Philosophiegeschichte für Liebhaber

Der "neue Ueberweg" von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Namen Ueberweg verbindet sich Philosophiegeschichte in großem Stil. Friedrich Ueberweg (1826-1871), Aristoteliker alter Schule, hat den "Grundriss der Geschichte der Philosophie" begründet, ein Werk, das zwischen 1863 und 1928 in insgesamt zwölf Auflagen erschien. Aufgrund seiner ausführlichen Darstellungen philosophischer Systeme, Strömungen und Kontroversen wurde der "Ueberweg" zum Standard-Nachschlagewerk der Philosophiegeschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.

Der neue Grundriss steht in dieser anspruchsvollen Tradition. Auf über 30 Bände geplant, handelt es sich bei diesem großen philosophiehistorischen Projekt nicht nur um eine "Neubearbeitung" des alten Ueberweg, sondern um ein teils neu konzipiertes und noch weitaus differenzierteres Vorhaben. Die auf vier Bände angelegte Philosophie des 17. Jahrhunderts, die mit dem vorliegenden Band in zwei Halbbänden endlich vollständig erschienen ist, dokumentiert nicht weniger als die Philosophieentwicklung in Europa zwischen Reformation und Aufklärung. Eine auch nur annähernd vergleichbare Arbeit existiert nicht. Vielleicht kann man generell sagen, dass der "neue Ueberweg" neben dem "Historischen Wörterbuch für Philosophie" das Paradepferd der deutschsprachigen Philosophiegeschichtsschreibung ist.

Der vierte Band konzentriert sich auf die "politische Geographie" des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, das heißt primär auf "Deutschland", und behandelt außerdem in der zweiten Hälfte des zweiten Teilbandes die philosophischen Schulen in Polen, Skandinavien und dem Königreich Ungarn. Er liefert in seiner "personen- und strömungsgeschichtlichen Ausrichtung" umfassende bibliographische Angaben zur Primärliteratur (Erstausgaben, Neuauflagen, wichtige Übersetzungen, kritische oder kommentierte Editionen), biographische Informationen mit einem Schwergewicht auf unbekannten Philosophen und deskriptiv abgefasste Werkbeschreibungen auch von abgelegenen Texten, die in Aufbau und Inhalt der philosophischen, aber auch häufig der naturwissenschaftlichen, medizinischen, juristischen, politischen und theologischen Werke einführen. Hinzu kommt eine jeweils systematische Darstellung der philosophischen Lehre und ihrer Entwicklung in Grundzügen. Zuletzt vermittelt der neue Ueberweg einen guten Einblick in die Rezeptionsgeschichte wichtiger Texte und informiert umfassend über die Sekundärliteratur. Der neueste Forschungsstand wird auf allen Ebenen berücksichtigt.

Die notwendigen Einteilungskriterien des "Grundrisses der Geschichte der Philosophie" sind zunächst chronologischer, biographischer und territorial-politischer, dann aber auch philosophisch-systematischer und rezeptionsgeschichtlicher Art. Sie sind überlegt ausgewählt und flexibel gehandhabt. Die Herausgeber des vorliegenden vierten Bands des 17. Jahrhunderts tragen einen breiten Philosophiebegriff an das Material heran und orientieren diesen an einem engeren, aktuelle Diskussionszusammenhänge reflektierenden Begriff. So gelingt es gut, philosophierelevante Phänomene aus Bereichen einer mehr allgemeinen Kulturgeschichte zu berücksichtigen, ohne doch zu sehr vom engeren Gebiet der Philosophie abzuweichen: zum Beispiel wird von der Dichtung allein die Barockmystik abgehandelt, nicht aber Autoren wie Opitz oder Gryphius. Im Folgenden werde ich mich auf den Teil über die Philosophie im "Reich" beschränken, der in zehn Abschnitte gegliedert ist.

Die "deutsche" Philosophie im 17. Jahrhundert ist in groben Zügen durch einige wesentliche Spannungsfelder charakterisiert. Während die an den Universitäten gelehrte Philosophie die aristotelische Scholastik tradiert und konfessionsgebunden politische und kirchliche Interessenskonflikte austrägt, entwickelt sich nebenher eine an Paracelsus und die Philosophie der Renaissance angelehnte spiritualistische Naturphilosophie, die auf platonisches und neuplatonisches Gedankengut zurückgreift. Zudem vollzieht sich mit der langsamen Entwicklung der Naturwissenschaft aus dem Geiste Bacons und Galileis ein Wandel auch innerhalb der Schulphilosophie, der gegen Ende des Jahrhunderts in unterschiedlichen Bereichen - der politischen Philosophie, der Philosophie des Rechts, der Religionskritik - die deutsche Aufklärung entzündet. Über all dem thront, so der Hauptherausgeber Helmut Holzhey, Gottfried Wilhelm Leibniz als größter deutscher Philosoph und exemplarischer Repräsentant des 17. Jahrhunderts. "So wie er an das Denken der Renaissance anknüpft, so weist er in einigen Aspekten seines Werks, z. B. mit seinem Fortschrittsoptimismus, seinen Vorschlägen zur Verbesserung der Manufaktur, des Medizinalwesens u. a., auf die Aufklärung voraus, auf deren Erscheinungsbild in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die 'Theodicée' maßgeblichen Einfluss hatte."

Im ersten Kapitel wird die hermetisch-platonische Naturphilosophie - insbesondere in ihrer Ausprägung als philosophische Mystik - dargestellt. Neben Ausführungen zu den Paracelsisten, Weigelianern und Pansophie-Bewegungen dieser Zeit wird u. a. die physikalische Lehre von Johann Amos Comenius (1592-1670), die alchimistische Naturphilosophie von Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689), die mystische Dichtung von Johannes Angelus Silesius (1624-1677) und vor allem die Schriften des philosophus teutonicus Jakob Böhme (1575-1624) in groben Zügen rekonstruiert und in den geschichtlichen Zusammenhang gestellt.

Im zweiten Kapitel werden die christlichen Erneuerungsbewegungen thematisiert, die als Folge der Rigidität der kirchlichen Orthodoxien im Streit von Reformation und Gegenreformation mit einem utopischen Bildungskonzept auf den Plan treten. Hierbei spielt Johann Valentin Andreae (1586-1654) und sein Tübinger Kreis eine wichtige Rolle, in dessen Umfeld die Manifeste der Rosenkreuzer-Bewegung entstanden. Bekannt geworden ist Andreae durch seine Schriften "Chymische Hochzeit" und "Christianopolis". Neben Andreae steht Comenius, der das "Gesamtbild einer weltweiten idealen christlichen Gesellschaft" entwirft, die mit den Mitteln einer pansophischen Erziehung verwirklicht werden sollte. Nach diesen beiden bekanntesten Autoren der christlichen Reformbewegung wird noch das Lebenswerk von Wolfgang Ratke (1571-1635) und Johann Joachim Becher (1635-1682) ausführlicher erörtert. Das Kapitel schließt mit einer Darstellung des Pietismus als einer im 17. Jahrhundert im Protestantismus aufkommenden Bewegung, die sich mittels Aufwertung der individuellen Aneignung des Glaubens und der religiösen Erfahrung gegen das konfessionelle Kirchentum wendet. Für Deutschland kann die Erbauungsliteratur von Johann Arndt (1555-1621) als Pionierarbeit dieser Bewegung gelten.

Gegenstand des dritten Kapitels ist der sog. Lullismus (geht zurück auf den katalanischen Philosophen Ramón Llull bzw. Raimundus Lullus), dessen entwicklungsgeschichtliche Linien gerade auch im Kontext der deutschen Schulphilosophie eine bemerkenswerte Kontur machen und generell in der Philosophiegeschichtsschreibung nur marginal behandelt werden. Thomas Leinkauf, der Autor dieses Kapitels, rettet eine ganze Reihe unbekannter Figuren aus dem Dunkel der Archive. Ich nenne nur einige Namen: Juvenalis Ruffinus Annaniensis, Janus Caecilius Frey, Ulrich Staudigl, Johann Heinrich Bisterfeld. In einem eigenständigen Paragraphen wird Athanasius Kircher (1602-1680) behandelt, der auf exemplarische Weise mit lullistischen Kategorien und Methoden das Projekt einer Universalwissenschaft vorantreibt.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Schulphilosophie, die im vierten Kapitel zur Darstellung kommt. "Mit der zentralen Plazierung der Schulphilosophie soll unter anderem zum Ausdruck gebracht werden, dass sie - im Vergleich zu anderen Kulturregionen Europas - in Deutschland eine herrschende Stellung besaß." Das Kapitel gliedert sich - neben einer Einführung in die Universitätsgeschichte - in drei Hauptteile: so wird die Schulphilosophie in den katholischen, reformierten (calvinistisch) und lutherischen Territorien nacheinander erörtert. Allgemein gilt, dass der philosophische Unterricht an den Universitäten politischen und kirchlichen Interessen zugeordnet wurde. Philosophie als ancilla theologiae ist der Erkenntnisquelle der religiösen Offenbarung generell untergeordnet. Das führt zum einen dazu, wie die Autoren des Kapitels ausführen, dass die Philosophie einen gewissen Schutz vor religiösem Aberglauben genießt, andererseits aber von außen festgelegten Erkenntnisgrenzen unterworfen und für konfessionelle Auseinandersetzungen instrumentalisiert wird. Die Philosophie im konfessionellen Zeitalter, im Umfeld der Wirren des Dreißigjährigen Krieges, hat kontroverstheologische Aufgaben zu übernehmen und ist weit entfernt von jener prinzipiellen Autonomie des späteren Aufklärungsgedankens.

Das Material dieses Kapitels wird weniger personenbezogen präsentiert, als vielmehr universitätsbezogen. So werden zum Beispiel im katholischen Territorium die Hochschulen von Ingolstadt und Dillingen, Köln, Mainz, Würzburg, Graz, Freiburg und Prag mit den Hauptvertretern des Fachs Philosophie vorgestellt. Zudem wird allgemein über die Konzepte der Logik-, Physik- und Metaphysikkurse informiert und die philosophischen Arbeiten der verschiedenen Ordensrichtungen (Jesuiten, Benediktiner, Augustiner, Dominikaner) referiert.

Das fünfte und sechste Kapitel widmet sich der politischen Philosophie und dem Naturrecht. Die Dominanz des politischen Aristotelismus an den protestantischen Universitäten, das von den Jesuiten getragene Monopol der thomistischen Scholastik im katholischen Deutschland, stehen beide für die allgemeine Überzeugung, "dass das politische Gemeinwesen kirchlich-religiöse Aufgaben zu erfüllen habe und die gemeinsame Religion der Bürger das wichtigste Fundament der Staaten sei." Entgegen der zumeist konservativen Tendenz einer konfessionellen Verchristlichung von Politik und Gesellschaft führt die zunehmende Rezeption neuer Theorien - etwa von Bodins Souveränitätslehre, Machiavellis "Il Principe", Hobbes und Grotius - zur Entwicklung neuer Paradigmen des Staatsrechts, der empirischen Analyse politischer Gebilde oder der Naturrechtstheorie. Gerade diese spielt für die beginnende Aufklärung eine große Rolle, die sich im Kontext der "Säkularisierung" gegen den Absolutismus des real existierenden "Religionsstaates" in der Restaurationsphase wendet. Namentlich Samuel Pufendorf (1632-1694) hat eine große Wirkungskraft entfaltet in seinem Bemühen, ein überkonfessionell verbindliches Normensystem für Recht und Moral zu begründen. Der Ueberweg widmet ihm ein langes Kapitel, behandelt aber auch weitgehend vergessene Gestalten der christlichen Naturrechtslehre wie Valentin Alberti, Samuel Strimesius und Johann Ludwig Prasch.

Ein Meisterstück des vorliegenden Bandes ist die von Winfried Schröder vorgenommene Darstellung der philosophischen Clandestina im siebten Kapitel, das sich mit dem Problemfeld von Religion und Vernunft auseinandersetzt. Während sich die "Religionsphilosophie" im 17. Jahrhundert zumindest in Deutschland hauptsächlich schulphilosophisch und konfessionsgebunden zwischen den Extremen des Sozinianismus und Fideismus abspielte, zeigt Schröder, dass sich die französische Untergrundliteratur der littérature clandestine auch in deutschen Landen bemerkbar machte. Er schreibt dazu: "Zögernd, aber im Hinblick auf die Religionsphilosophie der Aufklärung folgenreich, macht sich ungeachtet beherrschender Kontinuitäten in den religionsphilosophischen Quellen des 17. Jahrhunderts eine gravierende Veränderung im Verhältnis von Vernunft und Glaube bemerkbar." Diese Veränderung betrifft die selbstverständliche Anerkennung der Wahrheit der christlichen Religion. In den Texten von Matthias Knutzen (geb. um 1646), Friedrich Wilhelm Stosch (1648-1704), Johann Georg Wachter (1673-1757) und Theodor Ludwig Lau (1670-1740) spürt er Fragmente einer radikalen Religionskritik auf, die bis zum Bekenntnis des Atheismus fortschreitet.

Das achte Kapitel beschäftigt sich mit der neuen Naturphilosophie (im Zuge der Entwicklung der neuen Naturwissenschaften), die sich nur langsam an den Universitäten von Strassburg bis Prag und von Genf bis Königsberg durchsetzen konnte. Sie hatte vor allem mit der aristotelischen Scholastik zu kämpfen. Ein typisch deutsches Beispiel für die eigentümliche Aufnahme der neuen Ergebnisse und Methoden der "kopernikanischen" und empirischen Naturforschung ist Johannes Kepler (1571-1630). Bei ihm verschränkt sich die mathematische Methodologie mit einer hermetisch-platonischen, auch stark vom Pythagoräismus inspirierten Naturphilosophie. Das große Thema seiner Arbeiten ist die forma mundi, das harmonische Gestaltungsprinzip des Kosmos, das mittels geometrischer Proportionen empirisch beweisbar sein soll. Kommt er somit einerseits den nach ihm benannten Planetengesetzen auf die Spur, so weiß er sich andererseits den Gesetzen der Astrologie verpflichtet. Diese spiegeln nicht weniger als die göttliche Ordnung des Weltgeschehens, welcher sich der menschliche Geist annähern kann. Naturerkenntnis ist für Kepler "wesentlich Erkenntnis im Nachvollzug des göttlichen Schöpfungsplans."

Einer der wenigen Philosophen, die an Keplers ontologische und theologische Spekulationen anknüpfen, ist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Ausführlich beschäftigt sich das neunte Kapitel mit dem Universalgelehrten des Barock. Die Einteilung des Kapitels ist "disziplinenorientiert": der Abschnitt über Lehre und Wirkung wird untergliedert in die Bereiche Scientia universalis, Erkenntnislehre und Logik, Metaphysik, Theologie, Physik, Biologie-Medizin-Geologie, Mathematik, Musiktheorie, Praktische Philosophie und Geschichtstheorie. Das Schlusskapitel über die Philosophie im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" im 17. Jahrhundert nimmt die deutsche Aufklärung zum Gegenstand, die gewissermaßen am 31. Oktober 1687 ihren datierbaren Aufschwung nimmt: zu diesem Zeitpunkt kündigt Christian Thomasius in Leipzig die erste deutschsprachige Vorlesung (über Gracián) an. Verstärkt wird dieser Aufklärungsimpuls durch die Reform des Universitätsstudiums, die von der neu gegründeten Universität in Halle (11. Juli 1694) ihren Ausgang nimmt. Thomasius hat bei dieser Gründung intensiv mitgewirkt und prägte - wie Helmut Holzhey schreibt - "weitgehend ihr Profil in den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens". Thomasius ist als Vorkämpfer der deutschsprachigen Aufklärung anzusehen, sofern er den Anspruch erhebt, die Vernunft frei und öffentlich zu gebrauchen und zudem "erstmals in systematischer Weise Recht von Moral unterscheidet".

Der neue Ueberweg bietet alles, was man von einem auf Personen und Schulen ausgerichteten Grundriss der Geschichte der Philosophie erwarten kann. Als Nachschlagewerk der Primär- und Sekundärliteratur, der Werkbeschreibungen, der Gelehrtenbiographien und vor allem der Darstellungen philosophischer Systeme und ihrer Wirkungsgeschichten verkürzt es die langen Wege in die (den) Bibliotheken. Die Fülle des dargebotenen Materials vermittelt zudem die heilsame Einsicht in den stets fragmentarisch bleibenden Charakter des Wissens.

Titelbild

Helmut Holzhey / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie: Die Philosophie des 17.Jahrhunderts 2 Bände. Band 4: Das Heilige Römisches Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa.
Unter Mitarbeit von Vilem Mudroch.
Schwabe Verlag, Basel 2001.
1507 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3796510353

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