Allseits einseitige Deutungen?

Ingrid Strohschneider-Kohrs Interpretation von Ingeborg Bachmanns Prosa-Text "Undine geht"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich handelt es sich beim Undinen-Mythos um eine Männer-Phantasie par excellence. Dies gilt jedoch ganz sicher nicht für die Undine-Figur in Ingeborg Bachmanns Prosa-Text "Undine geht". Insofern ist Ingrid Strohschneider-Kohrs' Auffassung zuzustimmen, dass der Text "offenkundig mehr und anderes als nur eine Variante der bislang bekannten literarischen Bearbeitungen" darstellt, sondern dass er eine "nachgerade singuläre Bearbeitung des überlieferten Sujets" bietet. Doch zielt Strohschneider-Kohrs Bemerkung nicht auf das durch den Mythos und dessen Bearbeitungen transportierte Weiblichkeitsbild. Vielmehr geht es der Literaturwissenschaftlerin um die "poetisch-empathische Konzentration des Grundthemas", die sie in einer ganz anderen Frage ausmacht.

Bevor sie jedoch ihre eigene Lesart vorlegt, wendet sie sich anderen Interpretationsansätzen zu, von denen sie keinen gelten lässt. Ihre Ablehnung gilt insbesondere Lesarten, wie sie "unter d[em] Vorzeichen feministischer Thesen und Tendenzen" üblich seien. Deren Vertreter machten sich nicht nur einer "flüchtige[n] Lektüre" sondern auch der "vorbehaltlose Verherrlichung von 'Weiblichkeit'" schuldig, die von den Feministinnen zudem noch mit 'Natur', 'Liebe' oder 'Irrationalität' identifiziert würde. Heftige, aber nur schwer überprüfbare Vorwürfe, sieht Strohschneider-Kohrs doch davon ab, etwaige Belegstellen oder auch nur die Interpretinnen zu nennen, denen sie solche "vereinfachende[n] oder einseitige[n] Deutungsweisen" zur Last legt. Immerhin, so fährt sie statt dessen fort, werde auch Kritik daran laut, "den Text als 'ein feministisches Manifest' verstehen zu wollen". Was nun diese Kritik betrifft, so steht sie nicht an, eine bis zur Seitenangabe genaue Belegstelle bei Peter von Matt zu nennen. Schlägt man dort allerdings nach, so ist keineswegs von einem "feministischen Manifest" die Rede. Es sei "kein Frauenmanifest", konstatiert der Schweizer Germanist. Dass von Matt den Ausdruck "feministisches Manifest" mit Bedacht vermeidet und statt dessen zu dem eher ungebräuchlichen Wort "Frauenmanifest" greift, wird deutlich, wenn man weiterliest: "Solche Elemente", fährt er nämlich fort, kämen in Undines Monolog zwar vor, doch stehe die Figur "auch entschieden und ausdrücklich in einem polemischen Abstand zu allen anderen Frauen".

Strohschneider-Kohrs zweite Kritik richtet sich gegen eine "undifferenzierte und simplifizierende Gleichsetzung" von Undine mit Kunst, womit der Problemzusammenhang "auf allzu unbekümmerte Weise" verstellt werde. Anders als bei ihrer Kritik an feministisch orientierten Lesarten ist die Autorin hier schon mal eher dazu geneigt, einen Beleg anzuführen.

Erst nachdem sie konkurrierende Interpretationsansätze derart heruntergeputzt hat, offeriert sie ihre eigene Lesart: "[D]as, was im Text mit dem Namen 'Hans' bezeichnet und umschrieben ist", sei als die "Sphäre der Sprache" oder als die "Wirklichkeit des Sprachlichen" zu verstehen. Als "Möglichkeit oder Sinn-Gestalt der Poesie" bilde die "eigentümliche Sphäre" der Undinen-Figur den Gegensatz zu ihnen. Zweierlei ist also an Strohschneider-Kohrs Interpretation bemerkenswert: zum einen die Deutung der Undine-Figur nicht allgemein als Kunst, sondern spezifischer als Poesie und zum anderen die strikte Unterscheidung zwischen der Poesie und dem der 'Hans-Welt' zugeordneten bloß Sprachlichen. Zweifellos eine originelle, ja durchaus plausible Lesart, die allerdings die Vielschichtigkeit von Bachmanns Text keineswegs ausschöpft. Und so fällt Strohschneider-Kohrs' freimütig verteilter Vorwurf der einseitigen Deutung auch auf sie selbst zurück. Andere Autoren haben hingegen sehr wohl auf einander ergänzende Textebenen hingewiesen. So etwa Dagmar Kann-Coomann, die, wie Strohschneider-Kohrs formuliert, "mit Entschiedenheit betont", dass Bachmanns Text "zwei gleichwertige Bedeutungsebenen" zeige, da - wie es Kann-Coomann selbst ausdrückt - "Fragen nach Funktion und Anspruch von Dichtung" nämlich gerade nicht den "alleinigen Mittelpunkt" des Textes bilden, sondern sich Undines "Schmähungen patriarchalischer Verhältnisse [...] dem poetischen Gehalt als ebenbürtiges Thema" hinzugesellen - ein Textverständnis, von dem Strohschneider-Kohrs sich nachdrücklich distanziert.

Titelbild

Ingrid Strohschneider-Kohrs: Stimme und Sprache. Ingeborg Bachmanns Version des Undine-Themas.
Mit dem vollständigen Abdruck des Textes von Ingeborg Bachmann.
P. Kirchheim Verlag, München 2003.
63 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3874100960

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