Ruhe ist die erste Bürgerschweinpflicht

Friedmar Apels hinreißender erster Roman "Das Buch Fritze"

Von Jörg SaderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Sader

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soeben aus der geschlossenen Abteilung entlassen, kauft Fritze (auf der letzten Buchseite) zwölf Flaschen Einbecker und ein Schreibheft und erklärt den Pennerfreunden im 'totgesagten Park', er müsse "die ganze verkorkste Geschichte" einmal aufschreiben: "Ist ja nicht für die Menschen, [...] nur für mich und Gott. Wir unterhalten uns manchmal in der Nacht, und manchmal weinen wir über die Welt. [...] Er kann nicht mehr, sagt Fritze, er ist alt und müde."

Zwölf Hefte hat Fritze voll geschrieben, darin "Andachtsbildchen und Ablaßzettel" eingeklebt, die der Autor, von Fritze gebeten, daraus eine lesbare Geschichte zu machen, wie auch die eingestreuten Gebete sparsam zu verwenden verspricht; ganz weglassen könne er sie nicht, "mag das den Aufgeklärten auch befremdlich erscheinen." Beibehalten wolle er die Titel der zwölf Hefte, die ebenso viele "Stationen" (sprich: Kapitel) ergeben, die Namen noch lebender Personen allerdings verfremden; er werde gelegentlich Unstimmiges kommentieren und nur selten "aus eigener Deutung oder aus anderen Quellen" der Geschichte etwas hinzufügen, die eine wahre nicht werden könne, "aber vielleicht eine einfache und wahrhaftige von einem, der versucht hat, dem Leben zu halten, was es ihm versprochen haben will."

Ästhetisch, erzählerisch klare Verhältnisse und doch eine aufwendige Konstruktion, die Spekulationen nährt: Wie gut kennt Apel Fritze, welche Nähe besteht da wirklich? Auf geradezu wunderbare Weise fällt ihm ein lebenspraller Stoff zu, der sich virtous inszenieren lässt und zugleich erlaubt, der Falle auktorialen Erzählens mit all seinen Verantwortlichkeiten souverän zu entgehen. Mit der Figur des aufsässigen Fritze, mit seinem Blick 'von unten' auf das verklemmte, spießig-muffige deutsche Wirtschaftswunder (und seine Arroganz gegen über dem Osten) ist ja tatsächlich eine überaus listige Erzähl-Perspektive gewonnen, die in jugendlich naivem Ton, unfreiwilliger Komik und einer wahrhaftigen, aufmüpfigen wie zuweilen rotzigen, immer brillanten Sprache den Wohlstandsbürgern den pikaresken, desillusionieren den Spiegel vorzuhalten vermag. Denn Fritze ist der moralische Stillstand dieser Jahre, die trügerische Ruhe des status quo ebenso verdächtig wie das kultivierte Vorurteil der angepassten Erwachsenenwelt, das ihn instrumentalisieren will. Seine unverstellte, leibbezogene Vernunft rebelliert gegen das, was 'von oben' kommt und meldet ein Verlangen nach Wandel an.

Mannigfach sind die Bezüge, die der kleine Roman spielerisch eröffnet: lässt er sich als Leidensgeschichte auffassen (was der Titel nahelegt, die Symbolik der Zahl Zwölf wie letztlich das bigotte Psalmodieren der Personen selbst, die stets zur Bibel flüchten, um den Alltag zu bewältigen), so andererseits als ein ins Moderne gewendeter Schelmen-Roman, dem der Held weniger gilt als die versteinerten Verhältnisse, an denen er sich nun mal den dummen Kopf blutig zu stoßen hat. Freilich ist Fritze zu klug, um einfältiger Schelm zu sein, zu klug, um sich die Probleme, wie mancher annehmen mag, selbst zu schaffen. Und doch häuft er Niederlage auf Niederlage, bis er, erkenntnis-, erfahrungsgesättigt und krank geworden, am Stock geht und das Gespräch mit seinem "müde" gewordenen Gott sucht. "Soll mein Herz", lautet Apels letzter Satz, "traurig sein, wie ich ihn da sitzen sehe."

Als uneheliches Kind von den in den Westen flüchtenden Eltern im katholischen Eichsfeld, seinem Paradies, zurückgelassen, soll Fritze eines Tages "zum Frisör und dann in den Westen und dann in die Schule. Fritze will nicht zum Frisör, er war noch nie dort. In den Westen will er auch nicht, er weiß gar nicht, wie es da ist." Genau dort aber beginnt die "verkorkste" Geschichte. Was Apel Fritze erleben lässt, ist gewisser maßen BRD pur: Mode, Musik (Jan und Kjeld, Ricky Nelson und Pink Floyd) und Fußballtechnik der 5oer und 6oer Jahre ("Netzers große Füße"), das erste aufgemotzte Velo-Solex, des Vaters Mercedes 19o Heckflosse, den Fritze volltrunken in den Graben setzt, ein Lloyd Alexander TS in Zweifarbenlackierung, wer erinnert sich noch? Apel schildert Fritzes Pubertätswirren, den ersten ungeschickten Sex, eine Fülle von Lieben, die nie halten, die Begegnung mit einem päderastischen Onkel, die man Fritze nicht glaubt, und gibt fachmännische Anweisungen, einen Joint zu drehen. Schier unerschöpflich ist Friedmar Apels Lust am typischen Detail, gleichviel, ob Verpoorten oder Kennedy und Onassis - alles und jedes trägt zur punktgenauen Zeichnung dieser deutschen Jahre bei.

Fritzes aberwitzigen Versuchen, sich zu integrieren und zugleich der zu bleiben, "der ich nie gewesen bin", ist, wie gesagt, nie Erfolg beschieden. Fällt er in den Schulen (wie Holden Caulfield) durch entlarvenden Vorwitz, die Lektüre Hochhuths oder durch Klassenbücher auf, die er im Teich schwimmen lässt, so lässt er sich ungeschickt zum Drogen-Kurier und Dealer erpressen, nimmt LSD und gerät in Polizeifallen, gründet eine Firma und setzt sie in den Sand, ist Versicherungsvertreter, dann Alkoholiker, der in Kaufhäuser und ins Elternhaus einbricht, und liegt schließlich nach einem Motorradunfall ohne Wohnung buchstäblich auf der Straße. Therapien folgen und Entziehungskuren, schließlich wegen suizidärer Neigung die Geschlossene. Hatte der deutsche Wohlstand für Looser, wie ihn Fritze verkörpert, keinen Platz?

Plausibel wird Fritzes Opponieren gegen die verordnete Vernunft an der Fülle der Klischees der Erwachsenen, die als halbgedachte, halbgare Redensarten und verdrehte Lebens weisheiten auf ihn einstürzen - das ist der Flaubertsche Unterstrom des Buches: die Dummheit zeigt sich zuallererst an der Sprache. "Damit er schwarzbraun wird wie die Haselnuß", müsse er in die Sonne, während der Lehrer die Ordnung als das "halbe Leben" predigt. Oder Fritze hört den Vater sagen: "Der Willy Brandt ist ein Verräter, er heißt eigentlich Herbert Frahm und trinkt zu viel Whisky. Nein, sagt Onkel Herbert, der Adenauer hat uns an die Russen verkauft, und er lügt wie alle Kölner. Die Frau sagt, Politiker haben keine Moral, sie kennt die Rosemarie Nitribitt, die war mit allen schon mal im Bett." Als sich Fritze in eine Zigeunerin verliebt, verprügeln ihn die Brüder: "Wer sich mit dem Gesindel abgibt, ist selbst schuld, sagt der Vater, wenn wir den Krieg nicht verloren hätten, gäbe es die gar nicht mehr. Jetzt leben die von unseren Steuergeldern und klauen wie die Raben." Oder Fritze, selbst im Geiste der Zeit, beim späteren Besuch im Eichsfeld: "Seid froh, daß ihr hiergeblieben seid. Der Kapitalismus frißt die Herzen auf. Wir sind aber keine Kommunisten, sagt der Onkel Karl, wir sind gute Katholiken [...]. Der ist aber in der Partei, flüstert Tante Erna. Wer flüstert, der lügt, sagt Onkel Karl, was wird denn, wenn die Wiedervereinigung kommt. Gott bewahre euch vor dem Übel, sagt Fritze. Und wenn doch, wollt ihr dann hier alles wiederhaben, und wir fliegen aus ..."

Viel Literatur geistert, wen wunderts, durch die Seiten: Hölderlin und Rilke, Kleist, Luther, George und Hofmannsthal, noch Wagners Walküren treten auf und spielen unvermeidlich auf Hitler an. Fritze, ohne Zweifel so belesen wie sein umsichtiger Chronist, kommentiert ausweglose Situationen gern literarisch: als Stoßseufzer fällt das berühmte "Wo aber Gefahr ist ..." bei einer Grenzkontrolle im Zuge - Fritze hat mächtig viel Drogen im Gepäck. Als er schließlich Schriftsteller werden will, spart der Bielefelder Literaturwissenschaftler und Goethe-Liebhaber Apel nicht mit amüsanten Hieben aufs eigene Fach. Nach allen Regeln philologisch-ästhetischer Akribie lässt er Fritzes Erzählung "Ein Romantiker" - eine erotische, den Mythen Undines und Melusines folgende Geschichte - von Dritten dekonstruieren, wo bei gängige Nebelkerzen fallen: die Interpretation verweise, wird da erklärt, ohne den Wahrheitsgehalt des Textes beurteilen zu können, "nur auf diese Integration des Autors in seine Geschichte als einer Stelle, an der sich jene zuvor konstatierte Entäußerung des Subjekts in seinen Gegenstand auf der Ebene der Bildlichkeit deutlich ablesen lässt, indem der reale Autor als fiktiver Gegenstand seiner sich selbst erzählende Geschichte in Erscheinung tritt."

Als Literat kommt Fritze, der hierzu jeden Kommentar verweigerte, nicht immer gut weg. Nach dem ihm in einer Bar eine cool tanzende Salomé den Täuferkopf auf den Tisch geschleudert hat, stürmt Fritze die Bühne und wird verprügelt; als er hart auf das Pflaster schlägt, fällt ihm das Ende seines ungeschriebenen Romans ein: "Der alternde Dichter [...] scheint entschlafen. Einige Freunde sind bei ihm und reden über seinen friedlichen Tod. [...] Da aber erwacht der Dichter und sagt etwas. Die Freunde aber verstehen ihn nicht und zünden eine Lampe an." Scheint hier der alte Goethe versteckt, so ist es an an derer Stelle Nietzsche, den Fritzes Manuskript bemüht: "Der angehende Dichter liebte die unzeitgemäßen Stimmungen und Gefühle, und er suchte sie in den Dingen und den Worten, ohne sie zu finden. Die Vergeblichkeit belustigte ihn ..."

Ist Fritzes "Buch" am Ende eines der Gottferne, der Suche nach dem abwesenden Gott? Als der komisch-aktuelle Apostel auf der letzten Seite den Kontakt aufnimmt, indem er zu schreiben beginnt, scheint das Sinnbild allen Schreibens auf: Sinnsuche, Verständigung im unerfüllten Jetzt. Friedmar Apels kleiner Roman löst das auf wunderbare Weise ein: mit beeindruckender Sprachlust entfaltet er einen überraschend dichten Stoff, um den ihn andere, jüngere Autoren beneiden könnten. Nichts ist hier harmloses Spiel oder raffiniert ausgefeilt um eines fragwürdigen ästhetischen Effekts willen, nichts schwachbrüstig erfunden und doch alles pure Literatur, die zu Tränen rührt und zum Lachen reizt. Man muss das "Buch Fritze" lesen, unbedingt.

Titelbild

Friedmar Apel: Das Buch Fritze. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003.
178 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3518399950

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