Schwache Verteidigung

Noch einmal zu Martin Walsers "Tod eines Kritikers”

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gut ein Jahr nach der Debatte um den Antisemitismus in Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" ist wenig geschehen. Kein Beteiligter wurde zum Außenseiter. Walser ist und bleibt - ungeachtet seiner jahrelangen Klagen über die Meinungswelt - machtvoller nationaler Meinungsmacher. Insofern wirkt der Titel etwas überzogen, den die Heidelberger Germanisten Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel für ihren Sammelband zu Roman und Debatte gewählt haben: "Der Ernstfall".

Der Konflikt ist keinesfalls ausgekämpft; wie mit Vergangenheit und Gegenwart der Judenheit in Deutschland umzugehen sei, bleibt offen. In dieser Lage wäre eine neuerliche literaturwissenschaftliche Debatte über den Text, an dem sich die Auseinandersetzung kristallisierte, nützlich - Feuilletonformat wie notwendige Eile mögen ja tatsächlich vor einem Jahr zu Verkürzungen geführt haben. Die Herausgeber stellen sich allerdings die Aufgabe, "den vielfach denunziatorischen Lesarten des Romans, welche seinen Perspektivismus verkennen, die Genauigkeit philologischer Lektüre entgegenzusetzen". Hier nun sind zwei für sich legitime, doch einander widersprechende Ziele zusammengezwungen: die verspätete Parteinahme einerseits, die idealiter ergebnisoffene Forschung andererseits.

Aus dem Widerspruch ergeben sich gravierende Schwächen des Bandes. Vor allem stellen sich die Verteidiger Walsers kaum je den Argumenten der Gegenseite, da die Thesen der Kritiker ja vorab als "denunziatorisch" abgewertet werden. Frank Schirrmacher und Jan Philipp Reemtsma erscheinen zwar häufig als Watschenmänner, doch unter vierzehn Beiträgern hält es überhaupt nur einer, der Linguist Rainer Wimmer, für notwendig, sich mit ihren Texten auseinanderzusetzen. Dem Unwillen zur Diskussion entspricht der Zorn vieler Walser-Fans, der - für die Interpretation des Romans von minimalem Wert - zu sozialpsychologisch interessanten Phänomenen führt. Nicht neu, ist auch ihr untergründiges Bestehen eines Notats wert.

Da ist zum einen der Standesdünkel. Alle Beiträger, wissen die Herausgeber stolz zu vermelden, seien "Hochschullehrer", während ein Walser-Gegner in der "F. A. Z.", der nicht so schreibt wie Kiesel will, "vielleicht gerade einmal seine Magisterarbeit abgeschlossen hat!" Der Mensch, soweit sich mit ihm zu diskutieren lohnt, scheint für Herrn Kiesel frühestens mit der Promotion zu beginnen, wahrscheinlich erst mit der Berufung auf einen Lehrstuhl.

Walser, der nicht müde wird, seine Sprachsensibilität und seine Empfindsamkeit gegenüber jeder Macht seit Jahrzehnten hervorzuheben, hatte 1998 während der Debatte um seine nationalistische Paulskirchenrede eine Probe seines Einfühlungsvermögens geliefert. Sein Gegner Ignatz Bubis hatte als einziger seiner Familie den Nazi-Terror überlebt und musste sich in einem von der FAZ arrangierten Versöhnungsgespräch von Walser vorhalten lassen, er, Walser, habe sich schon mit Auschwitz beschäftigt, als Bubis noch mit ganz anderen Dingen (sprich: Spekulantengeschäften) befasst gewesen sei. Walsers Apologeten mögen dem nicht nachstehen. Gleich zwei Beiträger (Dieter Borchmeyer, Manfred Fuhrmann) verhöhnen Marcel Reich-Ranickis Empfindlichkeit gegenüber Phantasien vom Mord an einem jüdischen Kritiker; sie stellen etwa Wielands Souveränität gegenüber einer Satire Goethes als Beispiel hin. Dass jemand, der dem Warschauer Ghetto knapp entkam, unabhängig vom tatsächlichen Gehalt des Romans bei der mutmaßlichen Schilderung seiner Ermordung alarmiert reagieren könnte, kommt immerhin Hans Reiss und Rainer Wimmer in den Sinn. Dennoch: Hinsichtlich der Annahme, die Beschäftigung mit ästhetischen Gegenständen könnte so etwas wie menschliches Einfühlungsvermögen befördern, möchte man hier verzweifeln.

Walser ist auch Vorbild einer anderen Strategie einiger Beiträger. Schon er hatte in der Debatte um seinen Roman behauptet, wer im Buch antisemitische Stereotype erkenne, denke offensichtlich selber in antisemitischen Mustern. Diese Umkehrung ist jedoch absurd. Wer die Propagandamethoden der Judenfeinde kennt, ist noch lange kein Antisemit, selbst wenn er einmal zu Unrecht eine Warnung aussprechen sollte. Aber auch Borchmeyer wirft Schirrmacher vor, er produziere erst die antisemitischen Klischees, die er bekämpfen wolle; Silvio Vietta und Hans Reiss weiten den Vorwurf überhaupt auf die Gegner Walsers aus. Wären sie konsequent, müssten sie auch noch Reich-Ranicki, der sich vehement gegen den Roman wandte, als Antisemiten entlarven.

Doch bietet der Band mehr als hochfahrenden Gestus, mangelndes Mitgefühl und kaum verborgene Aggressivität. Dass in manchen Aufsätzen - wie dem des Psychiaters Wolfram Schmitt - Aspekte des Romans beleuchtet werden, die im hitzigen politischen Streit unberücksichtigt blieben, verwundert nicht. Freilich schließt die dadurch ausgewiesene Vielschichtigkeit einen antisemitischen Gehalt nicht aus.

Indiz für die Komplexität des Romans ist, dass seine Verteidiger sich keineswegs einig sind. Der einen Linie, deren Vertreter die Aspekte von Medien- und Personalsatire akzentuieren, steht eine andere gegenüber, deren Vertreter auf strukturelle Merkmale wie das Vorherrschen von Personenrede verweisen und jede inhaltliche Festlegung des Autors so weit wie möglich vermeiden wollen. Nun soll ein Sammelband verschiedene Perspektiven bieten und Einstimmigkeit ist deshalb gerade nicht zu fordern. Der Gegensatz verweist indessen auf ein methodisches Problem, den Inhalt von Literatur interpretatorisch festzuschreiben.

Unter Lesern, Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern besteht weitgehend Konsens, dass einerseits nicht jeder beliebige Satz in einem dichterischen Werk die Meinung des Autors wiedergibt, andererseits aber Dichtung einen Inhalt aufweist, der zumindest partiell in außerliterarisches Sprechen gefasst werden kann. Vertreter der wenigen Ansätze, die eine Selbstbezüglichkeit der Dichtung verabsolutieren, müssen sich fragen lassen, ob eine Theorie, die so weit vom empirischen Leser- und Interpretenverhalten abweicht, der Realität angemessen ist.

Aus dem Einerseits-Andererseits folgt freilich das Problem, wie aus der Vielzahl der Äußerungen in einem Text eine Werkaussage zu gewinnen ist. Diese ergibt sich jedenfalls nicht daraus, dass die Handlung jemandem "Recht gibt"; Generationen von Theaterbesuchern und Literaturwissenschaftlern haben die Rede vom "einzig Volk der Brüder" in Schillers "Wilhelm Tell" als Botschaft des Autors entziffert, obgleich die Eidgenossen im weiteren Verlauf des Schauspiels den geringsten Anteil daran haben, dass die Herrschaft des Vogtes Geßler gestürzt wird. Handelt es sich deshalb nur um ein Missverständnis, hervorgerufen durch den Pomp, mit dem der Rütli-Schwur auf die Bühne gebracht wird? Oder rechtfertigt es die so unbestreitbare wie erklärbare Wirkung, der dramatischen Struktur entgegen, sogar im demokratischen Bund einen Appell Schillers zu sehen?

Liegt eine fast zweihundertjährige Wirkungsgeschichte vor, ist es noch relativ einfach, anhand der empirischen Rezeption zu diskutieren. Der Kritiker eines neuen Werks ist nicht in dieser komfortablen Lage. Er muss die Wirkung vermuten. Schirrmacher als Leser des Manuskripts vermutete eine antisemitische Wirkung und wechselte konsequent als Warner aus den Mustern der Literaturkritik in die Sprache der Politik (was der Linguist Wimmer richtig bemerkt, aber ohne weiteres Bedenken des Konflikts verwirft).

Argument der meisten Verteidiger Walsers in Borchmeyers und Kiesels Band ist nun, dass ja fast alles, was über das mutmaßliche Verbrechen und den Kritiker Ehrl-König geschrieben sei, als Gerücht klassifiziert und sprachlich ins Konjunktiv gesetzt sei. Nun freilich unterscheiden sich, was die antisemitischen Muster angeht, viele der Reden nicht voneinander; und der Konjunktiv, eigentlich ein Modus der Unterscheidung vom Gesicherten, neigt dazu, wo er wie in Walsers Text dominiert, sich in der Rezeption als Wiedergabe des Gesicherten darzustellen. Die Vielstimmigkeit, die viele der Beiträger behaupten, tendiert zum Unisono, ebenso wie die scheinbare Distanznahme am Ende in Bekräftigung umschlägt.

Das gibt den Vertretern der These Recht, es handle sich um eine Medien- und Kritikersatire (die schließlich einen identifizierbaren Feind haben muss). Ist der Feind aber als ein jüdischer gekennzeichnet? Nein, sagen natürlich Walsers Advokaten. Das Niveau der Argumentation an diesem entscheidenden Punkt erschließt sich freilich, wenn man sich anschaut, was Helmuth Kiesel sich unter antisemitischer Literatur vorstellt. In ihr, meint er, würde dargestellt, "daß die Juden sich in einer bestimmten Weise verhielten, weil sie Juden seien und weil ihr jüdisches Wesen, ihre jüdische Natur sie dazu zwinge."

Mit anderen Worten: Er erwartet ein Traktat, in dem irgendeine Erzählinstanz deutlich als Autor, wohl im Indikativ, die Handlung unmissverständlich erklärt und eine rassistische Theorie ausführt. So etwas gab es, zuweilen, und hatte wenig Erfolg. So dumm waren auch die Autoren der Rechten selten. Sie stellten Judengestalten dar, die sich den verbreiteten Klischees entsprechend verhielten; den Transfer, dass der Jude an sich so sei, leistete das bereits vorgeprägte Publikum dann ohne explizite Anleitung. Man kann sich etwa das in den 30er Jahren erfolgreiche Drama "Rothschild siegt vor Waterloo" des Nazi-Autors Eberhard Wolfgang Möller anschauen. Das Stück zeigt, wie der Bankier vom Krieg profitiert; in der Vorrede wendet sich Möller gegen "das Kapital". Nirgends ist auch nur erwähnt, dass Rothschild Jude war. Allein der entsprechend konnotierte Name sorgte dafür, dass das Drama nicht als eines gegen den kriegerischen Kapitalismus (mit dem die Nazis paktierten), sondern als eines gegen die Juden rezipiert wurde.

Die scheinbar philologische Frage: wo steht das? und zwar eindeutig? im Indikativ nebst eines Referats rassistischer Theorie? verfehlt die Wirkweise des antisemitischen Ressentiments. So wissenschaftlich schlau sich die von Borchmeyer und Kiesel versammelte Schar vorkommen mag, so naiv ist sie angesichts rassistischer Mechanismen. Bei allen Erkenntnissen zum Roman im Detail verfehlen deshalb die Herausgeber ihr Hauptziel: eine überzeugende Entlastung Walsers.

Titelbild

Dieter Borchmeyer / Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall - Martin Walsers "Tod eines Kritikers".
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003.
288 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3455094139

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch