Jede Menge Creeps

In Christa Heins Roman "Vom Rand der Welt" dreht sich alles um den ganz normalen Wahnsinn des Schreibens.

Von Susanne BlümleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Blümlein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Begriff des "creep" bezeichnet man im Amerikanischen einen Widerling. In einer speziellen Bedeutung verwendet man das Wort auch für Menschen, die "unheimlich" sind, deren norm-abweichendes Verhalten anderen Gänsehaut verursacht.

Creeps findet man mehr als genug in Christa Heins Roman "Vom Rand der Welt", auch wenn die Erzählung vordergründig nicht von dieser Spezies handelt. Prima facie erzählt der Roman von der Deutschen Liz Bergmann, die an einer Universität in der Kleinstadt Blossom, Südindiana (USA) "creative writing" unterrichtet. Sie selbst muss am Ende ihres befristeten Vertrages einen Romanentwurf vorlegen, um weiter in den USA leben und arbeiten zu dürfen. Liz will die Geschichte ihrer Großmutter Lina aufzeichnen, die ebenfalls eine Zeit lang in den USA lebte und die starb, als Liz geboren wurde. In Linas Vergangenheit gibt es etwas, über das die Menschen, die sie kannten, schweigen. Um ihren Roman schreiben zu können, begibt sich Liz auf die Suche nach Lebensspuren von Lina. Doch an nahezu jeder Station, die sie durchlaufen muss, trifft sie auf einen Creep. Und einige gehören nicht zur ungefährlichen Sorte.

Trotzdem bringen die Suche und die mit ihr verbundenen Begegnungen Liz nicht nur das fremde Leben ihrer eigenen Großmutter näher, sondern sie verhelfen auch ihrem Schreiben zu einer neuen Qualität. Wie Liz' Kollegin Melody sagt, besitzen ihre Texte nun endlich jenes "Quäntchen Wahnsinn", das jede gute Erzählung ausmacht. Doch ist dieses "Quäntchen Wahnsinn" nur in Liz' Texten oder ist es auch in Liz? Oder ist ein bisschen Wahnsinn "normal" für eine Schriftstellerin? Wo hört das Normal-Sein auf und wo fängt das Zum-Creep-Werden an?

Liz Geschichte wird von einem Erzähler und von Liz selbst erzählt. Zusätzlich durchziehen Liz' Schreibversuche und Romanfragmente das ganze Buch. Verbunden werden diese drei Erzählebenen dadurch, dass Liz ihre eigenen alltäglichen Erlebnisse in ihren Romanfragmenten verarbeitet. So vermischt sich Liz' Geschichte immer mehr mit Linas Geschichte, während Liz' Texte die Erzählung des Erzählers unterbrechen und den Leser zu weiteren, anderen Geschichten führen, die etwas mit der Erzählung um sie zu tun haben können oder auch nicht. Christa Hein ist es zu verdanken, dass sich der Leser in diesem Geschichten-Labyrinth zurechtfindet. Immer wieder führt sie ihn zur eigentlichen Erzählung um Liz zurück. Dennoch bleibt viel Raum zur Interpretation, denn die Autorin lässt es offen, zu welcher der drei Erzählebenen der jeweilige Textabschnitt gehört und zu welcher Gattung der Text gezählt werden darf.

Liz gerät bei ihrer Suche in Gefahr. Die Angst vor einem Vergewaltiger geht um, ein Mörder wird gefasst und Liz' Katze fällt einem sadistischen Anschlag zum Opfer. Trotzdem ist "Vom Rand der Welt" kein Thriller oder Krimi. Denn geschildert werden diese Ereignisse in einem lakonischen Ton, der deutlich macht, dass diese gewaltbereite Welt, in der die Figuren leben, nicht außergewöhnlich ist. Der Roman ist schlicht ein Gesellschaftsroman, in dem eine bürgerliche Gemeinschaft gespiegelt wird, in der ein von Angst, Vorsicht und Waffenbesitz geprägtes Leben Realität ist und für "normal" gelten kann. Auch zählt der Roman zu den klassischen Texten der Identitätsfindung. Liz' Suche ist die Suche nach den eigenen Wurzeln.

Doch in erster Linie ist dieser Roman ein Buch über das Schreiben, genauer gesagt: über den Versuch, einen Roman zu schreiben. Ob es Liz am Ende gelingen wird, erfährt der Leser nicht mehr. Der Beweis, dass es Christa Hein gelungen ist, liegt dagegen in der Hand.

Titelbild

Christa Hein: Vom Rand der Welt. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2003.
452 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3627001001

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