Idyllisches Inferno, infernalische Idylle

Gerold Späths Kosmos ist zu entdecken - wieder einmal

Von Ulrich SimonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Simon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte ihn ja so ankündigen, wie das Verlagsprospekte gerne tun: Mit besinnungslosen Vergleichen, müd-aufgeregten Superlativen, deren als unüberbietbar gepriesenen Produkte nach Jahresfrist in der Ramschkiste landen. Aber das Phänomen lässt sich auch so nüchtern und augenzwinkernd benennen, wie Wolfgang Hildesheimer es 1979 in einem Brief an Marcel Reich-Ranicki tat: "Gerold Späth ist eine ,echte' Entdeckung." (Nachzulesen in der als Reich-Ranicki-Devotionalie getarnten literaturgeschichtlichen Fundgrube "Lieber Marcel", den von Jochen Hieber herausgegebenen Briefen an Reich-Ranicki) Ein Echt ohne Gänsefüßchen vermied Hildesheimer, schließlich lagen, als er den Brief schrieb, unter anderem bereits umfangreiche und vielfach Prosawerk vor: "Unschlecht" (1970), "Stimmgänge" (1972), "Balzapf oder Als ich auftauchte" (1977), allesamt ausgewachsene Romane und allesamt komplexer und anspielungsreicher als das Etikett "Schelmenroman", das ihnen hartnäckig anhaftet, vermuten lässt.

Hildesheimer war auf Späth aufmerksam geworden, weil der schon für das Manuskript von "Commedia" mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet worden war, den Günter Grass frisch gestiftet hatte. "Commedia", ein Pandämonium ohne Untertitel, widmete Hildesheimer denn auch 1980 eine besonders kluge Rezension. Die 203 Figuren, die den ersten Teil des Textes ("Die Menschen") redend bevölkern, jeder nur eine kurze Passage lang, beschreibt er so: "Jeder Tonfall trifft genau in Duktus und Diktion, Sprachfluß, Sprachschatz und Jargon. Wir kennen sie alle, die Verweigerer, Versager und Entsagenden, die Bewältiger und Kleinbeigeber, die Zynisch-Angepaßten und die vom Verzicht Geprägten." Selten ist so umfassend und differenziert vorgeführt worden, was Rollenprosa ist. Alle Figuren haben Namen, das Inhaltsverzeichnis listet sie alphabetisch auf. Den zweiten Teil der "Commedia" - "Das Museum" - bestreitet der Kurator, der eine zumeist desinteressierte Gruppe durch die verschiedenfarbigen Räume (allein das Bibliotheks-Kapitel würde das Buch rechtfertigen) voller Exponate führt und mit Geschichten überschüttet. Etwa die, die zu einem Kieselstein gehört; der "legendäre Feuerland- und Treibeisforscher Eugen Zimmermann", der "wohl doch vor allem ein exzellenter Waffenschieber war", hat ihn geschickt. Eine "zierlich scharf geritzte antarktisch grellweiße Schrift" gebietet: "Entrinne deinen Lehrern und ihren und deinen Lehren, du gleichst noch viel zu sehr dem Bilde, das du dir machst und die andern sich machen von dir!" All die Geschichten münden in eine böse Pointe, denn der Kurator nimmt "unmerklich" das Schicksal seiner Gäste "in die Hand und lockt sie ins Verderben", um noch einmal Hildesheimer zu zitieren.

Aufsehen erregende Bücher veröffentlicht, prominente Förderer gefunden, mit Preisen ausgezeichnet, in einem anregenden Porträtband gewürdigt (herausgegeben von Klaus Isele und Franz Loquai, 1993), in fast allen einschlägigen Lexika verzeichnet - so könnte man sich eine große literarische Karriere vorstellen. Tatsächlich aber muss es schon als ungewöhnlich gelten, dass der Steidl Verlag seit nun zwei Jahren Gerold Späth wieder auf den Markt bringt. Günter Grass hat seinen Hausverlag zu diesem Schritt veranlasst. Seither sind "Unschlecht" und "Sindbadland" (beide 2002) sowie "Commedia" (2001) wieder lieferbar. Unlängst erschien "Familienpapiere", eine Auswahl der Erzählungen von 1968 bis 1999; und "Stimmgänge" ist im (Neu-)Erscheinen begriffen. Somit setzt sich das Späthsche Muster fort. Nie sind alle seine Bücher greifbar, aber doch stets einige. "Unschlecht" etwa erscheint bislang alle zehn Jahre neu, jeweils in hochrespektablen Verlagen, und doch waren Leser in den vergangenen Jahren häufig auf antiquarische Funde angewiesen, wollten sie sich in dieser Geschichte über die Folgen einer Erbschaft verlieren. Und "Commedia" fehlte gar 20 Jahre im Barsortiment, obwohl eine Text-Auswahl vorübergehend sogar Unterschlupf in Reclams gelber Bibliothek gefunden hatte. Die kontinuierliche, wenn auch nicht permanente literarische Präsenz Späths ist eine Leistung. Das wird überdeutlich, vergegenwärtigt man sich, wie schwer es ist, Werke anderer Autoren im Buchhandel zu kaufen, die in etwa gleichzeitig mit Späth Erfolg hatten: Lediglich Peter Bichsels und Hartmut Langes Bücher sind nahezu vollständig vorrätig - sie haben das Glück, bei Suhrkamp und Diogenes zu erscheinen. Ältere Titel von Ernst Augustin, Silvio Blatter, Hermann Burger, Friedrich Christian Delius oder Wilhelm Genazino (für nahezu jeden Buchstaben des Alphabets ließen sich Namen anführen) wird man derzeit vergebens suchen.

Doch ist Gerold Späth hauptsächlich ein Fall für die Literaturgeschichte? "Nicht ich, Zünd übertreibt, wenn er schreibt, die Stadt habe insgesamt zwanzigtausend Einwohner, und die Hälfte befände sich im Städtischen Irrenhaus. [...] Dreifach übertreibt er". So lockt "Unschlecht" auf der ersten Seite. Eingestimmt wird der Leser mit der Kapitelangabe: "Das erste Kapitel berichtet vom Städtlein, der Schule und Schulwundern, von Unschlechts Erbschaft und einem Traum, der mich dermaßen in Hitze gebracht, daß ich laut fluchte." Was nach burlesker dörflicher Großposse klingt, entpuppt sich zusehends als in jeder Hinsicht umfassende Farce auf eine kapitalistische Welt. Späth agitiert nirgends, aber für unpolitisch kann sein Erzählen nur halten, wer bestimmte Figurenperspektiven verabsolutiert. Fintenreich wird erzählt, mit eingeschobenen Briefen, Predigten, Liedern, Versen, Parodien auf das Amtsdeutsch und auf Kontaktanzeigen. Gerold Späth ist ein großer literarischer Handwerker - er nimmt jedes Wort ernst, das Überbordende entspringt genauem Kalkül. Folgt man dem Hinweis der Neuausgabe, der Text sei "gründlich durchgesehen", zeigt jede Stichprobe aufs Neue: Die Änderungen sind minimal, aber effektiv, hier ein Ausdruck geändert, dort die Interpunktion. Beispielsweise ist das Saufgelage samt kollektivem Kater insgesamt unverändert. Der gegenüber früheren Ausgaben beträchtlich knappere Umfang ist dem sorgfältigen und professionellen Satz von Steidl geschuldet. Was gerade Späth, der eine Reihe bibliophiler, illustrierter Drucke bei der Pfaffenweiler Presse herausgebracht hat, denn auch zu wünschen ist.

Aber in 35 Jahren literarischen Schaffens sammeln sich auch etliche Einwände und Vorwürfe an. Der zweite Teil des "Unschlecht" ist anders, als er dem Schema des barocken Schelmenromans entsprechen würde - wunderte sich 1980 Hans Wysling. Und in der "Commedia" fehlt - gemessen an Dante - die Erlösung, wie Beatrice von Matt 1991 schreibt. Noch ist Jürgen H. Petersens Hinweis, dass auch Späth moderne und postmoderne Poetiken praktiziert, nicht selbstverständlich. Dabei arbeitet Späth von Anfang an mit sehr komplexen, widersprüchlichen Erzählern und mit Figurenwechseln. Von der "Commedia" über "Sindbadland" (1984) bis hin zu "Stilles Gelände am See" (1991) oder "Das Spiel des Sommers neunundneunzig" (1993, beide vergriffen) führt er in stetig neuen Variationen die Kunst vor, einzelne Szenen und Fragmente immer mehr zu verdichten und zu verknappen, zugleich aber die Verstrebungen der Teile erst auf den zweiten Blick eröffnen. Das liest zu zu Beginn von Sindbadland so:

"Man erzählt mir im Dorf Spülgen von einem jungen englischsprechenden Reisenden, der auf dem Weg nach Italien und Griechenland kurz nach Überwindung der Viamala wochenlang in dem Dorf fieberkrank gelegen und allerlei Krudes zusammengeredet hatte, der Wirt, des Englischen mächtig, er war in jungen Jahren in der Welt herumgekommen, habe seinerzeit alles aufgeschrieben und eine Übersetzung angefertigt, der Fieberkranke hatte von einem Film phantasiert, den er drehen wollte, in dem Film sollte ein italienischer Alter mit Motorroller die Hauptrolle spielen, der Alte wohnt seit dem Tod seiner Frau im herrschaftlichen Haus seines reich gewordenen Sohnes und hat immer weniger zu sagen, eines Tages entschließt er sich, heimlich einen Motorroller zu kaufen, man sehe in dem Film, wie der alte Mann mit dem blitzneuen Ding nach Hause höttert, selbstverständlich macht er Umwege, und von der Beherrschung des Fahrzeuges kann nicht die Rede sein, er überfährt sämtliche Stopsignale, mißachtet jegliche Verkehrsregel, er schwimmt in Glückseligkeit und kann das Ding nicht bremsen, die Kamera folgt diesem glücklichen Kind von fünfundsiebzig Jahren, das nicht bemerkt, wie hinter ihm die frischen Wecken zu Dutzenden aus der Brotzaine auf die Straße purzeln und die Landeier schockweise aus den Körben schliddern, Autos kommen ins Schleudern, Pferdegespanne brennen durch, Kutscher fliegen vom Bock, Motorräder segeln über Böschungen, Tramwagen schneiden einander überlebensgefährlich und rasende Züge entgleisen zuhauf, es gibt Fehl- und Sturzgeburten, ein grausliches Chaos" - dies ist erst die Hälfte der Szene "Der junge Reisende". Blitzschnell baut Späth ein paar Welten nebeneinander auf und liefert wenige Nebensätze später das Weltenende gleich mit, eingeleitet mit der vermeintlich harmlosen Floskel "man erzählt".

1984 hat Fritz J. Raddatz "Sindbadland" vorgeworfen, es sei "Kunst ohne Welt"; dieser Prosa fehle der Bezug zum Wirklichen und Wahren. Abgesehen davon, dass dieses Argument Späth weniger treffen dürfte als der Kritiker unterstellt, verfehlt diese Diagnose zentrale Aspekte des Buchs. Die Passagen strotzen vor zeitgeschichtlichen und historischen Anspielungen. Die Episode "Raniwitzer" konfrontiert im Anekdotenton Auschwitz mit einer Hinrichtung als Volksbelustigung. Sie mündet in einen Schlusssatz, der den historischen Schrecken lebendig werden lässt. (Eine vergleichbare Szenee gibt es in Robert Schindels Roman "Gebürtig", von 1992.)

Noch deutlicher als die anderen Texte lassen sich Späths Erzählungen, wie sie der Band "Familienpapiere" jetzt versammelt, als literarische Kommentare zur Zeitgeschichte lesen. Der Text "Der Milliarden-Stauffacher" (1999) überführt die Frage nach der Schweiz und dem "Nazi-Gold" in eine Parabel, die auf das persönliche und individuelle Verhalten zielt. Der "Mörder Irninger", der dem Leser sowohl in "Heißer Sonntag" (1968) als auch in "Mein Spaziergang" (1983) begegnet, kann geradezu als Chiffre gelten für die vielen Flecken auf der lange Zeit offiziell weißen Weste der Schweiz, für die Anfälligkeit für nationalsozialistische Ideologie. Eine Handreichung eines Zürcher Theaters umreißt den historischen Hintergrund des Stückes "Der letzte Henker" mit den Worten: "1938 wird der 24-jährige Paul Irninger wegen dreifachen Mordes in St. Gallen zum Tode verurteilt. Danach, im Mai 1938, melden sich 123 Personen unaufgefordert [...] und bieten ihre Dienste als Henker an. Im August 1939 wird Irninger [...], obwohl in der Schweiz in der Zwischenzeit die Todesstrafe mit knapper Mehrheit abgeschafft worden ist, in Zug hingerichtet."

Darauf spielt Gerold Späth an, wenn er in "Heißer Sonntag" den deutschen Emigranten Schleyer und den "Stadtrat Schneider" zusammenbringt, der "sich noch gut an den Mörder Irninger erinnern kann" und der "seine hinterhältige Freude" daran hat, "bei dieser Gelegenheit auf Hitlers Autobahnen hinzuweisen". Anders als bei Späth hat der "Mörder Irninger" in der helvetischen Geschichtsschreibung offenbar kaum Platz. Man müsste dafür wohl noch viel tiefer, als es dem Rezensenten möglich war, in die Spezialliteratur eintauchen. Andererseits heißt es noch 1977 im "Handbuch der Schweizer Geschichte" zur Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe, sie habe stattgefunden "zwischen Humanitätsfanatikern, welche weitgehende Abstufung der Strafanstalten wollten, entsprechend der Differenzierung der Rechtsbrüche, und Sparfanatikern andererseits, welchen vor den finanziellen Lasten der Anstaltsbauten graute".

Solche grausig-neutrale Ignoranz greift Späth literarisch auf, indem er in vielen seiner Texte und Miniaturen Idyllen und Katastrophen ineinanderfließen lässt. Die Verweise auf Historisches, auf Literatur und Malerei, die Selbstzitate sind zahlreich und raffiniert; ihnen nachzugehen ist eine Lust (auch wenn eine neue Dissertation wider Willen beweist, dass sich Konzeptionslosigkeit und Ergebnisarmut bedingen. Oder umgekehrt: Der Späthsche Kosmos ist so reichhaltig, dass für immer noch ein Seitenstück, noch eine Episode, noch eine Figur Raum ist. Man kann das für die Menschenliebe des Erzählers halten. Jetzt ist eine besonders günstige Gelegenheit, sie (wieder) zu entdecken.

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Gerold Späth: Commedia.
Steidl Verlag, Göttingen 2001.
397 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3882437820

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Charlotte E. Aske: Gerold Späth und die Rapperswiler Texte. Untersuchungen zu Intertextualität und kultureller Identität.
Peter Lang Verlag, Bern 2002.
408 Seiten, 70,20 EUR.
ISBN-10: 3906767450

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Titelbild

Gerold Späth: Sindbadland.
Steidl Verlag, Göttingen 2002.
247 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3882438045

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Titelbild

Gerold Späth: Unschlecht. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2002.
552 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3882438037

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Titelbild

Gerold Späth: Familienpapiere. Gesammelte Geschichten.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
170 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3882438851

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