Nachtrag zu einer unergiebigen Debatte

Die Tagebuch-Aufzeichnungen einer anonymen "Frau in Berlin" als Objekt einer pseudoaufklärerischen Feuilletonaufregung

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kürzlich konnte man von einer Tagung lesen, bei der die Bedeutung des Großzeitungsfeuilletons zur Debatte stand. Die Zöglinge aus der Schule eines Frankfurter Ausbildungszentrums sehen sich gezwungen, Bedeutungsverlust zu bewältigen. Was tun, nachdem der Quantitätsvorsprung, der sich in den fetten Jahren gesamtdeutscher Zeitungseuphorie aufgehäuft hatte, verloren ist und ein für sich stehender Qualitätsnachweis noch aussteht?

Da scheinen Aufregungen wie die aktuelle um das Buch der Anonyma, deren Aufzeichnungen aus den Endtagen des Zweiten Weltkriegs in Berlin viel Lob und Aufmerksamkeit erhielten (siehe auch literaturkritik.de 7/2003), Auswege aus der Misere zu bieten. Eine spektakulär anmutende Enthüllung, diesmal in einer süddeutschen Zeitung, und schon ist das Feuilleton Ort einer respektablen Debatte. Entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Tagebuchschreiberin wurde ihre Identität preisgegeben. Als darob Enzensberger, in dessen "Anderer Bibliothek" die Aufzeichnungen erschienen, diese Bloßstellung als Ausdruck eines schamlosen Enthüllungsjournalismus verurteilte, wurden Rechtfertigungsbemühungen nachgereicht, die dem Enthüllungsakt eine feuilletonrelevante Sinnhaftigkeit verschaffen sollten. Doch es bleibt dabei: Mit dem Namen der Autorin ist kein zusätzlicher Mehrwert an Erkenntnis zu erzielen. Der jungmännerhafte Enthüllungseifer entpuppt sich als das, was er von Beginn an war: ein selbstbezogener Profilierungsversuch.

Kaum bedeutungsschwer sind auch die benannten editorischen Versäumnisse. In der Tat sind hier Klarstellungen vonnöten, die im übrigen der Herausgeber Enzensberger durch rechtzeitige Erläuterung aller Textentstehungsphasen hätte geben können. Nach den jüngsten Auskünften der Witwe des Erstherausgebers der Tagebuchaufzeichnungen, Hannelore Marek, sind aber Hinweise auf spätere Veränderungen des der aktuellen Ausgabe zugrundeliegenden Textes nicht zu erwarten. Es steht dann fest, dass die unterschwelligen Verdächtigungen gegen Kurt W. Marek, er habe nachträglich die Aufzeichnungen der Anonyma ,effektvoll bearbeitet', haltlos sind.

Bedeutsamer ist die Enthüllung der Identität der Anonyma. Weil das in jedem Fall eine respektlose Grenzüberschreitung darstellt, wird sie als notwendiger Akt der Aufklärung ausgegeben. So könne, argumentierte man, erst die Individualisierung die Aufzeichnungen davor bewahren, Teil einer "vulgären Schauerästhetik" zu werden, die den Schrecken pur als erbaulichen Schauer darbietet. Die journalistische Tätigkeit der Verfasserin während der Nazizeit gerät unter Pauschalverdacht und wird im nachhinein zum plausiblen Grund für ein der Verfasserin unterstelltes, doch nicht näher bestimmtes Interesse an einer nachträglichen Überarbeitung, was die Aufzeichnungen als zeithistorisches Dokument wertlos mache.

Zum Indiz dieses Verdachts wird der Ton der Aufzeichnungen. Er ist direkt und unsentimental, ohne moralisierendes und anklagendes Pathos. Schwer erträglich war das für die Zeitgenossen, als der Text Ende der 50er Jahre erstmals auf deutsch erschien. Es war eine starke Zumutung, wie sie auch Ledigs grandioser Luftkriegsroman "Vergeltung" darstellte: eine unerwünschte, schmerzhaft direkte Konfrontation mit einem Erleben, das so mühsam verdrängt worden war. Vorwurfsvolles Schweigen lastete. Ebenso wie Ledigs Roman, der 1999 mit großem Erfolg wiedererscheinen konnte, konnten auch die Tagebuchaufzeichnungen der Anonyma erst jetzt dem Schweigegebot entkommen. Zurecht wurde in der "taz" darauf hingewiesen, dass gerade dieser Ton den authentischen Charakter der Aufzeichnungen ausmache, ein Ton, der noch nichts wusste vom Verdrängen, Nichtwissen- oder Nichterinnernwollen - und den heute wiederzuerkennen als eine späte Rehabilitation der von den herrschenden Verdrängungsmentalitäten ins Abseits geschobenen Stimmen angesehen werden kann.

Diese Wirkung erzielen die Aufzeichnungen aber vor allem als literarische Bearbeitung und weniger als unmittelbares zeithistorisches Dokument. So taugen sie nur bedingt als authentisches Quellenmaterial. Dafür ,erzählen' sie von den Geschehnissen, bevor diese ein Kapitel der offiziellen Geschichtsschreibung wurden. Damit schaffen sie eine eigene Unmittelbarkeit mit einem Erkenntniswert, der über die fachhistorische Schilderung hinauszuweisen vermag. Natürlich waren die massenhaften Vergewaltigungen durch die russischen Befreiertruppen bekannt, aber erst die ,literarisierten' Aufzeichnungen der schreibgewandten Anonyma vermögen uns einen Eindruck davon zu geben, in welchem Maße sie für die ihnen ausgesetzten Frauen zu einem persönlichen und historischen Ausnahmezustand wurden. Das macht die wahre Authentizität der Aufzeichnungen aus. Und daran ändern auch die aufgeregten pseudoaufklärerischen Bemühungen aus orientierungslosen Feuilletonredaktionen nichts.

Titelbild

Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
300 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3821845341

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