Vorschläge, aber keine Vorschriften

Auch Monika Osberghaus stellt nun einen Kinderbuch-Kanon vor, der keiner sein soll

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Klage über die Unübersichtlichkeit der modernen Wissensgesellschaft ist so neu nicht. Entsprechend haben Bestenlisten, Literaturtipps und Kanondiskussionen Hochkonjunktur. Dietrich Schwanitz hat mit seinem Schmöker "Bildung" unmissverständlich klargestellt, "was man alles wissen muss". Der Bamberger Germanist Wulf Segebrecht beantwortete bereits vor Jahren allen Studierenden bereitwillig die Frage, was Germanisten lesen sollen. Und unlängst hat Seine Gnaden, Marcel Reich-Ranicki, beim Insel Verlag seinen Kanon der deutschen Literatur um einen weiteren halben Regalmeter fortgesetzt.

Im riesigen Markt der Kinder- und Jugendliteratur besteht offensichtlich ein ebenso großer Orientierungsbedarf - oder wird zumindest von Verlagsseite her unterstellt. Nachdem die "Zeit"-Redakteurin Susanne Gaschke erst 2002 in "Hexen, Hobbits und Piraten" die "besten Bücher für Kinder" vorgestellt hat, präsentiert nun auch die "F.A.Z."-Journalistin und Kinderbuchexpertin Monika Osberghaus eine Bestenliste. Diese ist mit 50 ausgewählten Titeln nicht nur halb so groß wie die von Kollegin Gaschke, sondern - als Taschenbuch - auch nur halb so teuer. Aber auch in der Auswahl der favorisierten Bücher zeigen sich einige Unterschiede, wohingegen beide Autorinnen in der Intention, paradoxerweise letztlich doch keinen Kinderbuchkanon liefern zu wollen, übereinstimmen.

"Dies sind nicht die fünfzig Titel, die jeder unbedingt kennen sollte. Aber sie nicht zu lesen hieße, die Chance auf etwas Schönes, Wichtiges und Wohltuendes zu verpassen", schreibt Monika Osberghaus gleich zu Beginn ihres Vorworts, in dem sie allen pädagogischen oder didaktischen Erwägungen eine Absage erteilt. Ihr gehe es vielmehr um den "tiefen Eindruck" der Bücher, um Bücher, "die die Seele ansprechen". Dabei beruft sie sich auf ein schönes Wort von Astrid Lindgren, das alle gut gemeinten Leseaufrufe als dröge (PISA-)Erziehungsmaßnahmen entlarvt: "Ich finde nicht, dass die Kinder lesen sollen, weil es vernünftig ist zu lesen. Sie sollen lesen, weil es Freude macht zu lesen." Und zwar Freude in Großbuchstaben.

Dass die Lust am Lesen auch im Zeitalter von Gameboys und Computerspielen noch flächendeckend um sich greifen kann, wenn es sich um ein gutes Kinderbuch handelt, beweist ja nun seit einigen Jahren ein kleiner Zauberschüler mit Narbe auf der Stirn. "Harry Potter" fehlt deshalb in der Liste von Monika Osberghaus ebensowenig wie Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur von Erich Kästners "Emil und die Detektive" über Michael Endes "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" und Otfried Preußlers "Kleiner Hexe" bis zu Robert Louis Stevensons "Schatzinsel". Andererseits stellt sie auch weniger bekannte Titel vor, "die niemals den großen Durchbruch erlebten", hat aber auch die gemeinhin als trivial eingestuften, bei Kindern aber ungebrochen beliebten Abenteuer-Geschichten von Enid Blyton in ihre Aufzählung aufgenommen. Jeder ihrer Vorschläge wird auf wenigen Seiten kurz erläutert und oftmals mit Hintergrundinformationen ausgestattet, gelegentlich auch etwas ausführlicher interpretiert. Gerade bei den eher unbekannten Kinderbüchern zeigt sich die Notwendigkeit dieser Orientierungshilfe, die sich eher an ratlose Erwachsene denn an Kinder und Jugendliche selbst richtet. Hier ist durchaus manche Neu- und Wiederentdeckung zu machen. Bei Angela Sommer-Bodenburgs "Kleinem Vampir" hingegen stellt sich nach der Lektüre der Kurzerläuterung die Frage, wieso die als verstaubt und misslungen kritisierte Vampir-Reihe eigentlich in die "Bestenliste" aufgenommen wurde. Gibt es da nicht viel interessantere Titel als dieses "hübsche Grusel-Vergnügen"?

Bei den Kinderbuch-Klassikern wiederum entsteht zwangsläufig das Problem, dass eine Vorstellung überflüssig ist. Wem bitte - und seien die Erwachsenen noch so leseunerfahren - muss man Astrid Lindgrens Bücher für Kinder empfehlen? Oder die Märchen der Brüder Grimm? Oder Paul Maars anarchisches "Sams"? Dieses findet sich übrigens überraschenderweise bei Susanne Gaschke nicht. Subjektive Begründung: Sie habe "dieses Wesen mit seiner angestrengten Frech-Fröhlichkeit" nie ausstehen können. Naturgemäß listet jedoch Gaschke mit doppelt so vielen besprochenen Titeln zahlreiche Bücher auf, die eigentlich nicht fehlen dürften - für die aber bei Monika Osberghaus einfach kein Platz mehr ist. Aus diesem Grund beschränkt sich die FAZ-Journalistin pro Autor bzw. Autorin auf ein einziges Buch. Einzige Ausnahme ist Astrid Lindgren, von der neben Pippi Langstrumpf auch das pazifistische, doch düstere Märchen "Die Brüder Löwenherz" Eingang in die "Top 50" findet.

Letztendlich hinterlässt Monika Osberghaus' "Bestenliste", die ja auch nur ein Vorschlag und keine Vorschrift sein soll, einen zwiespältigen Eindruck. Wirklich wertvoll sind eigentlich nur die wenigen "Geheimtipps" oder fast vergessenen Kinderbuch-Titel. Was aktuelle Trends und Autoren (zum Beispiel bezüglich des Erfolgs von Cornelia Funke) betrifft, sind die Vorschläge einer guten Buchhändlerin sicherlich ebenso fundiert. Und die sind kostenlos zu haben. Empfehlenswert ist dieser Titel also nur für Interessierte, die ihr Wissen über Kinderbücher ein bisschen auffrischen bzw. ergänzen wollen.

Titelbild

Monika Osberghaus: Was soll ich denn lesen? 50 beste Kinderbücher.
dtv Verlag, München 2003.
224 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3423621516

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