Die Metaphysik des Einkaufswagens

Zu Iris Hanikas Tagebuch-Episoden-Feuilleton-Chronik "Das Loch im Brot"

Von Anette WörnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Wörner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als "Chronik" lesen wir Iris Hanikas Text "Das Loch im Brot" und wundern uns einmal mehr, welchem Wandel literarische Kategorien, welchem Verfall literarische Formen unterliegen: Ehemals als eine Form dokumentierender Geschichtsschreibung verstanden, haben wir es hier mit einer eher losen und scheinbar zufälligen Ansammlung mehr oder minder belangloser Beobachtungen zu tun. Fragment bleibt der Text als Ganzes als auch in seiner inneren Struktur. Keine authentischen Geschehnisse, die die Chronistin einem historischen Zusammenhang zuordnet, keine zeitlich-logische Abfolge von Stationen, keine Klammer über thematische Schwerpunkte; stattdessen punktuelle Beobachtungen, von der Autorin als zeittypisch ausgemacht und ungeordnet zusammen gestellt. Ist diese Abwesenheit von zeitlichem Verlauf, von Kontinuität und Stringenz, so müsste man nach der Lektüre fragen, die adäquate Verarbeitung der letzten Jahre, der Jahre 1995 bis 2002, die das Buch umspannt?

Aber der Reihe nach: Iris Hanika schildert uns die Wahrnehmungen eines Alltags, dessen flächendeckende Banalität die wenigen herausragenden Spitzen vollständig neutralisiert. Sie tut dies in diaristischer, episodischer Manier. Einige wenige Überschriften, große Absätze oder Datierungen der Einträge sind die einzigen Gliederungselemente des ansonsten völlig sich selbst überlassenen Textcorpus. Ein Inhaltsverzeichnis existiert nicht. Exkurse über "einsame Frauen", zum Thema "Aldi" oder "über Sex" sind lose in das Notizkonvolut eingestreut. Ihr Blick gilt eher dem Detail als der Theorie, wie wir aus dem Klappentext erfahren, was die Autorin auch umgehend einlöst. So erfahren wir unter anderem, wie sich der Einkauf im Supermarkt vollzieht - und zwar en detail: Man legt also, berichtet die Chronistin "den vollen Einkaufsbeutel in den Einkaufswagen, auf dessen Kindersitz die Handtasche steht, und schiebt ihn zur Einkaufswagensammelstelle. Dort nimmt man den Einkaufsbeutel aus dem Einkaufswagen, hängt die Handtasche über die Schulter und rammt seinen in die dort bereits stehenden Einkaufswagen. Daraufhin steckt man den Nippel, der an einer kurzen Kette am Griff des Einkaufswagens hängt, in den Einkaufswagen, in den man den seinen hineingerammt hat." Die Passage kommentiert sich selbst. Der (unterstellte) Versuch, am Detail das Typische, Allgemeingültige zu zeigen, misslingt hier, denn allein die sprachliche Wiedergabe unserer allgegenwärtigen Alltagstrivialität stellt diese noch nicht in Frage und vermittelt erst recht keine ästhetische Wirkung.

Überhaupt rückt Hanika mit ihrer knappen, schmucklosen und offenbar nicht zu literarischer Gestaltung neigenden Sprache ihren Text in die Nähe derjenigen Literatur, die Ursula März in der Frankfurter Rundschau so treffend mit dem Schlagwort "Wirklichkeitsunterbietung" versah: qua literarischer Darstellung bleiben die Schilderungen hinter ihrem Ereigniswert in der Realität zurück - und, was schwerer wiegt, dem marktverträglichen Harmlosigkeitsverdacht ausgesetzt. Mit der Wahl des ohnehin schon monotonen Alltags aber hat sich Hanika, so ließe sich gegenargumentieren, einen von vornherein kaum mehr zu unterbietenden Gegenstand gesucht, den sie lediglich in der ihm gemäßen Form umgesetzt hat. Mag sein, aber - will man das dann noch lesen? Ist es nicht Sinn und Wesen von Literatur, mit dem Werkzeug Sprache zu gestalten, anstatt nur wiederzugeben? Den Alltag leben wir, lesen wollen wir ihn nicht. Von einer Literatur, die diesen Alltag zu ihrem Gegenstand erhebt, erwarten wir zusätzliche Qualitäten.

Die könnte es geben. Unter der Kapitelüberschrift "Wir einsamen Frauen" versucht sich Hanika an das Lebensgefühl der über dreißigjährigen, gebildeten, weiblichen Großstadtbevölkerung heranzutasten und landet, nachdem sie deren Phänomenologie ausführlich beschrieben hat, prompt in den Niederungen der Trivialliteratur: "Ein Weibchen darf ein Männchen nämlich nicht begehrlich anschauen - auf gar keinen Fall! Es darf ein Männchen überhaupt nur von der Seite anschauen und muß den Blick sofort verschämt senken, wenn das Männchen ihn bemerkt. [...] Wenn das Weibchen jedoch durch offenen Blickkontakt zu erkennen gibt, daß es sich für das Männchen interessiert, dann müßte das Männchen es eigentlich sofort vergewaltigen oder so." Muss das noch sein? Sind wir nicht längst über derart fragwürdige Weisheiten der fortgeschrittenen akademisch gefärbten Emanzipationswelle hinaus?

Immer wieder wünscht man sich bei diesem Buch, dass die Autorin ihren Text wachsamer überprüft und feiner gefiltert hätte, damit im Kröpfchen gelandet wäre, was nicht ins Buch gehört. Denn man muss eine Weile in trüber Belanglosigkeit fischen, bis man hier und da ein paar Perlen bergen kann, die es zum Glück dann doch noch gibt: Etwa eine essayistische Miniatur, die ebenso knapp wie präzise zwischen allerlei Ungefährem, Halbgarem, heraussticht. "Einsamkeit macht dumm", heißt es da, "weil eine Überprüfung des eigenen Weltbildes so schwer möglich ist, wenn keiner ernsthaft mit einem redet. Daher kommen dann die Schrullen, aber mehr noch kommen die vom Ungeliebtsein. Wer ungeliebt ist, hat Schrullen statt liebenswerter Eigenheiten ...". Oder ihre Beschreibung einer Zeit des Erwachsenwerdens, in der das Leben sich setzt, die Stürme jugendlicher Illusionen und Idealismen abgeklungen sind. Hier findet sie prägnante, lyrisierende Bilder: "Unterm Gesicht sitzt der Totenschädel und die Zähne sind mit Gold ausgegossen, wie es unser Herz einmal war." Mehr davon und weniger Unfertiges würden wir lieber lesen.

Titelbild

Iris Hanika: Das Loch im Brot.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
120 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3518124382

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