Zeiterfahrungen

Reinhart Kosellecks Studien zur Historik

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Bereich der Wissenschaft begreift heute kaum noch jemand Geschichte einfach als Nacherzählung dessen, was einmal geschehen sei. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst Reinhart Kosellecks. In zahlreichen Veröffentlichungen hat er sich mit den Bedingungen von Geschichte im Doppelsinn befasst: mit Geschichte als dem, was einmal war und Geschichte als dem, was und wie darüber berichtet wurde und wird. Damit hängt Geschichte untrennbar mit menschlicher Erfahrung zusammen - wobei Koselleck auf den ganzen Bedeutungsumfang des Wortes Erfahrung Wert legt, der vom freiwillig oder unfreiwillig Widerfahrenen über das zur Kenntnis Genommene bis hin zum forschend Erschlossenen reicht. Damit ist der Bereich umrissen, den die im vorliegenden Band versammelten, zwischen 1972 und 1998 entstandenen Beiträge erhellen; zum Teil sind sie behutsam durch aktualisierende Literaturhinweise ergänzt.

Koselleck verzichtet darauf, seine Erfahrungen in ein geschlossenes System zu überführen. Stattdessen stellt er ein Muster aus achtzehn Neuansätzen vor, für diesen Band etwas willkürlich in vier Blöcke gegliedert, wobei eine überschaubare Zahl von Grundthesen auf immer neue theoretische Bereiche angewandt ist. Natürlich gibt es, wie in jedem solchen Band, Überschneidungen; Lieblingsbeispiele des Autors, die auch drei oder vier Mal auftauchen mögen. Doch sind sie auf je neue Erkenntnisse bezogen, und so bleibt die Wiederholung sinnvoll. Stilhöhe und Komplexität unterscheiden sich, je nachdem, ob man einen Radio-Essay oder die theoretische Begründung eines Studienprogramms liest; nicht aber Klarheit der Darstellung und Sorgfalt im Sprachlichen. Über den Gedanken an den Leser hinaus, den man von Wissenschaftlern heute leider nicht immer erwarten kann, reflektiert Koselleck vielfach das notwendig Metaphorische eines Sprechens über die Zeit, wie es das Sprechen über Geschichte ist; Geschichte, die im Wort bereits auf Schichtung verweist.

Ein Leitthema ist darum das Verhältnis von Ungleichzeitigkeiten, wodurch Geschichte nicht als linear Fortschreitendes, sondern als Resultat einer Konstellation von Dauer und Veränderung erscheint. Weder das isolierte Ereignis, wie man es mit Jahreszahl fürs Abitur lernte, noch allein die dauerhafte Struktur machen Geschichte aus. Prägend ist vielmehr der Komplex des sich Wiederholenden, auf das alle Teilnehmer einer Gesellschaft zählen, und dem Neuen, Veränderten; Schichtung besteht zudem darin, dass verschiedene Lebensbereiche sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit wandeln. Leitthema Kosellecks ist ferner der Prozess der Beschleunigung durch technische Modernisierung, Beschleunigung nicht der Geschichte (die ein Erfahrungsbegriff ist) als vielmehr der Ereignisse in ihr. Der Veränderung von Zeiterfahrung entspricht die von Raumerfahrung und -beherrschung, die Koselleck eingehend untersucht. Immer wieder wird auch die Entstehung des gegenwärtigen Begriffs von Geschichte im 18. Jahrhundert diskutiert, damit verbunden das Thema der Säkularisierung. In der Aufklärung wurde Zukunft neu denkbar: Nicht nur allein als Ziel einer Planung, was sich in einigen Stunden, Monaten oder Jahren ereignen würde. In diesem Sinne kannte man stets Zukunft - wie sonst wäre die Konzeption mittelalterlicher Dome erklärbar, deren Vollendung außerhalb der Lebenserwartung der Planungsgeneration lag. Nun aber wurde Zukunft denkbar als qualitativ Anderes, als Vollendung der Gattung Mensch, die doch nie konkret einzuholen war.

Koselleck schweigt vornehm über die ideologischen Debatten der letzten zwei Jahrzehnte, wobei reizvoll gewesen wäre zu lesen, wie er etwa sein Modell auf das der Postmoderne bezogen hätte. Die offene Zukunft, die so verschiedene Denker wie Herder und Hegel betonten, um sie doch mit je eigener Teleologie zu füllen, wird von der Postmoderne ja nur scheinbar beiseite geschafft, um implizit doch eine Schrumpfform des laisser-faire als Ziel der Geschichte zu behaupten.

Freilich ist der Band über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit historistischen Konzepten, die wenigstens in dem Anspruch, über die Stile der Vergangenheit zu verfügen, eine frühere Parallele zur Postmoderne bilden. Koselleck teilt deren Abneigung gegen extern religiöse oder verweltlicht innerreligiöse Zielsetzungen von Geschichte, ohne die Wirkmacht solcher Vorstellungen noch auf das heutige Denken von Geschichte zu leugnen. Freilich will er Geschichte auch nicht in einzelne Ereignisse oder Abschnitte zersplittern. Durchgehend sucht er nach Zusammenhängen, allerdings nicht in Kausalketten, sondern im Nachvollzug von Konstellationen.

Exemplarisch ist hier die Auseinandersetzung mit dem Schlagwort von Deutschland als "verspäteter Nation", die den Band abschließt. Koselleck weist die darin implizierte These eines Ziels, das im richtigen Moment zu erreichen nur eben leider verfehlt worden sei, zurück. Nicht nur verlief die italienische Nationbildung etwa gleichzeitig, die von osteuropäischen Nationen zum Teil erheblich später. Vor allem waren die immer neuen Varianten, in denen die Deutschen im Laufe der Zeit staatlich organisiert wurden, stets rationale Lösungen im Rahmen des zeitgenössisch Möglichen. Dass dann aber dennoch Deutsche die Verbrechen des "Dritten Reichs" begangen, will Koselleck, gewendet auch gegen Goldhagen, nicht mit politischen oder geistesgeschichtlichen Kausalketten erklären. Das schwächere Argument ist hier, gewendet gegen gerade den Moralisten Goldhagen, dass Kausalitäten als Zwangsläufigkeiten die Handelnden moralisch gerade entlasteten. Hier wäre einzuwenden, dass jedes politische Verhalten sich erklären lässt, dass Erklärung indessen noch lange nicht Entschuldung bedeutet. Stärker wirkt der logische Einwand, dass Kausalketten die Erklärung nur eben nach hinten verschieben, die entscheidende Frage nach dem Beweggrund zwangsläufig suspendiert werden muss. Kosellecks Denken in Konstellationen und Schichten, das Ereignisse durch das unvorhersehbare Zusammentreffen verschiedener Wirkkräfte erklärt, erscheint deshalb als überlegen.

Aber was ist unvorhersehbar? Koselleck wendet sich auch der Kunst der Prognose zu, führt Beispiele verblüffend zutreffender Vorhersagen an und reflektiert, welche Faktoren eine zutreffende Einschätzung erlauben. Respektvoll im Ton, doch klar in der Sache ist eine Ergänzung der Heideggerschen Daseinsphilosophie durch ein Politisch-soziales, ergänzt durch eine Antwort Hans-Georg Gadamers. Hier freilich zeigt sich die Grenzlinie von Kosellecks Blick. So sehr er Heideggers Geworfenheit ins Leben und dessen Sein zum Tode sozialisiert, seine Kategorien taugen nur zur Analyse der uns überlieferten geschichtlichen Zeit. Ob ohne das Oben-Unten-Verhältnis von Herr und Knecht, wie Koselleck behauptet, "Geschichten nicht möglich sind", wird sich, möglicherweise auf sehr lange Sicht, erweisen. Dies heute zu behaupten ist eine ontologisierende Verhärtung, die der angestrebten Sozialisierung Heideggers gerade widerspricht.

In solchen Momenten zeigt sich Kosellecks Verankerung im Konservativen; übrigens auch in der Geringschätzung von Ideologiekritik, der mehrfach nebenbei eingeräumt wird, recht zu haben, doch in einem Ton, der die geringe Bedeutung zeigt, die solche Aufklärung von der Höhe der Koselleckschen Theorie aus betrachtet hat. Die alltägliche Mühe, Dummheit zurückzudrängen, wird durch solch theoretischen Hochmut unverdient geringgeschätzt. Für den Leser hat die Höhe, auf der sich Koselleck bewegt, den Nachteil, dass explizite Abgrenzung nur selten deutlich wird, vieles sich ein wenig zahm liest, derart ausgewogen konsensfähig formuliert, dass die Zustimmung gar nicht anders kann als sich herbeizubemühen. Ohne ein skandalträchtiges Marketing zu fordern, würde man zuweilen gerne deutlicher erfahren, gegen wen es geht.

Kosellecks Perspektive hat freilich auch ihre Vorzüge. So erkennt er schon früh das Treiben der Didaktiker, jeden Gegenstand bis kurz vorm Hinunterschlucken vorzukauen, als wenig hilfreich und fordert er selbstbewusst, die Darstellung aus den theoretischen Prämissen der Wissenschaft abzuleiten. Der durchaus konservativ geprägte Koselleck reflektiert zudem die Perspektivgebundenheit jeder historischen Sicht und kann so, anders als viele seiner westdeutschen Kollegen, auch die Leistungen der marxistischen Geschichtswissenschaft anerkennen, der er, soweit sie in der DDR entstand, die Orientierung an staatlichen Direktiven, nicht aber ihre eingestandenen Parteilichkeit vorwirft. Der Blick von oben befreit von manch kleinlicher Abgrenzung

Der bereits 2000 erschienene Band ist nun auch als Taschenbuch erhältlich.

Titelbild

Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
400 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3518582895

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
400 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518292560

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