Dem Holocaust entgangen

Georges-Arthur Goldschmidt über die Abwesenheit Gottes

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Gott, der große Abwesende, wich mir zeit meines Lebens nicht von den Fersen, und fast hätte ich dafür den höchsten Preis gezahlt. Als Christ 'jüdischer Herkunft' geboren, Agnostiker, wenn nicht Atheist geworden, hatte ich wirklich alle Chancen von niemandem als seinesgleichen angenommen und vom Schicksal dazu verdammt zu werden, als Seife oder Rauchfahne zu enden ... heute, angesichts der Abwesenheit Gottes, bin ich glücklich wie ein Fisch im Wasser. Zur lange geplanten Vernichtung geboren, habe ich mich durchgeschummelt und bin immer noch da, wofür Gott nichts kann, nur ein Gendarm, eine verdrehte, perverse Heimleiterin, ein Dorfvikar und ein paar savoyardische Bauern können was dafür." Mit diesen Worten beginnt der heute in Paris lebende Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt seine Abrechnung mit Gott.

Goldschmidt erinnert daran, dass die Shoah nicht aus dem Nichts entsprungen sei, sondern dem Schoß des Christentums, dem christlichen Bewusstsein. Auschwitz, dem er "unverdientermaßen" entgangen sei, sei von Menschen entworfen und verwirklicht worden, die sich auf denselben Gott berufen hätten wie die Ermordeten.

Der Autor erzählt von seinen Vorfahren, alteingessenen Hamburger Juden. 1868 trat sein Großvater aus der Jüdischen Gemeinde aus. Der Vater, 1873 geboren, wurde im lutherischen Glauben erzogen und übte später als Häftling im Konzentrationslager Theresienstadt die Funktion eines Pastors für die evangelischen Juden aus.

Für Georges-Arthur Goldschmidt selbst war Gott von Anfang an gegenwärtig. Getauft von einem lutheranischen Pastor, besuchte er den evangelischen Religionsunterricht, von dem er allerdings ausgeschlossen wurde, als ein jüngerer Pastor an die Stelle des alten verstorbenen trat, weil ein kleiner Jude - immerhin galt Goldschmidt seit 1935 nach den Gesetzen der Nazis als "Volljude" - den Gottesdienst nicht besuchen durfte. Als es in Deutschland für Juden immer gefährlicher wurde, schickten die Eltern Arthur und seinen Bruder ins Ausland, wo Arthur dank einer katholischen Heimleiterin und hilfsbereiter Bauern die Shoah überlebte.

Nach dem Krieg trat Goldschmidt zwar zum katholischen Glauben über, doch gleichzeitig intensivierte sich sein Nachdenken über Gott. Vor allem die weiter anhaltende, ebenso groteske wie verbrecherische Rede vom "Volk der Gottesmörder", führte ihm mit einem Schlag die Nichtigkeit seiner bisherigen Glaubensinhalte vor Augen. Zudem war ihm längst klar geworden, dass kein Mensch wertlos genug sei, einem Bekenntnis geopfert zu werden, und dass keine Religion der Welt auch nur ein einziges Menschenleben wert sei.

Der Autor und Übersetzer las Blaise Pascal, Michel Foucault, Franz Kafka, Emmanuel Lévinas, Henri Bergson und stürzte sich auf die Bücher von Rousseau. Er entdeckte Angelus Silesius und Jakob Böhme und fand bei Descartes die letzte Bestätigung der unumgänglichen Selbstpräsenz jedes Ichs durch den Satz "Cogito ergo sum" - Ich denke, also bin ich. Auch Gershom Scholem und Wilhelm Humboldt wurden ihm bei der Klärung sogenannter letzter Fragen wichtig.

Nachdem Goldschmidt die Bekanntschaft mit so verschiedenen Geistern gemacht hatte, brach er jäh und endgültig die Suche nach jenem bewiesenen und definierten Gott ab, den man ihm vorgesetzt hatte. Die Dreieinigkeit erschien ihm als Hirngespinst und der uneingestandene Kannibalismus der Transsubstantiation stieß ihn ab. Wahrer Glaube, so meinte er nun, brauche keinen Gott. Die durch grausame Menschenopfer entstellte Gottesidee sei die gründlichste Verirrung des menschlichen Denkens. Die Sündenböcke, die angeblich der Ehre Gottes geopfert wurden, dienten in Wahrheit stets der Verewigung von Gewalt und Verbrechen sowie der Verfestigung von Oben und Unten. Gott sei nur eine sprachliche Täuschung. Der endgültige Beweis für die Abwesenheit Gottes aber sei der Schmerz, das Weinen eines Kindes. Heute weiß Goldschmidt, dass alles, was sich der Einsicht und dem Begreifen noch entzieht, zum Ich gehört, das die Verantwortung tragen soll. Jedes menschliche Wesen sei eine "schwindelerregende, unaufhörliche Selbstpräsenz, die in ihrer Kontinuität ans Unendliche stößt." Der Mensch sei sich selbst das größte Geheimnis und entziehe sich jedem Zugriff.

"Die menschliche Existenz an sich, sie ist es, die wir für Gott halten. Seine ganze Geschichte hindurch blieb der Mensch, sich selbst und seiner Bestimmung entfremdet, für sich der große Unbekannte, das größte Geheimnis."

Noch immer fühlt sich der Autor, wie er wiederholt versichert, angesichts der Abwesenheit Gottes froh und glücklich. Der einzige Gott, an den er bereit ist zu glauben, ist das alltägliche Wunder des eigenen Lebens, verbunden mit dem Jubel darüber, dass er existiert. Denn das Staunen darüber, am Leben zu sein, habe bis heute nicht nachgelassen.

Titelbild

Georges-Arthur Goldschmidt: In Gegenwart des abwesenden Gottes.
Übersetzt aus dem Französichen von Brigitte Grosse.
Ammann Verlag, Zürich 2003.
93 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3250300144

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