zum Glück" verfügt er immerhin nicht über "die deutsche Sandale, aus der vorne Socken rausschauen." Ein Desiderat bleibt dennoch der "wirkliche Sommerschuh"! Ihm vergleichbar ist nur noch die Suche von Claus-Steffen Mahnkopf nach einer Neuen Musik, "die in Dichte und Energie, aber auch in ihrer Ambivalenz eine Vitalität erlebbar macht, die dem Subjekt ermöglicht, aufzubegehren gegen Entfremdung und Fremdbestimmung." Deutlich Adorno verpflichtet ("Mit den Ohren denken") konfrontiert Mahnkopf die aktuelle Konjunktur "des Neue-Musik-Systems" und seiner "Regression hinter das eigene Problembewußtsein" mit der Forderung nach einer zweiten Moderne, die sich zwar erst vage abzeichnet, offenbar aber - der romantischen Universalpoesie vergleichbar - "die kritische, selbstreflexive, innovative, anspruchsvolle, aufgeklärte, eben Neue Musik in Absetzung von zeitgenössischer" hervorbringen soll. Eine solche messianische Hoffnung auf die "Kontinuität von Adornos Projekt" nimmt sich gegenüber den Bilanzen vom Tod des Autors (Heinrich Detering), des philosophischen Universalismus (Martin Seel), der Geschichte (Siegfried Kohlhammer), der Identität (Paul Michael Lützeler) und schließlich sogar der Wissenschaft selbst (Alan Sokal/Jean Bricmont) geradezu rührend vormodern aus.

Sie findet aber ihr (ernüchtertes) Pendant in all jenen Beiträgen, die nach dem "stille(n) Ende der Postmoderne" (Hans-Peter Müller) immerhin noch wissen wollen, welche praktischen Konsequenzen aus dem Ersatz von Substanz durch Form gezogen werden können, konkret: ob es eine Moral der (durch die Postmoderne noch stärker auf ihre Aporien hingewiesenen) Spätmoderne gibt (und geben soll). Vielleicht sind Sokal / Bricmont als Naturwissenschaftler noch am unbefangensten, wenn sie in mehreren Forderungs- bzw. Kritikkatalogen und aus der Erfahrung der US-amerikanischen Verklammerung von Postmoderne und political correctness die elementaren Regeln wissenschaftlicher Kommunikation in Erinnerung rufen. "Rational, aber nicht dogmatisch, wissenschaftlich, aber nicht wissenschaftsgläubig, offen, aber nicht belanglos, politisch progressiv, aber nicht sektierisch" - so lautet ihre Zielperspektive, die von den deutschen Beiträgern eher zaghaft als entschlossen aufgegriffen wird: Jörg Lau schätzt ebenso wie Müller die Gefahren der Ironie höher ein als die imaginäre Bedrohung durch ein "monströses Ganzes, das uns zu erdrücken droht" und das man womöglich "gegen (seine) eigene Logik verteidig(en)" sollte; Wolfgang Bonß dagegen plädiert im Hinblick auf die "globale Umstellung der gesellschaftlichen Problemverarbeitung" für "die Anerkennung des prinzipiell Unvorhersehbaren", die ihrerseits Vorsicht und Vertrauen als Grundlagen "einer aktiven Unsicherheitsorientierung" erfordert. Sie hat Friedrich Balke im Blick, wenn er die - auch marxistische - "Ethik der Identifikation mit dem Opfer" ersetzt wissen will durch die Erkundung "derjenigen Bedingungen, die das Neue, das Unerhörte in der Geschichte ermöglichen". Ob nun aber Luhmanns "periodische Entdogmatisierung und Neuanpassung des Systems" oder die "flexible Normalität" des ungenannt bleibenden Jürgen Link die Leitlinie für den Umgang mit der (nicht mehr so) neuen Unübersichtlichkeit liefern sollen - dies bleibt vorerst offen. Wünschenswert dagegen wäre ein "Merkur"-Heft zu Normalisierungskonzepten im Kontext der Zweiten Moderne.

Titelbild

Karl Heinz Bohrer / Kurt Scheel (Hg.): Postmoderne. Eine Bilanz.
Ernst Klett Schulbuchverlag, Stuttgart 1999.
245 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3129741933

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