Unruh und Hemmung

Nadine Hostettlers Roman "Die letzte Hemmung"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie schon in ihrem literarischen Debütwerk "Fräulein Matter verliebt sich" (2000) beschäftigt sich Nadine Hostettler wieder mit dem Niedergang des Uhrmacherhandwerks und den damit einhergehenden Verödungen ganzer Landstriche. Nicht nur Jobs, sondern Lebensinhalte gingen verloren - heute wie damals. In ihrem Erstling war es der Maler Leo, der sich völlig zurückzog und sich nur noch mit dem Füttern von Tauben beschäftigte.

Ähnlich verhält sich der Protagonist im neuen Roman. Der ehemalige Direktor einer Fabrik für Präzisionsuhren ("Ich trage sie in mir wie ein Gefühl.") hat 36 Jahre im gleichen Unternehmen gearbeitet. Nachdem er mitansehen musste, wie die billige Massenware aus Fernost die teure Handarbeit vom Markt verdrängte, lebt er zurückgezogen mit seiner Frau im kleinen fiktiven Dörfchen Aureole (nomen est omen!), schwärmt von den vergangenen Zeiten oder löst Kreuzworträtsel.

Das anstehende 150-jährige Jubiläum der Fabrik, in der nach einem "Relaunch" nun ebenfalls drittklassige Fließbandware produziert wird, weckt ihn aus seiner Lethargie. Er hat sich in den Kopf gesetzt, eine Sammlung besonders hochwertiger Einzelstücke zusammenzustellen und so die Geschichte der Fabrik und der Region in die Gegenwart zu retten.

Dieses Projekt verfolgt der namenlose Protagonist mit geradezu manischer Besessenheit. Er hegt und pflegt die Exponate tage- und nächtelang und vergisst darüber sogar seinen 50. Hochzeitstag. Seine Frau flüchtet in bitteren Zynismus: "50 Jahre Einsamkeit, das ist es, was ich heute feiere."

Der Direktor wirft für seine Sammlung sämtliche Prinzipien über Bord und besucht sogar den Chefredakteur einer Zeitung, in der er einst als eine Art "Fortschrittsgegner" gegeißelt worden war. Ausgerechnet dieser Gaillard mutiert zu einem geistigen Verwandten der Hauptfigur, denn auch am Zeitungschef ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Er hockt in einem dunklen Kämmerlein, produziert nur noch eine Seite pro Monat und würde die Zeit am liebsten zurückdrehen.

Die gebürtige Bernerin Nadine Hostettler (Jahrgang 1959), die einige Jahre als Korrespondentin in Mexico tätig war und heute für das Schweizer Fernsehen arbeitet, wartet mit reichlich Detailkenntnissen über das Uhrmacherhandwerk auf. Unruh und Hemmung sind - so erfahren wir - wichtige Bauteile eines handgearbeiteten Chronometers. Unruh und Hemmung kennzeichnen auch den Gemütszustand des Direktors. Je näher das Firmenjubiläum rückt, um so stärker taucht er in die Vergangenheit ein und überwindet auch seine "letzte Hemmung". Er will seiner einstigen Geliebten, der Vergolderin Reneé Piaget, einen Besuch abstatten. Doch das Überschreiten dieser inneren Hemmschwelle geschieht beim über 70-jährigen Protagonisten zu spät. Er hat auf seine Weise den Kampf gegen die Vergangenheit doppelt verloren, denn Reneé ist an einer tödlichen Mischung aus Lungenentzündung und Einsamkeit verstorben.

In Nadine Hostettlers Roman greifen Vergangenheit und Gegenwart wie Zahräder ineinander. Dass die Frau des Direktors am Ende das halbe Dorf ins Haus einlädt, um die Sammlung ihres Mannes bestaunen zu lassen, mutet wie ein Pyrrhussieg an, wie engagierte Claqueure im Theater.

"Die letzte Hemmung" ist ein stilles Buch, erzählt mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks, das keinerlei Aussetzer erlaubt. Ein monotones verbales Ticken als künstlerisches Symbol gegen den Fortschrittswahn.

Titelbild

Nadine Hostettler: Die letzte Hemmung. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
151 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3895611743

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