Nachtlied der Blindschleiche

Christian Morgensterns Galgenlieder in einem Reclam-Hausbuch

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein wenig bekanntes, doch sinnfälliges Sinnbild Morgensternscher Dichtkunst ist das Lied "Geiß und Schleiche": "Die Schleiche singt ihr Nachtgebet, / die Waldgeiß staunend vor ihr steht. // Die Waldgeiß schüttelt ihren Bart, / wie ein Magister hochgelahrt. // Sie weiß nicht, was die Schleiche singt, / sie hört nur, dass es lieblich klingt. // Die Schleiche fällt in Schlaf alsbald. / Die Geiß geht sinnend durch den Wald."

Gewöhnlich glaubt die Geiß, wenn sie nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen. Suggestiv und autosuggestiv wirkt das Nachtlied der Blindschleiche. Die Geiß wird dadurch nicht sehend, aber sinnend. Nachdenklich wird auch der Leser bei der Dichtung Christian Morgensterns, die so schön absurd über die Untiefen des Sinns und der Sinnlichkeit hinwegträgt. Christian Morgensterns lyrische Grotesken, seit 1895 entstanden und 1932 erstmals unter dem Titel "Alle Galgenlieder" versammelt (mit "Palmström" von 1910, "Palma Kunkel" von 1916 und "Der Gingganz" von 1919), gehören zu den wenigen Werken der komischen Muse, die Eingang in den Kanon der Hochliteratur gefunden haben. Morgensterns Spielfreude, sein Charme und genialer Einfallsreichtum, aber auch der ernste Titel mögen dazu beigetragen haben: "Man sieht vom Galgen die Welt anders an und man sieht andere Dinge als andere."

Man hat in diesen Gedichten eine vernünftige Lehre aufspüren, einen großen Ernst, ja Pessimismus erkennen wollen. Man hat Morgenstern Kabbalismus, Okkultismus und - ! - Anthroposophie unterstellt. Der Dichter selbst hat eines seiner bekanntesten Gedichte - "Das große Lalula" - als Schachpartie gedeutet. Goethes wohlgemeinter Ratschlag, das Unerforschliche ruhig zu verehren, ist bei Morgenstern-Lesern stets auf taube Ohren gestoßen. Für Pädagogen, Philologen und Kritiker gibt es keinen Unsinn! Große Namen werden bemüht, um seinem Schaffen Dignität zu verleihen: Fritz Mauthner, Jean Paul, Heinrich Heine, Arno Holz, selbst Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter wird als Begründer der Avantgarde gefeiert: Ohne Morgenstern "keine Rede von Dada, von konkreter oder visueller Poesie", schreibt Hans Magnus Enzensberger. Morgenstein sei der einzige Dichter, der den Untergang der romantischen Tradition begriffen habe: "Schleichts euch, singt, wenn ihr nicht singen könnt, euch selber in den Schlaf!"

Titelbild

Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder.
Reclam Verlag, Leipzig 1999.
315 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 315050354X

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