Geschichten über das Autofahren und eine fast gelungene Eroberung

Der "Mercedes-Benz"-Roman von Pawel Huelle

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der polnische Autor Pawel Huelle sagt von sich, er brauche "eine größere Perspektive" für sein Bild von der Welt: "Die Würze liegt in der Vergangenheit, die ich in mir trage. Es gibt keine Zeit ohne Erinnerung."

Dieser Erinnerung widmet sich der Protagonist, ein Schriftsteller namens Huelle, in seinem Roman "Mercedes-Benz. Aus den Briefen an Hrabal" ausgiebig, wenn auch begrenzt auf Geschichten über Autos, Autofahren und die eigene Familiengeschichte. Dieses alter ego des realen Autors erlernt die Kunst des Autofahrens bei Fräulein Ciwle, in einem Fiat, in der verkehrsdichten Stadt Danzig. Ausgelöst wird das Erinnern an diese Fahrstunden von der Nachricht über den Tod des Dichters Borumil Hrabal, der sich 82-jährig aus dem 5. Stock eines Krankenhauses stürzte - bis heute wird über die Ursache spekuliert -, und führt mitten in einen Stau, den besagte Hauptfigur direkt in der ersten Fahrstunde auf einer vielbefahrenen Kreuzung verursacht. Von beiden Seiten stürmen erzürnte Gesichter auf ihn zu, was die Erinnerungssequenz vertieft, ihm fällt die Geschichte vom ersten Auto seiner Großmutter Maria ein, mit dem diese das Fahren erlernte. Dieses Fahrzeug, ein Citroën, blieb auf einem Bahnübergang stehen und wurde von einem Zug erfasst, die Insassen konnten sich vorher in Sicherheit bringen.

Fräulein Ciwle liebt das Geschichtenerzählen und fordert ihren Fahrschüler auf, seine Erzählungen fortzusetzen. Der begreift, dass er statt mit seinen defizitären Fahrkünsten Fräulein Ciwle mit seinen Familienanekdoten unterhalten und für sich einnehmen kann. Also parliert der Fahrschüler Huelle über seine Familiengeschichte in ihrer teils skurrilen, teils abenteuerlichen Verbindung mit den jeweiligen Autos, die die Großmutter, der Großvater, der Vater besessen haben, eingebettet in die wechselvolle Geschichte Polens. Politische Stichworte werden gebracht, Schicksale angedeutet, erzählt wird von Ballonjagden der Großeltern, die in diesem Sport ungeschlagen waren, oder vom Vater, der sich einen alten Mercedes-Benz zulegte und diesen erst wieder aufgab, als die Anzahl der technischen Probleme pro Fahrt die jeweils gefahrene Kilometerzahl überschritt.

Schelmisch kommen sie daher, die Figuren des Romans, mit einer Sprache, die trotz sehr langer Sätze und komplizierter Konstruktionen eine Leichtigkeit in sich trägt, die kennzeichnend ist für die Romane und Erzählungen von Pawel Huelle. Etwas zu nah an der Oberfläche gelingt eine vertiefende Perspektive eher selten, vor allem die Rahmenhandlung verliert gegenüber dem Charme der überlieferten Familienanekdoten. Fräulein Ciwle, jung, hübsch, an einen kranken Bruder gebunden, gewinnt keine Kontur, da hilft auch der Joint nicht, den sie und ihr Fahrschüler, zusammen mit zwei weiteren polnischen Lebensabenteurern, die wie Frl. Ciwle in einer Gartenkolonie wohnen, rauchen, und der dem Erzähler unvergessliche Eindrücke beschert. Die beiden kommen nicht zusammen, mit der letzten Fahrstunde geht etwas zu Ende, das sanft begonnen hatte. Der Erzähler erinnert sich an diese Erlebnisse, während er in einer Kneipe sitzt und über den soeben verkündeten Tod Hrabals nachdenkt.

Der Autor Huelle kreist in diesem Roman um Momente der Erinnerung, "manchmal kehrt dieser Augenblick dann nach Jahren unverhofft wieder, aufgrund irgendeiner zufälligen Assoziation, eines Lautes oder Geruchs, und dann schreiben wir ein Gedicht oder geben uns unseren Gedanken hin, aber nicht mehr zu jenem konkreten Gesicht, das wir ja nicht genau rekonstruieren können, sondern über die Zeit und ihre merkwürdigen Mechanismen, die unsere Träume und unsere Phantasie regieren, und so war es auch in diesem Fall, lieber Herr Bohumil, Fräulein Ciwle kehrte plötzlich zu mir zurück, unverhofft, in einer ganz anderen Zeit, in einem ganz anderen Raum, wenn auch in Verbindung mit Ihnen".

Mit dem Tod Hrabals scheint eine Epoche zu Ende zu gehen. Im Roman wirft der Autor einige Lichter auf diese Vergangenheit, das ist die größere Perspektive, der große Bogen, von dem der Erzähler immer wieder spricht. Der große Bogen, den Hrabal in seinen Texten so meisterhaft schlagen konnte, den nun auch der Autor Huelle in seinem Roman schlägt: fast ein ganzes Jahrhundert polnische Geschichte(n), Autofahrten und Danziger Verkehr.

Titelbild

Pawel Huelle: Mercedes Benz. Aus den Briefen an Hrabal.
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3406502695

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