Vorspiegelung falscher Tatsachen

In Schädlichs "Anders" wird der Leser zum Suchenden

Von Jenny ClemensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jenny Clemens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein jüdischer Junge, der zum Symbol des Antifaschismus der DDR wird. Ein SS-Untersturmführer, der nach dem Krieg als Universitätsprofessor Karriere macht. Ein Erzähler, der angeblich eine Frau liebt, jedoch homosexuell ist. Scheinbar haben sie nichts gemein. In seinem Roman "Anders" aber findet Hans Joachim Schädlich das verbindende Element dieser ganz speziellen Fälle: Alle Protagonisten ändern ihre Identität oder verstecken sich hinter einer Rolle, sind eigentlich "anders".

Zwei pensionierte Meteorologen, der namenlose Ich-Erzähler und sein Freund Awa, sammeln "Fälle". Fälle wie den von Jerzy Zweig, der als kleiner Junge das Konzentrationslager Buchenwald überlebte. Seine Geschichte wurde durch den Roman "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz bekannt. Doch dieser stilisierte das Leben des Jungen, so dass es Teil des "antifaschistischen Gründungsmythos der DDR" wurde. Selbst Zweig glaubte an die Legende von sich als "Buchenwald-Kind". Ein zweiter Fall ist der von Hans Schneider alias Hans Schwerte. Der ranghohe SS-Mann und Mitarbeiter in der Abteilung "Ahnenerbe" änderte nach dem Krieg seinen Namen und wurde zum respektierten Hochschulprofessor, der sogar das Bundesverdienstkreuz erhielt. Erst 1995 flog auf, dass er jahrelang von ehemaligen Kameraden, die selbst zu hohen Würden gekommen waren, gedeckt wurde.

Lange Zeit bleibt dem Leser unklar, warum Schädlich den Fall Schwerte wieder aufrollt, der in den neunziger Jahren für Aufruhr sorgte? Warum er den Bericht von Zacharias Zweig über die "wahre" Geschichte seines Sohnes wiedergibt? Dieser wurde 1987 publiziert, auch wenn er von der Öffentlichkeit weitestgehend ignoriert wurde. Und auch der dritte große Fall, die Stasi-Vergangenheit von Gregor Gysi, ist bekannt. Das Prinzip der Helden in Schädlichs Roman ist frei nach Cicero: "Wenn wir nicht für das gehalten werden wollen, was wir sind, kommt alles darauf an, daß wir uns nicht so geben, wie wir sind." Die Fähigkeit des Menschen, sich anzupassen, indem er eine Maske trägt - freiwillig oder unfreiwillig - ist das Sujet des Romans.

Hat der Leser das einmal verinnerlicht, macht er sich auch selbst auf die Suche. Wie ein Detektiv versucht er, das Buch zu knacken. Denn wenn der Leitsatz des Romans beinhaltet, dass nichts so sei, wie es scheint, dann muss dieses auch für die Erzählung selbst gelten.

Beispielsweise die beiden männlichen Hauptpersonen: Sowohl der Erzähler als auch sein Freund Awa scheinen Ida zu lieben, eine Architektin, die sich am Fälle sammeln beteiligt. Darüber hinaus erfährt der Leser jedoch nur wenig über den Hintergrund der Figuren, sie bleiben unvertraut. Interpretiert man aber die Andeutungen des Ich-Erzählers, zum Beispiel die Bezeichnung Awas als seinen "letzten Freund", als Hinweis auf dessen Homosexualität, erklärt sich vieles. Etwa warum er am Schluss des Romans nach Australien geht: Er flüchtet aus einem unerträglichen Beziehungsgeflecht. Darüber hinaus kann der Leser die Suche nach Unterschwelligem aber auch noch weiter treiben: Was für eine Bedeutung hat die Entscheidung des Ich-Erzählers, in Australien zu bleiben, für den Roman?

In den erzählten Geschichten verbleiben die Protagonisten in ihrer Rolle. Der Erzähler aber bricht schließlich aus. Er bleibt seiner Rolle und seinem Leben nicht verhaftet, sondern ändert sich. Er findet eine neue Identität am anderen Ende der Welt. Er wird tatsächlich "anders".

Titelbild

Hans Joachim Schädlich: Anders. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
219 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498063545
ISBN-13: 9783498063542

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