Engel, die Gedankenfäden einreißen

Matthias Zschokkes Roman "Das lose Glück"

Von Juliane WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vier Freunde verbringen einen Abend auf dem See. Die Besitzerin der Yacht zeigt eine Pistole, sie trägt sich mit Selbstmordgedanken. Einer nimmt die Pistole in Verwahrung. Irgendwann stört eine Schwimmerin die Ruhe der Freunde. Sie wird an Bord gezogen, um sich auszuruhen. Später löst sich ein Schuss aus der Pistole und tötet den, der sie aufbewahrte. Dann gibt es eine Beerdigung.

Diese kurze Handlung, die nicht mehr als eine halbe Seite einnimmt, ist aufgefüllt mit den kuriosesten, melancholischsten aber auch tragischsten Alltagsbeobachtungen, Geschichten oder auch nur deren Anfängen. Tana, die Besitzerin der Yacht leidet darunter immer älter zu werden; Samuel, ein renommierter Anwalt und Familienvater verströmt Trägheit und Unlust. Das Geschwätz der anderen erlebt er nur im Dämmerschlaf. Portmann ist Forstingenieur und in Sachen Ökologie auf der ganzen Welt unterwegs. Linus hieß einmal Lina und wollte Sängerin werden. Später erhielt Linus eine Erbschaft, die ihn unabhängig machte. Ellen, die Schwimmerin ist eine sich im Urlaub befindende Sozialbeamtin. Sie ist auf der Suche nach Freunden und verknüpft den Schauplatz auf dem See mit einem zweiten Schauplatz: Berlin. Dort lebt sie und dort lebt auch Roman, ein depressiver Denker und Schreiber, der sich selbst zum "Hofberichterstatter" ernennt. Er ist mit Ellen befreundet. Alle verbindet die Anstrengung ein besserer Mensch zu werden, sie träumen von Liebe. Gefunden hat sie keiner von ihnen. Sie suchen nach der Zeit und diskutieren über die Vergänglichkeit. Auf der Yacht werden die banalsten Geschichten erzählt. Applaus möchte keiner dafür bekommen. Außergewöhnliches wie die Geschlechtsumwandlung von Linus ist nichts besonderes, darüber wird kein Wort verloren. Ausführliche Berichte über Fruchtfliegen hingegen ziehen sich über mehrere Seiten. Auch Ellen berichtet, so wie Tana es möchte, nach ihrer Aufnahme an Bord über das alltägliche Mittelmaß und über Roman. Dieser glänzt an unzähligen Stellen mit seiner Hofberichterstattung über Beobachtungen in Berliner Hinterhöfen oder über die Geschichte einer Frau, die sich in den Tod verwandelt hat. Auch über eine Nacht mit einem Transvestiten weiß er zu berichten.

Es geschieht nichts, rein gar nichts, außer, dass irgendwann eine Pistole losgeht. Die Pistole, die Portmann von Tana in Verwahrung genommen hatte. Portmanns Schutzengel, der sich zuvor, wie die Schutzengel der anderen auch, immer wieder in den verzwickten Gedankenfäden der zu Beschützenden verfangen hatte, ist abgestürzt. Aufregend ist Portmanns Tod nicht, eigentlich ist er genauso banal wie viele der Alltagsbeobachtungen seiner Freunde. Ein Schuss in den Oberschenkel tötete ihn, weil die Pistole, die er in seiner Hosentasche trug, zu lose saß. Lose war auch sein Umgang mit der Liebe: keine Ehefrau an seiner Seite, sondern nur eine Geliebte. Sein privates loses Glück sollte ihn zu einem losen Unglück führen. Portmann ist einer unter vielen, die einfach "nicht begabt sind, glücklich zu sein".

Sprunghafte Elemente, wie eigenwillige Absätze oder auch ein manchmal geradezu erschreckend realistischer Erzählstil, bilden den Rahmen für ein wirres Prosawerk, das sicherlich mehr für Schwimmer als für Nichtschwimmer geeignet ist. Der seit 1980 in Berlin lebende Berner Autor lässt es zudem nicht an seitenlangen Monologen fehlen, die mit einem schlichten "sagt" nach Art von Drehbüchern eingeleitet werden. Hier kann man den Filmemacher Matthias Zschokke entdecken. Lässt man sich ganz und gar auf die fast 300 Seiten lange Trägheit der Figuren ein, so wird man belohnt mit einer ganz neuen Art von Prosa, einprägsamen Bildern und Überraschungen, die vom Sprachwitz des Autors leben.

Titelbild

Matthias Zschokke: Das lose Glück.
Ammann Verlag, Zürich 1999.
300 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3250600156

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