Kritik ohne Boden

Im Adorno-Jahr versucht sich Wolfgang Langer an der Eingemeindung Deleuzes in die Kritische Theorie

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Langers Dissertation wagt sich an zwei der komplexesten Themen, nicht nur des Deleuzschen Denkens, sondern der Philosophie selbst: 'Immanenz' und 'Kritik'. Die "Herausforderung", der er sich nach eigenem Bekunden dabei aussetzt, ist es, deren "Zusammenhang" in einer "Deutlichkeit" herauszustellen, an der Deleuze es bisweilen fehlen lasse. Es geht dabei um die Funktion der eigenwilligen Werkportraits Deleuzes als Erkundung einer Gegentradition, die von den Stoikern über Spinoza zu Bergson und Nietzsche führt (und dabei zwar auch Hume, Leibniz und Kant thematisiert, diese aber nicht als Wasserträger des Rationalismus). Die 'Aufgabe' der Philosophie besteht nach Deleuze nicht mehr darin, treffende Aussagen über das ,Sein' zu formulieren, sondern, sich im Lichte der 'Kritik' gegen die "konservativen Interessen" der akademischen Philosophie zu entscheiden. Aber warum? Mit Adorno deutet Langer es selbst nur zögerlich an: Die Transzendenz ist der Komplize des Faschismus. Und die Immanenz bzw. Deleuze selbst das Gegengift, wie Foucault einmal herausstellte. Dies mag verwundern, gilt doch gerade 'Immanenz' als Zustandsbestimmung ideologischer Verblendung, insofern fehlender Außenbezug oder nicht vorhandene Wertmaßstäbe jegliche Kritik am 'Ganzen' verunmöglichen. Lässt sich Deleuze also zwanglos für die Kritische Theorie vereinnahmen?

Der Vorwurf des Totalitarismus würde Deleuze tatsächlich treffen, hätte er nicht die folgenreiche Bekanntschaft mit der Arbeit seines dann langjährigen Weggefährten Félix Guattari gemacht. Dieser hat Deleuze das Ethos der 'Deterritorialisierung' nahe gebracht. Statt die Immanenz in Richtung auf eine Transzendenz zu überschreiten, die in Religion oder zumindest in philosophische Ersatzformen derselben mündet, wird die Immanenz als stetige Verminderung konzipiert, als Minorität-Werden, seinen 'Platz' verlassen, verschwinden... Schon vor seiner Begegnung mit Guattari denkt Deleuze dies mit Kant (in "Kants kritische Philosophie" von 1963) an. - Dort funktioniert die noch ungenannte Deterritorialisierung 'immanent' in Form der gegenseitigen Unterwanderung der 'Vermögen': Hinsichtlich erkenntnistheoretischer Fragen weist der Verstand die Vernunft in die Schranken, diese wiederum hinsichtlich der praktischen Belange den rationalisierenden Verstand, und beide unterstehen in je eigener Weise den Urteilsformen der Einbildungskraft.

Das ist jedoch eine selbstreferentielle - und noch keine immanente - Konzeption, die Deleuze sodann mit Spinoza aufbricht, indem er eine Affektionsfähigkeit der Vermögen veranschlagt. Erst aber die phänomenologisch angereicherte Variation des Umweltgedankens bringt Deleuze - zusammen mit Guattari - zu einer Bestimmung der Immanenzebene, die als anzustrebendes quasi-deduktives System (Vorlage ist die axiomatische Philosophie der "Ethik" Spinozas) durch ihre maximale Konsistenz jeder Philosophie idealiter vorausliegt und das Denken in eine nicht anhaltende Bewegung versetzen soll: Die Philosophie hat demnach die Aufgabe, in ihrer Begriffsbildung konzeptionelle Festschreibung zu überwinden. - Die 'philosophia perennis' lässt sich deshalb auch als eine Verfehlungsgeschichte der Immanenz erzählen: Statt einer Geschichte der Philosophie gibt es nur eine Stratigraphie derselben, welche die Lage der einzelnen konstruktiven Schnitte durch das Chaos in Bezug auf jenes 'Metastratum' der Immanenz bestimmt. - Soweit die Rahmenhandlung.

Die 'Immanenz' für sich nun kommt bei Langer etwas zu kurz: Schon bald ist klar, dass es ihm vielmehr um den Begriff der Kritik geht. So sucht Langer also vor allem zu zeigen, was "immanente Kritik" ist (so Deleuzes alternative Bezeichnung für Kants transzendentale Methode). Deleuze ungeachtet ist damit ein radikalhermeneutisches Verfahren der Auseinandersetzung mit Texten gemeint, indem diese anhand ihrer eigenen Mittel, Begriffe und Denkfiguren sowie deren Performativität 'kritisiert' werden. So etwa bei Benjamin, der sie als "Beurteilung der Werke an ihren immanenten Kriterien" ausweist. Aus dieser Perspektive aber ist die "immanente Kritik" eher mit der Dekonstruktion denn mit der Immanenz-Philosophie Deleuzes verwandt.

Vielleicht lässt Langer den Begriff der "immanenten Kritik" daher wieder fallen und geht zur "Kritik der Immanenz" (als weitere Kombinationsmöglichkeit der beiden Komponenten) über, worin 'Kritik' schließlich gänzlich die 'Immanenz' ablöst und sich schlussendlich wieder auf einen transzendenten Bezugspunkt - die Gesellschaft (als primärer Gegenstand der Kritischen Theorie) - bezieht. (Die Beschäftigung mit denjenigen Textstellen, in welchen die 'Immanenz' schließlich bei Deleuze eigens zur Sprache kommt, werden von Langer dabei zwar abgearbeitet, folglich jedoch nur unter dem Aspekt der Kritik gewürdigt). In diesem Zuge werden die elementaren Gedanken zum nomadischen 'Nomos' als weitere Figur der Kritik gegen den Herrschaftsanspruch der Philosophie am Ende der Arbeit zwar zum Einsatz gebracht, eine eingehendere Auseinandersetzung mit der tiefgreifenden Kooperation von Deleuze und Guattari aber gescheut. - Dem analog werden viele zentrale Topoi Deleuzes von Langer angeschnitten, jedoch nicht immer hinreichend erhellt: Aussagen wie, dass sich "[d]as Virtuelle und die Differenz [...] nicht in einer Repräsentation [...] auffangen" lassen, bleiben schwer verständlich, wenn weder auf die Kritik an der Aristotelischen Ontologie noch am Platonischen Identitätsdenken eingegangen wird.

Sein Ziel verfolgt Langer mit Ausdauer. Leider belädt er sich und den Leser im Haupttext oft mit einem Ballast von Zitaten aus Primär- und Sekundärliteratur, die wiederum durch Paraphrasen nicht zitierter Textstellen überbrückt werden: So in dem Referat von "Nietzsche und die Philosophie" aus dem Jahre 1962 (Deleuzes Kantinterpretation wird vor allem diesem Text und nicht dem Kantbuch entnommen), das einzelne Kapitel daraus abschnittsweise nacherzählt. Das Kriterium für die Zentralisierung der Nietzsche-Deutung reduziert sich für Langer letztlich auf eine in den übrigen Schriften fehlende "kritische Aggressivität" der inhaltlichen Darbietung. Indem 'Kritik' als Zerstörung der Ordnung gelesen wird, kommt der Schaffensaspekt der Immanenz zu kurz. Dass beide möglicherweise vielleicht nicht vereinbar sein mögen, zieht Langer dabei nicht in Betracht.

Unter dem griffigen Hardcover der neuen Reihe "Edition Humboldt" im feinen Berliner Parerga Verlag verbergen sich formale Mängel, die für zukünftige Publikationen zu berücksichtigen wären: Die Formatierungen weisen Eigenheiten und Fehler auf. Die Proportionen der einzelnen Seiten sind dem Oktav-Format nicht angemessen und unvorteilhaft für das Auge. Erschwert wird die Lektüre durch eine feine, aber unübersichtliche Gliederung, welche Schlagworte der Rationalismuskritik in immer neuen Kombinationen listet. Unangenehm an Langers Duktus fallen wiederholt Formulierungen in der ersten Person Singular und - weitaus markanter - in der ersten Person Plural auf, mit der auf der syntaktischen Ebene genau jenem definitorischen Hoheitsrecht Vorschub geleistet wird, gegen den sich Deleuze wendet. Denn, daran erinnert die Arbeit zurecht, es bleibt eine Aufgabe, die Mechanismen des Wissensbetriebs kritisch zu durchleuchten.

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Wolfgang Langer: Gilles Deleuze. Kritik und Immanenz.
Herausgegeben von Kurt Röttgers.
Parerga Verlag, Berlin 2003.
406 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 393045078X

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