In den Körper der Masse verwandelt

Elias Canetti liest Auszüge aus seinem brillanten Essay "Masse und Macht"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lässt sich ein markantes Interesse am Phänomen der 'Macht' feststellen. Gustave le Bon etwa zeigte sich in seinem Buch "Psychologie der Massen" (1895) bestrebt, die "wichtige Rolle" zu untersuchen, die "die organisierten Massen zu allen Zeiten [...] im Völkerleben gespielt" haben, "niemals aber in solchem Maße wie heute". José Ortega y Gasset, um noch einen weiteren Namen zu nennen, faszinierte in seiner Untersuchung "Der Aufstand der Massen" (1930) "das Heraufkommen der Massen zur vollen sozialen Macht als eine Tatsache, die das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde - sei es zum Guten, sei es zum Bösen - entscheidend bestimmt". Schließlich war es vor allem Elias Canettis Verdienst, die Allgegenwärtigkeit der Massen wahrzunehmen und den dialektischen Zusammenhang von Masse mit dem Problem der Macht herzustellen, was in den Arbeiten von le Bon und Gasset unberücksichtigt blieb.

"Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes." Mit diesem Satz eröffnet Elias Canetti seine Untersuchung "Masse und Macht", die zwischen 1939 und 1959 entstand und die er später als sein "Lebenswerk" bezeichnete. Das Phänomen der Masse ist für Canetti ein Rätsel geblieben, das ihn nie losgelassen hat. Der Kern des Rätsels war für ihn der physische Sog, den die Masse auf den individuellen Körper ausübt, die Schwerkraft der Masse. Denn die Körper, die von der Masse aufgesaugt werden, sind nicht mehr einfache, sondern komplexe Organismen, an denen in diesem Aufgesogenwerden eine Bewusstseinsveränderung mit schwerwiegenden sozialpsychologischen Folgen vor sich geht. Diese Bewusstseinsveränderung hat Canetti von Anfang an beschäftigt; zentral wurde für ihn die Frage, wie sich der einzelne als Teil der Masse fühlt. Berührungsangst, Angst vor dem Angriff durch Fremde, ist für Canetti die tiefste aller menschlichen Ängste. Nur in der dichten Masse, die elementar, naturhaft, urwüchsig ist, empfinden die Menschen erleichtert, "daß alle gleich sind". Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass Canetti die Masse an sich selbst, dieses Umschlagen von Angst in die Gleichheit der Masse, erfahren hatte, als er im Sommer 1922 als Schüler in Frankfurt in eine große Demonstration nach der Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau geriet. "Es war ein Rausch, man verlor sich selbst, man vergaß sich, man fühlte sich ungeheuer weit und zur selben Zeit erfüllt, [...] es war das Selbstloseste, das man kannte", vermerkte er 1980 im zweiten Teil seiner autobiographischen Aufzeichnungen unter dem Titel "Fackel im Ohr".

Canettis Begriff der Masse basiert wesentlich auf den persönlichen Erfahrungen des Autors, deren Eigenwertigkeit er ebenso betont wie das seiner historischen Dokumente und Belege, die er in seinem Werk sammelt. Es ist ihm gerade nicht darum zu tun, das Besondere seiner Beispiele einem übergeordneten theoretischen System zu opfern, wie er auch rückblickend im ersten Teil seiner Autobiographie, "Die gespaltene Zunge" (1972), hervorhebt, dass er sich bewusst "an eine eigene Terminologie zu halten versucht" habe, "die aus der Untersuchung selbst entstand". Es geht Canetti um die Sichtbar- und Fühlbarkeit des Schreckens der Berührung mit dem Fremden und damit der Vorstellung dieses Schreckens, also gerade nicht um die Archäologie psychischer Mechanismen, sondern um die dem Beobachter direkt zugängliche Abstoßungskräfte zwischen Körpern. Die Bedeutung des Beobachteten liegt in der Evidenz von Verwundbarkeit, Gefährdung und Angst. Von der Abstoßungsenergie des einzelnen Körpers gibt es keinen kontinuierlichen Übergang zur Dynamik einer Ansammlung von Körpern, vielmehr den Umschlag der Berührungsabwehr, der Berührungsfurcht in ihr Gegenteil. Im Einswerden vieler Körper in der dichten Masse löst sich die Angst der einzelnen voreinander. Je dichter und schwerer der von allen zusammen erzeugte und geteilte Körper der Masse, desto leichter ist das Gewicht der einzelnen Körper.

Für Canetti ist die Masse selbst nicht "etwas Aussätziges", "eine Art von Krankheit", wie es für die Mehrzahl der Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gilt, die sich dabei auf Freuds "Massenpsychologie und Ich-Analyse" (1921) berufen. Die Masse ist ein faszinierendes Phänomen, dem Canetti sich ohne vorgefasste Meinung, mit großer neugieriger Offenheit nähert. Er nimmt ihre rätselhaften Erscheinungsformen in sich auf und versucht, diese in ihren konkreten Unterschieden zu begreifen. So stellt er die Masse in ihren beiden Hauptformen "offen" und "geschlossen" dar, lässt den Leser an der "Entladung" der Masse teilnehmen und zeigt ihm den Grund und die Vergeblichkeit des Triebs der Masse zu dauerndem Wachstum, zum Aufsaugen von immer neuen Menschen. Die rätselhafte Zerstörungssucht der Masse erweist sich bei genauem Hinsehen als "radikaler Angriff auf alle Grenzen", die sich dem Wachstumstrieb der Masse entgegenstellen. Die Präzision der Beobachtung und die Beweglichkeit des Beobachtungsstandpunkts sind besonders auffällig im ersten Kapitel, wo Canetti seine Konfrontation mit der Masse erzählt. In diese Beschreibung werden von Anfang an die Erfahrungen integriert, die andere Beobachter mit Massenphänomenen gemacht haben. Es geht ihm, bei aller offensichtlichen Autorität seiner Erzählposition, nicht um die bloße Subsumierung der Geschichten anderer in seine Geschichte, sondern um die gegenseitige Verifikation und das genauere Erzählen von Erfahrungen, die von ihm und von vielen Erzählern vor ihm für kulturell relevant erachtet wurden. So werden die Rhythmen der Bewegungen und Stockungen der Hetzmassen, Panikmassen, Fluchtmassen, Verbotsmassen, Umkehrungsmassen, Festmassen, Doppelmassen etc. auf die der eigenen Schritte und der Schritte anderer bezogen, auf die Rhythmen in großen Herden fliehender Tiere, auf ekstatische Kriegs- und Drohtänze, aber auch auf Massenerscheinungen, wie sie in Mythen und religiösen Berichten überliefert wurden.

Die Bedeutung des konkreten Massenphänomens ist für ihn jedoch "unvergleichlich höher", weil die Macht der Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf der "bewussten und künstlichen Erregung von immer größeren Massen" beruht habe - eine für "Masse und Macht" zentrale Tatsache. Dabei geht es nicht um die These einer libidinösen Identifizierung des "Massenindividuums" mit dem Führer, wie etwa bei Freud, sondern um die Aufmerksamkeit für das Phänomen der Verwandlung des Individuums in der Masse und der Verwandlung der Masse durch wachsende oder abnehmende Zahl und Zusammenhalt der Individuen. Hierin ist der fundamentale Gegensatz zu Theodor W. Adornos Schrift "Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda" zu sehen, der in der Forschung häufig eine direkte Nähe zu den Thesen Canettis unterstellt wurde. Adorno war ausschließlich an der autoritären Persönlichkeit des Führers interessiert, die er mit dem Ur-Vater gleichsetzt, und nicht, wie Canetti, an der mit den Zeitgenossen geteilten Erfahrung der modernen faschistischen Massenbewegung, die mit der erfolgreichen Erregung und Erhaltung von Massen aufs engste zusammenhängt.

In einem der wichtigsten Kapitel von "Masse und Macht", "Der Befehl", zeigt Canetti am "Fluchtbefehl" die Todesandrohung als innerste Substanz jeden Befehls. Der Befehl war in seiner Urform ein Todesurteil, das das Opfer zur Flucht zwang. Indem man dem Befehlenden jedoch gehorcht, wendet man die Drohung von sich ab. Canetti unterteilt den Befehl in den Antrieb, der den Empfänger zum Ausführen zwingt, und den Stachel. Bei der derart erzwungenen Annahme des Befehls entsteht die Distanz zwischen dem Handelnden und der unter Befehl ausgeführten Handlung. Der Stachel, der von jedem ausgeführten Befehl zurückbleibt, bleibt im Menschen stecken; um sich davon zu befreien, muss er ihn umkehren, an einen Dritten weitergeben - ein circulus vitiosus. Hierher gehört auch das Phänomen des die Massen erregenden und sie damit als Masse konstituierenden Redners, das Canetti an Hitler untersucht. Was vom einzelnen bei der Lektüre von "Mein Kampf" nicht ernst genommen wurde, das grotesk aggressive Schlagwort als (den Tod androhender) Befehl, fand spätestens dann seine Wirkung, sobald der Massenredner es ausstieß und damit die vielen isolierten einzelnen in den Körper der Masse verwandelte, der sie momentan aus dieser Isolierung befreite. In "Masse und Macht" ist der Befehl und seine Ausführung, die Scheidung in "Befehlshaber" und "Befehlsempfänger", Mächtige und Ohnmächtige, ein schlechthin destruktiver Aspekt sozialer und politischer Ordnung, denn der Stachel des Befehls bedeutet die deutlichste Erfahrung menschlicher Ungleichheit. Nun kann keine Gesellschaft ohne eine Form von Machtbesitz und Befehlsstruktur auskommen. Aber es geht Canetti weniger um utopisch perfekte Emanzipation als um den Versuch, Phänomene totaler Herrschaft des 20. Jahrhunderts in ihren verschiedenen Schichten und Verwandlungen aufzudecken. "Masse und Macht" kann daher auch als ein Versuch gelesen werden, durch das Studium archaischer Mythen und Überlieferungen Aufschluss über die tiefsten anthropologischen Wurzeln der Grausamkeiten seiner eigenen Zeit zu erhalten. Ohne Canettis zentrale Begriffe - Masse, Macht, Überleben und Befehl - kann vermutlich kaum etwas Substantielles über den Faschismus, diesen Inbegriff formierter Massen, gesagt werden. Sicherlich nicht zufällig beendet Canetti seine Studie mit folgenden Worten: "Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enorme Kapitalien anzusammeln. Wer der Macht beikommen will, der muß den Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben."

Dieses Anliegen steht im Zentrum aller Texte, die Canetti in Reaktion auf die Vernichtung der europäischen Juden schrieb. Sie plädieren für die Notwendigkeit, alle politischen und psychologischen Fragen der Moderne konsequent als soziale zu behandeln. Adorno sah in diesem "subjektiven" Verfahren ein wenig auch ein "Skandalon"; näher liegend dürfte die Überlegung sein, dass der Sozialwissenschaftler Canetti den Dichter Canetti weder verleugnen konnte noch wollte. Die Grundbegriffe seiner Dichtung erschienen in "Masse und Macht" als Kapitelüberschriften wieder ("Die Verwandlung", "Die Umkehrung"), (sozial-) historisch gewendet auf die massenhafte Paranoia der Nationalsozialisten. Die Kritik hat vor allem bemängelt, Canetti untersuche bevorzugt das Verhalten archaischer Gesellschaften, obwohl ihm angeblich an einer Analyse der modernen Gesellschaft gelegen sei. Die Objektivität, die Canetti in seiner Untersuchung erstrebt, ist jedoch nicht auf Eliminierung des beobachtenden Ichs gerichtet; vielmehr kommt es ihm, wie Dagmar Barnouw in ihrer Analyse von "Masse und Macht" (1975) herausgestrichen hat, "auf eine Objektivität an, die das Selbst im Zentrum der Ordnungsversuche nicht zu verleugnen braucht: das Selbst des Autors, des Lesers und das Selbst all derer, die Mythen schaffend, Ereignisse beobachtend und verzeichnend, durch den Autor wiederum Gestalt gewinnen".

Vor allem hat Canetti eine bemerkenswert wirkungsvolle Methode entwickelt, die Mythen selbst sprechen zu lassen und damit ihre Polyphonie zu erhalten. Seiner konzentrierten Wieder-Erzählung gelang es, das Anliegen des individuellen Mythos stärker zu beleuchten, um die informative Beispielhaftigkeit dieser einen "Geschichte" ins volle Licht zu rücken. Mythen, wie Sprache überhaupt, interessierten Canetti als Akt des Zueinander-Sprechens, als Konstituierung von Sinn, Verstehen von Bedeutung. Mythen sind nicht in mythologischen Systemen zu Ruhe zu bringen, sondern durch die Stimme des Erzählers in Bewegung zu setzen. Von dieser prosopopoietischen Qualität Canettis und seines kühnen und brillanten Essays über das Phänomen der Macht kann man sich nun auch anhand eines einzigartigen historischen Tondokuments überzeugen. 239 ebenso kurzweilige wie faszinierende Minuten liest Elias Canetti Auszüge aus seinem berühmten Essay und zieht den Hörer mit jedem Wort in seinen Bann. Wem also die Muße fehlt, sich in den voluminösen Text einzuarbeiten, dem sei dieses Hörbuch eindringlich empfohlen.

Titelbild

Elias Canetti (Hg.): Masse und Macht. 3 CD.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003.
239 min, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3455320171

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