Was bin ich?

Jonathan Lethems intelligenter Roman „Als sie über den Tisch kletterte“

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine alte Weisheit: „Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumt.“ Manchmal jedoch träumt sich die Schulweisheit auch mehr, als es im Himmel und auf Erden gibt. Dann muss sie auch schon mal „das Schwarzschild-Universum mit dem De-Sitter-Universum vereinen“ – was wiederum erfordert, „ein Paar dynamischer Oberflächen zu schaffen, vor einem asymptotischen Minkowski-Hintergrund, versteht sich“. Selbstverständlich.

Ein einzigartiges Experiment läuft hier ab. Professor Soft versucht, den Urknall zu reproduzieren, ein nicht näher zu bestimmendes Paralleluniversum zu schaffen, das neben dem bisher bekannten Universum existiert. Doch der Versuch schlägt fehl. Um das Blasen-Experiment kollabiert die Zeit. Was entsteht, ist kein neues Universum, sondern eine Öffnung. Ein Riss. Ein „Leck“. Wohin das „Leck“ sich öffnet, ist unbekannt. Auch, um welches Phänomen es sich tatsächlich handelt. Dementsprechend viel Aufmerksamkeit zieht die Erscheinung allerdings auch auf sich. Es wird diskutiert und analysiert – dennoch lässt sich über „Leck“ nichts mit Bestimmtheit sagen. Bis „Unternehmen Leckermaul“ anläuft: Denn der Riss zeigt eine Vorliebe für bestimmte Objekte, „frisst“ sie, während andere Gegenstände unbeeinflusst durch ihn hindurchfallen, auf „Lecks“ anderer Seite wieder zum Vorschein kommen. Und das Loch hat merkwürdige Vorlieben – es schluckt Anthrazit, gelbes Bastelpapier und eine Fotografie des Präsidenten, verschmäht jedoch Glühbirnen und Eispickel. Es mag befruchtete Enteneier, aber kein Entenei-Omelett.

Professor Alice Coombs hält „Leck“ deswegen für eine intelligente Lebensform. Sie experimentiert, verbringt Tag und Nacht im Labor, versucht dem Phänomen näher zu kommen. Sehr zum Verdruss ihres Freundes Philip, der sich vernachlässigt fühlt und eifersüchtig wird. Was hat „Leck“, was ich nicht habe, fragt sich Philip. Und: Was kann ein normaler Mann diesem quasi nichtexistenten, körperlosen Rivalen entgegensetzen?

„Wir haben in der Physik ein Problem mit der Rolle des Beobachters.“, erklärt Alice Philip einmal. „Angenommen, wir nehmen ein sich drehendes Elektron und versuchen zu bestimmen, in welcher Richtung seine Spinachse liegt. Seltsamerweise stellen wir fest, daß sie stets auf den Standpunkt des Beobachters ausgerichtet ist. […] Es ist de facto ein Problem der Subjektivität. Wie kann ein Beobachter eine objektive Beobachtung machen? Das ist unmöglich.“

Der Roman spielt mit dieser Idee des Beobachtens, des Sehens und des (V)Erkennens: Philip, der Anthropologe, hat es sich zum Beruf gemacht, die Mitarbeiter seiner Universität, deren Gelände er ungern verlässt, zu beobachten. Und hält doch fest, dass seine Beobachtungen absolut sinnlos sind und niemanden interessieren. Zwei Blinde tauchen auf, von denen der eine das Beobachterproblem zu umgehen sucht. Das Paar erschließt sich sein Umfeld allerdings (geradezu zwanghaft) durch das Festhalten von Abständen zwischen Punkten im Raum und in der Zeit. Beide bleiben dabei jeweils von den Angaben des anderen abhängig – ein Beobachterproblem der ganz eigenen Art. Alice glaubt, in „Leck“ die vollkommen reine und unschuldige Persönlichkeit zu erkennen – und übersieht dabei, dass die Leere, in die sie blickt, nur ihr eigenes Bild zurückspiegelt, welches sie in die Schwärze hineinprojiziert hat. „Unsere Fragen diktieren ihm die Antworten“, merkt Philip an. „Bis wir nicht alle Fragen gestellt haben, die uns in den Sinn kommen, tun wir nichts anderes, als – verzeihen Sie – vor einem Spiegel zu masturbieren.“ Indem Alice „Leck“ liebt, liebt sie am Ende nur sich selbst ein bisschen mehr.

Und ist nicht alle Liebe am Ende auch nur Selbstbespiegelung und Narzissmus? „Du machst mich vollständig“, sagt Philip Alice. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich außerhalb deiner Wahrnehmung überhaupt existiere. […] Wenn du mich verließest, würdest du so viel von mir mit dir nehmen, daß ich in dir wäre und sehen würde, was zurückbliebe – die äußere Hülle von Philip Engstrand, den wir verlassen haben.“ Deshalb schweigt der Anthropologe auch lieber, statt mit seiner Freundin zu reden: „Irgendwie waren wir klüger, wenn wir den Mund hielten, verstanden den anderen besser.“ Und es gelingt obendrein besser, den Partner, wenn dieser nicht widerspricht, so zu sehen, wie man ihn haben möchte.

Denn auch die Sprache ist ein Medium der Selbstdarstellung. Philip Engstrand, der die Geschichte zu erzählen scheint (und hier stellt sich am Ende des Romans die Frage, wem er erzählt und vor allem wie!), nutzt seinen Bericht, um der Welt den Wert seiner Beobachtungen (vielleicht auch seiner Person) zu beweisen. Deshalb fasst er seine Umgebung mit (angestrengt) originellen Vergleichen, die sehr wunderlich, wenn auch auf verquere Weise irgendwie treffend sind. Studenten erinnern an verdurstende Tiere, die sich um einen Professor wie um eine Wasserquelle scharen. Herzen verwandeln sich wahlweise in weiche Auberginen oder harte Kastanien, Worte tropfen wie Barbecuesauce auf ein blütenweißes Tischtuch.

Und ob dieser Wunderlichkeit und trotz des philosophischen Hintergrunds fragt sich der geneigte Leser, ob der Autor seine Figuren überhaupt ernst nimmt, ob er dem Leser nicht ebenfalls einfach nur der Spiegel vorhalten will, sich nicht in Wirklichkeit (so weit die denn existiert) einen Spaß erlaubt und sich in einem Paralleluniversum krank lacht. So wie der Leser, wenn er sich auf die Geschichte einlässt und einmal selbst in „Leck“ schaut – er wird staunen, was sich alles darin findet.

Titelbild

Jonathan Lethem: Als sie über den Tisch kletterte.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner.
Tropen Verlag, Köln 2002.
249 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3932170563

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